Gründerzeit
Als Gründerzeit wird die wirtschaftliche Phase in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg bezeichnet.

In der Architektur und in der Design-Geschichte spricht man auch vom Gründerzeitstil, der viele in dieser Zeit gebaute bürgerliche Wohnhäuser und Mietskasernen prägt. Ingenieurtechnische Neuerungen wie Stahlfachwerktürme und Nachahmungen repräsentativer historischer Baustile gaben der Gründerzeit ihr Äußeres. Es entstanden Nationalliteratur und eine deutliche Trennung zwischen Hochkultur und wirtschaftlich erfolgreicher Populärkultur.
Mit den Jahrzehnten wurden die massigen Gebäude und Möbel der Gründerzeit dunkler und daher oft als einschüchternd empfunden. Nach manchen Renovierungen wird der Gründerzeitstil heute wieder positiver beurteilt.
Gründerzeit in Deutschland
In Deutschland wird als Gründerzeit die Epoche nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 bezeichnet. Der einsetzende Aufschwung durch das Geld aus den französischen Reparationen wurden genutzt, um den Vorsprung der anderen europäischen Nationen auf dem Gebiet der Industrialisierung aufzuholen.
Der Beginn der Gründerzeit ist recht klar definiert mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Das Ende dagegen ist eher fließend. Ein entscheidendes Ereignis war der Gründerkrach, bei dem die Aktienkurse wie Seifenblasen platzten und viele Kleinanleger ihre Ersparnisse verloren. Dem Krach folgte die Gründerkrise, die in wirtschaftspolitischer Hinsicht die Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus mit sich brachte.
Wirtschaft
Gründerjahre
Als „Gründerjahre“ bezeichnet man die Zeitspanne von der Gründung des deutschen Kaiserreichs bis zum Beginn der Wirtschaftskrise (Gründerkrise), also vom Januar 1871 bis zur Mitte des Jahres 1873.
Die Zeit ist geprägt durch zahlreiche Gründungen von Firmen und Aktiengesellschaften, die starke Erweiterung der Industrieproduktion und die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes, welche im Deutschen Reich maßgeblich durch den Eisenbahnpionier Bethel Henry Strousberg betrieben wurde. Dieses Wachstum wurde durch mehrere Faktoren hervorgerufen und begünstigt.
Ein Faktor war der gewonnene Deutsch-Französische Krieg, der sich in mehrerlei Hinsichten auswirkte. Zunächst flossen durch den Frieden von Frankfurt französische Reparationszahlungen in Höhe von etwa fünf Milliarden Francs (entspricht etwa 4,5 Mrd. Mark) nach Deutschland, von denen etwa 2,5 bis 3 Mrd. Francs direkt dem deutschen Kapitalmarkt (Kreditinstitute und Börsenplätze) zugute kamen. Weiterhin war während des Krieges ein großer Teil der Industrieproduktion auf den Krieg ausgerichtet gewesen, sodass nun längst Überfälliges realisiert werden konnte. Der Aufschwung glich also lediglich die Reduzierung der Industrieproduktion in den vorherigen Jahren aus.
Ein weiterer Grund für das wirtschaftliche Wachstum war, dass in Deutschland 1870 die Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften aufgehoben wurde; das heißt, die Gründung von Aktiengesellschaften unterlag weniger strengen gesetzlichen Einschränkungen (vgl. Gewerbefreiheit). Zum Beispiel konnte eine Aktiengesellschaft mit nur 50 % des Nennwertes ausgestattet werden. Die Folge war die Gründung von über 500 Aktiengesellschaften von 1871 bis 1873 allein in Preußen. Dadurch wurde immer mehr privates Kapital in die Wirtschaft investiert. Die Wirtschaft wuchs rasant; ebenso stiegen die Kurse der Aktien. Das schaffte Vertrauen in den Markt und veranlasste weitere Aktionäre zu Aktienkäufen.
Gründerkrach von 1873
Die Folge des rasanten wirtschaftlichen Auftstieges war, dass sich die Lager füllten und ein gnadenloser Konkurrenzkampf entbrannte, der wiederum die Gewinne sinken ließ. Somit sanken ab Mai 1873 allmählich auch die Aktienkurse.
Als Mitte des Jahres 1873 ein Bankhaus in Budapest Einzahlungsforderungen nachkommen musste, wurden auch schon kurze Zeit später weitere Banken in Wien zahlungsunfähig. Durch diese Ereignisse wurden immer mehr Anleger und Bankkunden misstrauisch, verkauften ihre Wertpapiere und „räumten ihre Konten“ aus Angst vor Wertverlusten. Dadurch wurde dem Kapitalmarkt viel Geld entzogen, wodurch sich die Krise auf immer mehr europäische und amerikanische Börsenplätze ausweitete, bis im Oktober 1873 auch Berlin betroffen war. Zur gleichen Zeit wurde an Deutschland die letzte Kontributionszahlung transferiert.
Für die deutsche Industrie fielen also für die Geldbeschaffung gleich zwei Möglichkeiten weg. Für eine Erhöhung der Produktivität, die im Vergleich zu England geringer ausfiel, wäre aber Geld dringend nötig gewesen. So waren aus England importierte Industriewaren um etwa 30 % günstiger als deutsche.
Offenbarungseide, Selbstmorde und Familientragödien häuften sich. Die Produktion ging zurück, es kam zu umfangreichen Entlassungen und Lohnkürzungen. Die Wirtschaft steckte fortan in einer Krise. Viele Menschen wanderten in die USA aus.
Ursachen der Gründerkrise
Im Zuge der nationalen Begeisterung investierte das Kapital bevorzugt in den inländischen Markt. Es etablierten sich insgesamt 61 neue Banken an der Börse. Die Börse wurde zu diesem Zeitpunkt zum Schauplatz zügelloser Spekulationen, wobei die Wertsteigerungen zusätzlich die Spekulationslust steigerten. Dies führte dazu, dass schon bald die Grundsätze seriöser Finanzierung außer Acht gelassen und auch Kredite langfristig vergeben wurden, die de facto durch kurzfristiges Kapital finanziert und in Folge dessen nicht mehr gedeckt waren. Allgemein herrschte oft die naive Denkweise vor, die Banken könnten immer mehr Kapital zu Verfügung stellen.
Der Börsencrash in Deutschland
Ausgelöst durch die Zahlungsunfähigkeit eines Berliner Bankhauses, leitet sich im Oktober 1873 auch in Deutschland ein weitgreifender Zusammenbruch von Börsen-, Aktien- und Spekulationsunternehmen ein. Dieser als „Gründerkrach“ bezeichnete Einbruch war hauptsächlich ein Banken- und Kreditzusammenbruch. Er zeigte nach einer Phase der überhitzten Konjunktur, nach einer Zeit des fortwährend wirtschaftlichen Aufschwungs, vor allem auch psychologische Auswirkungen, da das naive Vertrauen in einen grenzenlosen wirtschaftlichen Aufschwung gebrochen war.
Man kann bei dieser Wirtschaftskrise eigentlich nicht von einer Depression, sondern nur von einer Stagnation sprechen, da in dieser Zeit nur die in den vorhergehenden Jahren überhöhten Wachstumsraten ausgeglichen wurden.
Folgen der Gründerkrise
Die Gründerkrise hatte zur Folge, dass der Staat wieder mehr in die Wirtschaftsabläufe eingriff und sich somit vom Wirtschaftsliberalismus verabschiedete. Konkret bedeutete dies die Abkehr von der Idee des Freihandels. Es war auch gleichzeitig der Beginn des Neo-Merkantilismus und Bismarcks Schutzzollpolitik, der Staat sollte also, im Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus, wieder bedingt in die Wirtschaftssteuerung eingreifen.
So führte man Schutzzölle auf ausländische Importe ein, um den deutschen Markt zu schützen. Im Deutschen Reich wurde das Preisniveau künstlich über dem des Weltmarktniveaus gehalten. Diese Zölle wurden sowohl auf Rohstoffe und Fertigwaren als auch auf landwirtschaftliche Erzeugnisse erhoben.
Tatsächlich erhöhten sich dadurch die Preise für Industriewaren, die lang anhaltende Aufwärtsbewegung blieb jedoch aus. Die während der Gründerjahre geschaffenen Überkapazitäten existierten schließlich immer noch und konnten auch jetzt noch nicht im Ausland abgesetzt werden, da viele andere europäische Staaten ebenfalls zu protektionistischen Maßnahmen griffen.
Der verlorene Glaube an die liberale Wirtschaftspolitik drückte sich auch dadurch aus, dass die Nationalliberale Partei 1871 mit 125 Sitzen im deutschen Reichstag etwa 31 % der Plätze besetzte, 1881 aber mit 47 Sitzen nur noch einen Anteil von etwa 12 % hatte.
Die von der Krise betroffenen Wirtschaftsbereiche ergänzten die staatlichen Maßnahmen durch eigene Kartelle, und ähnliche Zusammenschlüsse wurden gegründet, um wettbewerbsbehindernde Absprachen zu treffen, die vor einem weiteren Preisverfall schützen sollten. Preise von Produkten, Produktionszahlen und Absatzgebiete wurden unter den Firmen ausgehandelt.
Es schlossen sich Interessenverbände zusammen, um Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Arbeitgeberverbände wurden gegründet; auf der anderen Seite entstanden immer mehr Gewerkschaften.
Folgen der neuen gesetzlichen Bestimmungen
Aufgrund der Einfuhrzölle stiegen die Lebenshaltungskosten in der Folgezeit an; besonders Lebensmittel und Industriewaren wurden teurer. Bevor die Importzölle auf Getreide erhoben worden waren, war es erheblich günstiger aus dem Ausland zu importieren. Durch die steigenden Zölle wurde dies zunehmend reduziert, so dass die Preise für Brot und andere Getreideprodukte um die Jahrhundertwende bei etwa 130 % des Weltmarktniveaus lagen, jedoch eine Vollbeschäftigung in der Landwirtschaft erreicht wurde.
Zwar sanken auch im deutschen Kaiserreich die Preise für Industriewaren. Allerdings fielen die Preissenkungen auf dem Weltmarkt wesentlich höher aus, sodass man relativ zum Weltmarktniveau von einer Preissteigerung sprechen kann. Nichtsdestoweniger wurde für Industriewaren 1886 im Vergleich zu 1871 etwa 80 % mehr ausgegeben. Dies hing damit zusammen, dass solche Güter immer häufiger konsumiert wurden und die Bevölkerung trotz der Auswanderungswelle gewachsen war.
Gemessen an der Wertschöpfung in Industrie und Handwerk, dem Kapitalstock und dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum entwickelte sich die Wirtschaft ab 1879/1880 also positiv.
Architektur
Noch heute gibt es in vielen deutschen Städten eine große Zahl von Wohnbauten aus der Gründerzeit, die oftmals ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel umfassen. Sie sind ab 1870 in Anbetracht der rasch wachsenden Bevölkerung und dem Zuzug der Landbevölkerung in die städtischen und industriellen Ballungszentren entstanden. Als Ende des Gründerzeitstils müssen der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und der Werteumbruch am Ende der Kaiserzeit 1918 gesehen werden.
Typisch für den Baustil der sogenannten Gründerzeitarchitektur ist die meist von privaten Wohnungsbaugesellschaften errichtete etwa vier- bis sechsgeschossige Blockrandbebauung mit ihren reich dekorierten Fassaden, deren Einzelformen den einzelnen Neostilbewegungen des 19. Jahrhunderts folgen (Neugotik, Neorenaissance, Deutsche Renaissance, Neobarock). Häufig wird die Gründerzeitarchitektur, die überwiegend dem Historismus zuzuordnen ist, fälschlicherweise als Jugendstil bezeichnet.
Im Zuge der mit dem Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges häufiger werdenden alliierten Luftangriffe auf deutsches Gebiet wurden ganze Stadtzentren in Schutt und Asche gelegt, was vielerorts zu einem nahezu vollständigen Verlust gründerzeitlicher Architektur führte. Vom Krieg (und Zerstörungen der Nachkriegszeit) weitestgehend verschonte, ungewöhnlich geschlossen erhaltene Ensembles finden sich zum Beispiel in Berlin – dort vor allem die „Arbeiterviertel“ Prenzlauer Berg, Friedrichshain und große Teile Kreuzbergs, aber auch repräsentative Straßenzüge rund um den Kurfürstendamm), Hamburg, der Bonner Südstadt, die Nordstadt und das Briller Viertel in Wuppertal, Chemnitz (Kaßberg), Görlitz, Fürth, Leipzig (Waldstraßenviertel – das größte im Zusammenhang bebaute Gründerzeitviertel Europas), Dresden, das mit der „Äußeren Neustadt“ ein großes Gründerzeitviertel aufzuweisen hat, München, wo man vor allem in den Stadtteilen Altstadt-Lehel und Neuhausen-Nymphenburg viele Gründerzeitbauten findet, Vahrenwald-List in Hannover, in Straßburg, das über eine umfangreiche geplante Neustadt aus der Kaiserzeit verfügt, und in Wien. Die Innenstadt von Halle gilt als das größte zusammenhängende Wohngebiet dieser Epoche.
Die Fassaden der gründerzeitlichen Gebäude sollten nicht nur in ihrer Größe und ihrem jeweiligen Reichtum, sondern bei Mehrfamilienhäusern auch in ihrem geschossigen Aufbau die soziale Stellung ihrer Bewohner spiegeln. So etwa wurde die erste Etage oder das Hochparterre meist „Bel Etage“ genannt und war mit ihren besonders hohen Decken und ihren reichen Stuckverzierungen dem wohlhabenderen Bürgertum vorbehalten. Nach oben wurde die soziale Stellung der Bewohner mit abnehmender Geschosshöhe meist immer geringer. Dabei wurde die oberste Etage mit ihren oft nur noch lukenartig kleinen Fenstern in der Regel von den Dienstboten und anderen Angehörigen der unteren sozialen Schichten bewohnt.
In vielen neu entstandenen Wohnvierteln wurden innerhalb der Blockrandbebauung auf früheren Gartenflächen Hinterhöfen angelegt und in Hinterhäusern oftmals zahlreiche weitere Quartiere für die Arbeiter errichtet, häufig auch in räumlicher Nähe zu den Arbeits- und Werkstätten. Die überbelegten Einraumwohnungen der Arbeiterklasse mit ihren oft miserablen und gesundheitsschädigenden unhygienischen Wohnbedingungen wurden von etlichen Reformern seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr beklagt. Sie haben unter anderem die Ideen der Gartenstadtbewegung (siehe dazu Ebenezer Howard) und so manches Reformprojekt in Deutschland beflügelt.
Eine Besonderheit der Gründerzeitarchitektur sind nach einem Gesamtkonzept angelegte repräsentative Villenkolonien wie etwa die Kolonie Marienthal in Hamburg und die bis heute gut erhaltene und als exemplarisch geltende Villenkolonie Lichterfelde-West im Südwesten Berlins (ab 1860). Die Villenkolonien waren wegen des hohen Personalbedarfs zur Führung der großen Häuser in der Praxis gemischte Wohngebiete. So war das Verhältnis der so genannten „einfachen Stände“ zu den „Herrschaften“ etwa in Lichterfelde-West in Berlin zwei zu eins. Die Villenkolonien nahmen mit ihrer aufgelockerten Bebauung, den großen Gärten und Alleen die Idee der „Gartenstadt“ vorweg.
Insbesondere unter dem Schlagwort „Luft, Licht und Sonne“ wurden in 1920er Jahren in polemisch-propagandistischer Absicht die gründerzeitichen Hinterhofwohnbedingungen, insbesondere der Berliner Armenviertel, als Gegenbild verwendet, zur Begründung der nun vielfach zeilenartigen angeordneten Baukörper in dem insgesamt aufgelockerten Siedlungsbau der Neuen Sachlichkeit (zum Beispiel die Siedlung Dammerstock von Walter Gropius und Otto Haesler oder die Hufeisensiedlung von Bruno Taut). Ein anderes Beispiel, das dieses Gegenbild allerdings etwas verhaltener widerspiegelt, ist die in den Jahren 1924–1927 entstandene Ceciliengärten-Siedlung von Heinrich Lassen in Berlin, bei der die traditionelle Gestaltung der Häuser durch Ornamente, Staffelungen und Spitzdächer eine Symbiose mit dem Gedanken nach Luft, Licht und Sonne eingeht.
Die Ablehnung der Gründerzeitarchitektur hat weit über die 1920er Jahre hinaus nach dem Zweiten Weltkrieg die Ideen der „modernen“ Architektur zum Städtebau und Wiederaufbau über viele Jahrzehnte hinweg beflügelt und diente den Vertretern des „modernen Städtebaus“ noch bis Ende der 1960er Jahre als Gegenleitbild zu der Errichtung der Trabantenstädte. In deutschen Großstädten wurden zahlreiche Gründerzeitviertel im Zuge von Totalsanierungen vollkommen abgerissen und durch freistehende Einzelblocks oder Hochhausarchitekturen ersetzt (zum Beispiel Abriss und Neubau des Hansaviertels in Berlin 1957; der nahezu völlige Abriss der gesamten Innenstadt war geplant). Von Mietshäusern und Einzelvillen wurden im Zuge der sog. Fassadenverödung die Außenstuckelemente abgeschlagen (siehe Entstuckung) und die Fassaden stattdessen glatt oder rauh verputzt beziehungsweise mit Gelbklinker verkleidet.
Ende der 1960er Jahre entwickelte sich jedoch zunehmende Kritik an derartigen „Sanierungen“, am Funktionalismus allgemein wie auch an der offensichtlichen Unwirtlichkeit des modernen Nachkriegsstädtebaues. Zu Beginn der 1970er Jahre und auf dem Höhepunkt der Stadtflucht wurde daher der weitere Abriss der Gründerzeitarchitektur gestoppt. Viele dieser Bauten wurden unter Denkmalschutz gestellt und man ging zur behutsameren Sanierung der noch verbliebenen Bausubstanz über. So wurde die Villa des Gründers von Kaiser's Kaffeegeschäft zu einem repräsentativen Ausstellungsgebäude als Städtische Galerie im Park Viersen umgewandelt. Seitdem wird die städtische Gründerzeitarchitektur in ihrer Urbanität vom wohlhabenden Bürgertum als besonderes begehrte Wohnform wiederentdeckt und hat inzwischen dazu geführt, dass die in den 1950er bis 1970er Jahren errichteten Wohnblocks und Trabantenstädte zu Quartieren der ärmeren Bevölkerungsschichten wurden. Gründerzeitviertel stehen heute in aller Regel großflächig unter Denkmalschutz und erzielen die höchsten Wohnungs- und Mietpreise.
Auch städtebaulich werden die Relationen der damals geschaffenen Stadtteile wieder als humaner und angenehmer empfunden. Die Relation von Gebäudehöhe zur Straßenbreite, die Ornamentik sowie das Vorhandensein von Mischgebieten (Wohnen und Gewerbe) und Ladenflächen tragen dazu bei.
Gründerzeit in Österreich
In Österreich beginnt die Gründerzeit etwas früher als in Deutschland um 1850 mit dem Beginn der Industrialisierung des Raums Wien, der Sudetenländer, der Obersteiermark und Vorarlbergs und der Anbindung der Kronländer durch Eisenbahnen (erste Dampflokstrecke 1837) und endet mit dem Wertewandel im Ersten Weltkrieg und dem Ende des Absolutismus der Habsburger.
Wien, die Haupt- und Residenzstadt von Kaiser Franz Joseph, wird ab 1850 – nach der gescheiterten Märzrevolution – durch die Eingemeindung der Vorstädte und den Zuzug Hunderttausender, besonders aus Böhmen und Mähren, zur viertgrößten Millionenstadt der Welt. Die Ringstraße wird an Stelle der alten Stadtmauer gebaut, Wohnbau und -spekulation blühen. Das durch die gestiegene Bedeutung von Gewerbe und Handwerk wohlhabend und – gegenüber dem eher agrarwirtschaftlich abhängigen Adel und der mittellosen Arbeiterschaft – mächtig gewordene Bürgertum setzt sich mit Prachtbauten des Historismus und später des Jugendstils Denkmäler. Im kleineren Umfang wurden auch in Graz ganze Stadtteile neu errichtet, wobei im Gegensatz zu Wien die Grazer Altstadt größtenteils erhalten blieb, da die rege Bautätigkeit vor allem außerhalb stattfand.
Einen ersten Höhepunkt der optimistischen Hochblüte des Liberalismus in der Österreich-Ungarischen „k. u. k.-Monarchie“ stellte die Zeit von 1867 bis zum Börsenkrach 1873 dar. Nach den Konjunkturtiefs um 1880 und 1890 begann um 1895 durch die revolutionären Entwicklungen des Maschinenbaus, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik eine Epoche der Hochkonjunktur und der kulturellen Blüte, die allerdings durch die steigenden nationalstaatlichen Separationsbestrebungen der vielen Völker der Habsburgermonarchie und dem Herannahen des Ersten Weltkriegs einem Gefühl der Degeneration, Dekadenz und einem diffusen Weltschmerz des Fin de siècle bzw. der Belle Epoque wich. Gerade dieses Lebensgefühl prägte in der Wissenschaft die Wiener Schule, in der Architektur die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte und im Verlauf die Wiener Moderne. Der erotische Roman Josefine Mutzenbacher und die Werke Arthur Schnitzlers oder Karl Kraus’ beschreiben das gesellschaftliche Geschehen.
Es entstanden neue soziale Probleme durch die starke Wohnungsnachfrage und die Proletarisierung der vom Land oder den Provinzen der Monarchie zugezogenen ehemaligen Knechte und Mägde, die in den entstandenen Mietskasernen zu hohen Mietpreisen, bestenfalls auf Zimmer und Küche mit Wasser und Toilette am Gang, schlechtestenfalls mit zehn Personen in einer Kleinstwohnung, in armseligen Verhältnissen lebten. Dazu kam, dass der Habsburgerstaat seine Aufrüstungsprogramme vor allem über Verbrauchersteuern finanzierte und deshalb die Inflation stieg. Selbst kleine Beamte waren nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt mit Hilfe ihres Gehaltes zu bestreiten. Oft reichte das Geld aber auch nur für eine Unterkunft als Bettgänger der sein Lager nur zu bestimmten Zeiten benutzen durfte. Teuerungsproteste hielten bis zum Kriegsausbruch 1914 an und führten im Herbst 1911 zu Massenkrawallen.
Junge Mädchen verdingten sich typischerweise als Dienstmädchen oder Wäscherin bei Klein- oder Großbürgern, Männer als Fabrikarbeiter oder Tagelöhner. Wer Glück hatte, schaffte den Aufstieg zu Bahn, Post oder ins Beamtentum des „Wasserkopfs Wien“ und konnte sich vielleicht sogar eine Sommerfrische im Wienerwald leisten.
Literatur
- Rainer Haaf: Gründerzeit. Möbel und Wohnkultur, Westheim: Rhein-Verlag 1992. ISBN 3-9802812-1-3
- Eberhard Roters: Aspekte der Gründerzeit. Ausstellungskatalog, Berlin: Akademie der Künste 1974