Der Demokratische Sozialismus ist eine politische Zielvorstellung, die Demokratie und Sozialismus als untrennbare Einheit betrachtet oder vereinen will. Sie wurde seit der russischen Oktoberrevolution 1917 formuliert, um die Sozialdemokratie der von Lenin vertretenen Auffassung von Sozialismus als einer Diktatur des Proletariats gegenüberzustellen. Sie wurde von verschiedenen Gruppen, Parteien und Staaten in Anspruch genommen. Seit 1945 wird der Begriff besonders außerhalb Deutschlands oft als Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus aufgefasst.
Deutschland
Sozialdemokratie vor 1914
Die SPD im Kaiserreich unterschied die Leitbegriffe „Demokratie“ und „Sozialismus“ inhaltlich nicht, sondern behandelte sie als Synonyme, so dass der Begriff „Demokratischer Sozialismus“ in ihren Verlautbarungen nicht auftaucht. 1875 hieß es im Gothaer Programm der zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vereinten Vorläufergruppen (SDAV und ADAV):
- [Unser Ziel ist] der freie Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gesellschaft, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.
Sozialismus sollte mit dem ausbeutenden „Lohngesetz“ des Kapitalismus zugleich politische Unterdrückung weltweit beseitigen. Der Begriff wurde als Realisierung des Dreiklangs der Menschenrechte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgefasst. Sozialismus ohne individuelle Freiheitsrechte, ökonomische ohne politische Gleichheit war für die frühen Sozialdemokraten undenkbar; vielmehr war dieser für sie die einzig denkbare Realisierung wirklicher Freiheit und Demokratie.
Im Erfurter Programm von 1891[1] behielt die nunmehr legalisierte SPD, die bis dahin durch die Sozialistengesetze in ihrer Tätigkeit behindert und verfolgt worden war, diese Zielvorstellung bei. Im theoretischen, von Karl Kautzky verfassten Teil hieß es: Aufgrund ökonomischer Entwicklungsgesetze, die wissenschaftlich feststellbar seien, würden die Arbeiter im Kapitalismus zwangsläufig zu besitzlosen Proletariern, die nur ihre Arbeitskraft zum Lebensunterhalt anzubieten hätten. Daraus wurde gefolgert:
- Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln...in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werden.
Auch hier wurden ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung als untrennbare Merkmale der kapitalistischen Klassengesellschaft begriffen, die nur gemeinsam zu überwinden seien.
Der praktische, von Eduard Bernstein verfasste Teil des Programms forderte eine Reihe politischer und sozialer Reformen, an erster Stelle das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen sowie einige Schutzrechte für Arbeiter. Diese Forderungen gingen kaum über die allgemeinen Bürgerrechte, die seit der Französischen Revolution auf der politischen Tagesordnung standen, hinaus. Eine Wegbeschreibung zu ihrer Verwirklichung und zur Beseitigung der diagnostizierten zwangsläufigen ökonomischen Unfreiheit fehlte. Damit wurde sichtbar, dass Teile der SPD damals die weltweite Demokratisierung der Produktionsverhältnisse nur noch als theoretisches Fernziel ohne konkrete Auswirkung auf die praktische Alltagspolitik auffassten und über das Verhältnis von Ziel und Weg zueinander keine programmatische Klärung bestand. Dies führte ab 1896 zur „Revisionismus-Debatte“ innerhalb der SPD, in deren Verlauf die Parteiführung unter August Bebel die Sozialrevolution als Parteiziel theoretisch beibehielt, aber die Reformisten in der Partei hielt.
USPD
Am August 1914 ging die SPD unter Friedrich Ebert mit ihrer Burgfriedenspolitik ein Kriegsbündnis mit der kaiserlichen Monarchie ein. Daran zerbrach die Sozialistische Internationale, und es kam zu Spaltungstendenzen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Dabei wurden die bis dahin weitgehend synonym verwendeten Begriffe Demokratie und Sozialismus nun sowohl unterschieden als auch beide verschieden definiert.
Während die Mehrheits-SPD auf eine Akzeptanz auch bei bürgerlichen Schichten und eine allmähliche legale Durchsetzung parlamentarischer Mitbestimmung setzte und diese für soziale Reformen nach dem Krieg nutzen wollte, trat die im April 1917 gegründete Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands für die sofortige Beendung des Krieges ein, notfalls durch eine soziale Revolution. Deren Mitglieder begrüßten die russische Oktoberrevolution desselben Jahres anfangs meist als Impuls für eine umfassende Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in Deutschland, teilweise im Sinne einer Räterepublik.
Auch die USPD hatte jedoch kein einheitliches ökonomisches Programm; sie vereinte Reformisten wie Bernstein und marxistische Theoretiker wie Kautzky mit revolutionären Sozialisten der Spartakusgruppe, die weiterhin an den Vorkriegszielen der SPD und der Sozialistischen Internationale festhielten. Diese radikale Linke verstand Sozialismus nicht als Alternative zur Demokratie, sondern im Gegenteil als notwendige Bedingung für jede wirkliche Demokratie. Sie folgte dabei dem Kommunistischen Manifest von 1848, in dem Karl Marx und Friedrich Engels die „freie Entfaltung des Einzelnen zur Bedingung für die freie Entfaltung Aller“ erhoben hatten.
Leninkritik Rosa Luxemburgs
Die Mitgründerin und Wortführerin des Spartakusbundes, Rosa Luxemburg, vollzog eine weitere Abgrenzung eines demokratischen von einem undemokratischen Sozialismus in ihrer 1918 im Gefängnis verfassten Schrift Die russische Revolution. Darin bekräftigte sie die Notwendigkeit diktatorischer Eingriffe des Proletariats - aber nicht einer Parteielite - in die Wirtschaftsordnung zur Durchführung der Revolution unter den gegebenen Umständen Russlands und formulierte zugleich eine scharfe Kritik am Partei- und Revolutionskonzept der Bolschewiki:
- Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - und mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden...Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft … Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.[2]
Breiteste demokratische Partizipation und Bewusstseinsbildung der arbeitenden Bevölkerung war für die Autorin die einzige Garantie für einen erfolgreichen Aufbau des Sozialismus, sowohl in Russland wie überhaupt in Europa und der Welt. Entsprechend hieß es im von ihr maßgeblich verfassten Parteiprogramm der am 1. Januar 1919 gegründeten KPD: Kommunisten würden niemals gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerungsmehrheit an die Macht drängen, sondern den Sozialismus nur als Ergebnis dieses erklärten und dauerhaft gelebten Volkswillens erreichen können.
Rosa Luxemburgs Schrift blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht und unbekannt. Sie wurde erst 1922 von Paul Levi unter dem Titel Zur russischen Revolution veröffentlicht. Anlass dazu war für ihn zum einen der Beschluss der KPD zur „Offensivstrategie“ 1920, den die von Sinowjew geführte Kommunistische Internationale unterstützte, zum anderen der Versuch, die KPD im Kontext des Märzaufstands 1921 zur Abkehr von ihrer Vorstellung, durch Putsch zur Macht gelangen zu können, zu bewegen und ihre Positionierung gegen die SPD-Linke in Frage zu stellen. Daraufhin schloss die KPD Levi aus. Seine Veröffentlichung trug dazu bei, dass Stalin und die KPdSU Rosa Luxemburgs Positionen später insgesamt als Luxemburgismus abwehrten und verfemten. Von Gegnern des Stalinismus wurden ihre kritischen Passagen dagegen später oft als Inbegriff des Demokratischen Sozialismus zitiert.
Abgrenzung vom Stalinismus 1928-1945
Die SPD als größte Regierungspartei der Weimarer Zeit sah sich als Garantin eines demokratischen Sozialismus auf der Basis der Weimarer Verfassung, während die KPD sich ihrerseits als einzige Partei der Arbeiterklasse und Garantin des internationalen Sozialismus sah. Mit ihrem Beitritt zur 1919 in Moskau gegründeten, später gänzlich von der KPdSU dominierten Kommunistischen (Dritten) Internationale strebte sie die proletarische „Weltrevolution“ an. 1928 übernahm sie die Sozialfaschismus-These Stalins, wonach die Sozialdemokratie als Steigbügelhalterin des Faschismus zu gelten habe und vorrangig zu bekämpfen sei.
Spätestens jetzt waren die Gräben zwischen beiden Linksparteien wechselseitig unüberbrückbar. Sie blieben es auch in der Aufstiegsphase der NSDAP. Nur einige Linksabspaltungen wie die kleine SAP setzten sich vor 1933 für eine Annäherung zwischen Sozialisten und Kommunisten im gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus ein. Doch erst nach dessen Machtergreifung wandte sich die inzwischen durch die Verfolgung seitens des NS-Regimes stark dezimierte KPD 1934 von der Sozialfaschismusthese ab, um eine wirksame Einheitsfront aller Antifaschisten im Untergrund bzw. Exil aufzubauen.
Doch nach den „Säuberungen“ Stalins 1936ff, denen auch Tausende geflohener deutscher Exilskommunisten zum Opfer fielen, und dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 waren die meisten ebenfalls verfolgten Sozialisten und Sozialdemokraten vollends desillusioniert. Im März 1941 bildete sich unter Führung der Sopade (Exils-SPD) in London die Union deutscher sozialistischer Organisationen, bestehend aus Exils-SPD, SAP, ISK und der Gruppe „Neu Beginnen“. Sie betonte einen demokratischen Sozialismus „ohne bürokratische Diktatur“, um sich vom Stalinismus abzugrenzen. Eine Einheitsfront mit Exilskommunisten wurde dort zwar diskutiert, aber nicht verwirklicht, da auch die Exils-KPD weiterhin loyal zu Stalin blieb, die Sozialdemokraten oft als „Agentin des Hitlerismus im Ausland“ denunzierte und die Vertreibungen und Eroberungen der Roten Armee kritiklos rechtfertigte. So blieb der Begriff des Demokratischen Sozialismus in dieser Zeit vornehmlich Sammelbegriff für alle vom NS-Regime verfolgten Sozialisten bei gleichzeitiger Abgrenzung gegen alle stalinistisch geprägten Kommunisten und ihre Ablegerparteien in Europa.[3]
SPD nach 1945
Die neu formierte SPD unter Kurt Schumacher übernahm den Begriff nach 1945 als gleichbedeutend mit „Sozialdemokratie“. Er stand für die Bewahrung ihrer besten Traditionen in betonter Abgrenzung zum Sowjetkommunismus und zum Programm der SED.
Im Godesberger Programm der SPD von 1959 [4] war der Demokratische Sozialismus leitender Zentralbegriff. Die Einleitung stellte fundamentale Widersprüche in der Gegenwart heraus, etwa zwischen Energiegewinnung aus Atomkraft und der Gefahr eines Dritten Weltkriegs, die damals zur Kampf dem Atomtod-Bewegung geführt hatte, und zwischen hochentwickelten Produktivkräften, durch die „ungeheure Reichtümer“ angesammelt worden seien, aber „ohne allen einen gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu verschaffen“. Voraussetzung dafür sei, dass der Mensch „die täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt“ und „das Wettrüsten verhindert“. Dies könne „zum erstenmal in seiner Geschichte jedem die Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer gesicherten Demokratie ermöglichen [...] zu einem Leben in kultureller Vielfalt, jenseits von Not und Furcht.“
Eben dies zu gewährleisten, den Weltfrieden zu sichern und die genannten Widersprüche aufzulösen, sei Aufgabe und Ziel der SPD:
- Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet der Mensch den Weg in seine Freiheit. Diese neue und bessere Ordnung erstrebt der demokratische Sozialismus.
Dieser wurde also einerseits als internationale Friedensordnung, andererseits als zukünftige demokratische und pluralistische Weltgesellschaft ohne Elend, als Teilhabe aller Menschen an Wohlstand, Selbstbestimmung, Bildung und sozialen Absicherungen verstanden. Dabei versuchte das Programm den Begriff als bessere Alternative sowohl zum Marxismus und undemokratischen Realsozialismus des Ostblocks als auch zu unsozialen Tendenzen des westlichen Kapitalismus darzustellen, um so den Anspruch der SPD als regierungsfähige linke Volkspartei zu untermauern. Zugleich wurde die Parteilinke mit Hilfe dieses Leitbilds eingebunden. Von einer Demokratisierung der Produktionsverhältnisse und Produktionsmittel, die in den frühen SPD-Programmen oft an erster Stelle standen, schwieg das Dokument.
Willy Brandt verstand den Demokratischen Sozialismus als internationales Parteiziel aller Sozialdemokraten und versuchte als langjähriger Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, Friedens- und Entspannungspolitik mit Bemühungen um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu vereinen.
Neue Linke
Die westdeutsche Außerparlamentarische Opposition reagierte auf die Große Koalition in den 1960er Jahren auch mit einer neuen Hinwendung zum Marxismus, den die SPD in Godesberg preisgegeben hatte. Die meisten theoretischen Ansätze des Neomarxismus in der Neuen Linken verstanden Demokratischen Sozialismus als notwendige Alternative zum „staatstragenden“ Reformismus der SPD und gleichzeitig zum Realsozialismus und Staatskommunismus der östlichen Systeme.
Dabei fehlte der vom SDS geführten Studentenbewegung weitgehend die gesellschaftliche Verankerung und Zustimmung bei Arbeitern und Gewerkschaften. Ab etwa 1969 bildeten sich zudem dogmatisch verfeindete Splitterparteien - sogenannte K-Gruppen -, die sich jeweils an Lenin, Stalin, Trotzki oder Mao orientierten.
Linksabspaltung von der SPD
Hatte die SPD unter Willy Brandt noch von der neuen sozialen Bewegung profitieren und diese bei der Bundestagswahl 1969 teilweise für sich gewinnen und einbinden können, so verlor sie als Regierungspartei unter Helmut Schmidt bei der durch die Friedensbewegung der 1980er Jahre geforderten Abkehr vom NATO-Doppelbeschluss ihren innerparteilichen Zusammenhalt und große Teile der jüngeren Wählergeneration. In diesem Kontext traten einige Bundestagsabgeordnete 1982 aus der SPD aus: darunter Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik. Sie gründeten die Partei Demokratische Sozialisten, die als erste deutsche Partei ausdrücklich diesen Begriff im Parteinamen führte. Dieser Versuch einer Parteigründung links von der SPD mit ähnlicher Programmatik war von kurzer Dauer und gewann keine bedeutenden Wähleranteile.
Berliner Programm der SPD
Das 1989 maßgeblich von Oskar Lafontaine verfasste, nach wie vor gültige Berliner Programm der SPD bekennt sich weiterhin zum Demokratischen Sozialismus. Dieser wird hier als eine unter mehreren Traditionen genannt:
- Die Sozialdemokratie führt die Tradition der demokratischen Volksbewegungen des neunzehnten Jahrhunderts fort und will daher beides: Demokratie und Sozialismus, Selbstbestimmung der Menschen in Politik und Arbeitswelt.
Das setzte eine Dualität von politischer und ökonomischer Selbstbestimmung voraus. Das Godesberger Programm habe aus den historischen Erfahrungen neue und richtige Folgerungen abgeleitet:
- Es verstand Demokratischen Sozialismus als Aufgabe, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität durch Demokratisierung der Gesellschaft, durch soziale und wirtschaftliche Reform zu verwirklichen.
Das „Scheitern des Kommunismus“ - der Zusammenbruch der Regimes des Ostblocks 1989-1991 - habe die Sozialdemokraten darin bestätigt, dass soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit untrennbar seien:
- Das Ziel einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaftsordnung ist für alle Zukunft nicht von der Garantie der Menschenrechte als Voraussetzung politischer und sozialer Gleichheit zu trennen. Die Entscheidung der demokratischen Sozialisten, auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten eine bessere Ordnung der Gesellschaft zu verwirklichen, hat sich als der richtige Weg auch für die Zukunft erwiesen.
Das Ziel wurde also mit dem Weg dorthin gleichgesetzt, die Menschenrechte wurden nicht als erst international noch zu garantierende Aufgabe, sondern als bestehende Garantie für die Richtigkeit des bisherigen Weges in Anspruch genommen.
Im Folgenden nennt das Programm „geistige Wurzeln“ des Demokratischen Sozialismus in Europa: Christentum, Humanismus, Aufklärung, Marxsche Geschichts- und Gesellschaftslehre, Erfahrungen der Arbeiterbewegung und die Ideen der Frauenbefreiung. Diese Ideen aus dem 19. Jahrhundert seien erst nach über 100 Jahren wirksam geworden. Ausgehend von dieser geschichtlichen Erfahrung soll der Demokratische Sozialismus weiterhin das Fundament der SPD-Politik für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bilden. Diese Grundsätze versteht die SPD zugleich als verpflichtende Grundwerte.
Von der SED zur PDS
Reformanläufe innerhalb der SED wurden seit dem 17. Juni 1953 unterdrückt und gewannen wegen fehlender Meinungsfreiheit in der DDR keine öffentliche Resonanz. Einzelne Dissidenten wie Robert Havemann, später Rudolf Bahro und Wolf Biermann, die sich als Demokratische Sozialisten oder Demokratische Kommunisten verstanden, wurden ausgegrenzt und blieben isoliert.
Im Zuge der Wende in der DDR von 1989/90 verlor die seit 1949 alleinherrschende SED ihre Macht. Daraufhin tauschte sie ihr Führungspersonal aus, verabschiedete den Marxismus-Leninismus aus ihrem Programm und benannte sich um in „Partei des Demokratischen Sozialismus“. Diese beanspruchte nun jene Traditionen aus der Geschichte der Sozialdemokratie für sich, die ursprünglich gegen die Kriegsbejahung der Mehrheits-SPD, dann gegen den „demokratischen Zentralismus“ Lenins und Stalins gerichtet waren. Der neue Parteiname sollte die Abkehr von diktatorischen und totalitären Traditionen des Leninismus und Stalinismus verdeutlichen. In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch, dass die überwiegend aus alten SED-Mitgliedern bestehende Partei noch erheblichen Klärungsbedarf in Bezug auf die Einschätzung der DDR und ihr Verhältnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik hatte.
Ihr erstes Programm betonte eine Gesellschaft, deren Entwicklung Frieden, Gewaltfreiheit und soziale Gerechtigkeit hervorbringen, die Ausbeutung des Menschen abschaffen und Raubbau an der Natur überwinden soll. Im Kontrast zur SPD wird der Demokratische Sozialismus zur gesamtpolitischen Zielvorstellung erhoben und als Gesellschaftsordnung aufgefasst, die den Kapitalismus nicht nur zähmen, sondern ablösen soll. Die Dominanz des freien Marktes und des Profitstrebens in allen Lebensbereichen und allen zwischenmenschlichen Beziehungen soll aufgehoben werden. Der Demokratische Sozialismus galt in Teilen der Linkspartei daher nicht notwendig als Gegensatz zum klassischen Marxismus.
Neuere Tendenzen in der SPD
Seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders und dem Parteivorsitz Franz Münteferings verwendet die SPD-Führung den Begriff kaum noch und hebt ihn weder als programmatisches noch als praktisches Ziel hervor. Dies hängt mit der realpolitischen Abkehr vom Berliner Programm seit dem Schröder-Blair-Papier (1999) und den Hartz IV-Gesetzen, aber auch mit der Abgrenzung von der PDS zusammen.
Im Bremer Entwurf 2007[5] für ein künftiges SPD-Programm erscheint der Sozialismusbegriff zweimal. Unter der Überschrift „Woher wir kommen“ heißt es:
- In der SPD haben sich Frauen und Männer unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen, Glaubenshaltungen und Herkunft zusammengefunden. So wurde die SPD die linke Volkspartei, als die sie sich seit dem Godesberger Programm von 1959 versteht. Sie hat Impulse und Ideen verschiedener geistiger Strömungen und politischer Bewegungen aufgenommen: des Christentums und des Humanismus, der Aufklärung, des Sozialismus und der Gewerkschaften, der Frauenbewegung und der Neuen Sozialen Bewegungen.
An dieser Stelle hatte das Berliner Programm noch den Marxismus erwähnt, der hier fehlt. Unter „Unsere Grundwerte“ (das Godesberger Programm hatte „Grundwerte des Sozialismus“ überschrieben) formuliert der Entwurf:
- Die Sozialdemokratie will die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, garantiert durch die Grundrechte und orientiert an der Idee der solidarischen Bürgerschaft. Wir können die Verhältnisse durch gemeinschaftliches und solidarisches Handeln verbessern. Wir sind uns einig in dem Ziel, für alle Menschen ein Leben in Freiheit, ohne Ausbeutung, frei von Gewalt und Unterdrückung zu ermöglichen. Im Bewusstsein, dass das Streben nach einer unseren Grundwerten entsprechenden Gesellschaft eine dauernde Aufgabe ist, bekennen wir uns zu der unsere Geschichte prägenden Idee des demokratischen Sozialismus. Er ist kein Dogma und beschreibt keinen Endzustand, sondern die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, für deren Verwirklichung wir auch weiterhin eintreten. Die Arbeit für dieses Ziel und das Prinzip unseres Handelns ist die Soziale Demokratie. Denn nichts kommt von selbst und jede Zeit verlangt ihre eigenen Antworten.
Demokratischer Sozialismus wird hier als aus der Parteigeschichte überkommene, die Alltagspolitik ständig begleitende Idee und Vision beschrieben. Zugleich wird jedoch Soziale Demokratie als handlungsleitendes Prinzip definiert, wobei beide Begriffe zunächst scheinbar zusammenfallen. Die mit ihnen gemeinte und angestrebte Gesellschaftsordnung wird nicht genauer erläutert; wie sie unter den heutigen Bedingungen erreicht werden soll, bleibt ungesagt.
Die Festschreibung des Zieles eine demokratisch-sozialistische Gesellschaftsordnung herbeizuführen wird als „Dogma“ abgelehnt, da jede Gegenwart eigene Antworten verlange. Das Godesberger Programm dagegen hatte demokratischen Sozialismus genau als eigene Antwort der SPD auf die Gegenwartsprobleme und als Lösungsmöglichkeit für selbige dargestellt.
Im neuen Programm, dem der SPD-Parteivorstand am 23. September 2007 zustimmte, erscheint der Begriff als Überschrift für einen eigenen Abschnitt, in dem es heißt:[6]
- Unsere Geschichte ist geprägt von der Idee des demokratischen Sozialismus, einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der unsere Grundwerte verwirklicht sind. Sie verlangt eine Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der die bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte für alle Menschen garantiert sind, alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen können.
- Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hat die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt. Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die Soziale Demokratie.
Andere Länder
Reformkommunismus in Osteuropa
KPC-Führer Alexander Dubcek versuchte im Prager Frühling 1968, das von der Sowjetunion installierte System der Planwirtschaft in der Tschechoslowakei mit marktwirtschaftlichen Freiräumen zu mischen. Tendenzen zu einer Demokratisierung und Zulassung autonomer Gewerkschaften usw. wurden als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bezeichnet. Hier wurzelt auch die Gleichsetzung von Demokratischem Sozialismus mit einem sogenannten Dritten Weg zwischen Staatskommunismus und Kapitalismus.
Eurokommunismus in Westeuropa
In Europa verwenden auch die sogenannten Eurokommunisten diesen Begriff für ihre Ziele. Dabei ist die Unterscheidung von sozialdemokratischen Zielen besonders seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 nicht mehr klar. Dies zeigt auch die Umbenennung vieler „postkommunistischer“ Parteien, die sich nun eher „sozialistisch/sozialdemokratisch“ oder „links“ nennen.
Lateinamerika
Von dem Versuch, einen Demokratischen Sozialismus aufzubauen, sprach man auch in Lateinamerika nach dem Wahlsieg Salvador Allendes in Chile 1973. Derzeit verfolgt Hugo Chavez in Venezuela mit dem von ihm so genannten Bolivarismus eine ähnliche Politik. Dabei stützt er sich auch auf die Schriften des deutschen Sozialwissenschaftlers Heinz Dieterich. Dieser stellte eine Theorie des Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf, die die marxistische Werttheorie mit einem Konzept von Basisdemokratie verbindet. Auch weitere lateinamerkanische Staaten, zum Beispiel Bolivien unter Präsident Evo Morales, entwickeln sich in diese Richtung.
USA
Als historisches Beispiel für eine nicht revolutionär, sondern durch demokratische Wahlen im Rahmen des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems verwirklichte soziale Gerechtigkeit gilt der New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er sollte mit Hilfe der Theorien von John Maynard Keynes nach der Weltwirtschaftskrise in den USA die Chancen der sozial benachteiligten Schichten auf Arbeit und Grundeinkommen verbessern, aber keine sozialistische Gesellschaftsordnung herstellen.
Einzelnachweise
Literatur
allgemein
- Helmut Dahm, Wilhelm Dörge: Demokratischer Sozialismus. Das tschechoslowakische Modell. Leske Verlag, Opladen 1971.
- Thomas Meyer (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus. Geistige Grundlagen und Wege in die Zukunft. Olzog Verlag, München 1980, ISBN 3-7892-9854-9
- Dieter Dowe (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Referate und Diskussionen einer internationalen Konferenz des Gesprächskreises Geschichte der Arbeiterbewegung, Universität Bochum. Historisches Forschungszentrum, Bonn 2001, ISBN 3-86077-984-2
Verhältnis zur Sozialdemokratie
- Thomas Meyer: Demokratischer Sozialismus, Soziale Demokratie. Eine Einführung. Dietz-Verlag, Bonn 1991, ISBN 3-87831-357-8
- Christian Fenner: Demokratischer Sozialismus und Sozialdemokratie. Realität und Rhetorik der Sozialdiskussion in Deutschland. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1982, ISBN 3-593-32190-4
- Horst Heimann (Hrsg.): Sozialdemokratische Traditionen und Demokratischer Sozialismus 2000. Bund-Verlag, Köln 1993, ISBN 3-7663-2454-3
- Gesine Schwan (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus für Industriegesellschaften. Europäische Verlagsanstalt, Köln 1979, ISBN 3-434-00405-X
- Richard Löwenthal (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus in den achtziger Jahren. Willy Brandt zum 65. Geburtstag, 18. Dezember 1978. Europäische Verlagsanstalt, Köln 1979, ISBN 3-434-00380-0
Neue Linke
- Vladimir Klokocka, Rudi Dutschke: Demokratischer Sozialismus. Ein authentisches Modell. Konkret-Verlag, Hamburg 1968
Verhältnis zum Christentum
- Adolf Arndt, Gustav Gundlach: Christentum und demokratischer Sozialismus. Zink-Verlag, München 1958
- Herbert Wehner, Rüdiger Reitz (Hrsg.): Christentum und Demokratischer Sozialismus. Beiträge zu einer unbequemen Partnerschaft. Dreisam-Verlag, Köln 1991, ISBN 3-89125-220-X
- Franz Klüber: Der Umbruch des Denkens in der katholischen Soziallehre. Pahl-Rugenstein, Köln 1982, ISBN 3-7609-0728-8
- Theodor Strohm: Kirche und demokratischer Sozialismus. Christian Kaiser Verlag, München 1968 (zugl. Dissertation 1968)
- Herwig Büchele u.a.: Kirche und demokratischer Sozialismus. Europa-Verlag, Wien 1978, ISBN 3-203-50659-9