Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996/Pro und Kontra

Argumente für und gegen die Reform der deutschen Rechtschreibung aus dem Jahr 1996
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Dieser Artikel ist seiner Länge wegen aus dem Artikel Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 ausgelagert; er resümiert die Argumente, die in der öffentlichen Debatte für und gegen die Rechtschreibreform angeführt wurden.

Den Regeln der Wikipedia entsprechend, ist dieser Artikel nicht als Diskussionsforum gedacht. Es sollen vielmehr stichhaltige Argumente einer über viele Jahre geführten öffentlichen Diskussion in möglichst kompakter und nüchterner Weise übersichtlich dargestellt werden. Es sollen nur sprachwissenschaftlich vertretbare Argumente referiert werden.

Zum Inhalt der Reform, also den einzelnen Neuregelungen der deutschen Rechtschreibung, siehe Neue deutsche Rechtschreibung. Zum Zustandekommen der Reform, zur Chronologie der öffentlichen Auseinandersetzung, zum Stand der Umsetzung und zu Plänen einer Reform der Reform, siehe Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996.

Zu Ziel und Zweck der Reform

Vereinfachung des Schreibenlernens

Erklärtes Ziel der Rechtschreibreform war, das Schreiben und das Schreibenlernen zu erleichtern. Einige Regeln der alten Rechtschreibung seien so kompliziert gewesen, dass sie selbst von gut ausgebildeten Schreibern nicht sicher beherrscht würden.

Dagegen wird eingewandt, dass die allermeisten Bürger erheblich mehr lesen als schreiben und Texte im Übrigen sehr viel häufiger gelesen als geschrieben werden. Bequeme Lesbarkeit sei also wesentlich wichtiger als erleichterte Schreibbarkeit.

Aufbrechen des Dudenmonopols

Sprachwissenschaftler, auch in der Dudenredaktion selbst, waren unglücklich über die 1955 erfolgte Beauftragung der Dudenredaktion mit der Regelung von Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung (siehe Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996).

Der derzeitige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, Karl Blüml, zugleich Mitarbeiter des "Österreichischen Wörterbuchs", äußerte 1998: "Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlags in die staatliche Kompetenz zurückzuholen und das Erlernen der Schreibung zu erleichtern" [Der Standard, Wien, 31.01./01.02.1998, S. 13].

Vonseiten der Kritiker der Rechtschreibreform wurde diese Behauptung jedoch als Scheinargument gewertet: Bertelsmann, einige deutsche Schulbuchverlage und der Dudenverlag selbst hätten ein enormes wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform gehabt. Einer der Rechtschreibreformer war zum Beispiel der Leiter der Dudenredaktion, Professor Günther Drosdowski. Befürworter halten dieses Argument jedoch für unhaltbar, da der Dudenverlag langfristig sicher ein Interesse am Fortbestand des eigenen Monopols hatte.

Zum Zustandekommen der Reform

Kritiker werfen der Kultusministerkonferenz vor, dass die Zusammensetzung der Kommission der Sache nicht dienlich gewesen sei, indem ihr zahlreiche Fachleute angehörten, die in ihrem Fach für isolierte und ungewöhnliche Meinungen bekannt sind.

Günther Drosdowski urteilte über die Rechtschreibkommission: "ein Rüpelstück schon allein die Besetzung". Drosdowski jedoch ist für den Duden verantwortlich, dessen Monopol durch die Reform durchbrochen wurde.

Anfang 2003 wurde in der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass einige Mitglieder der Kommission ein wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform hatten.

Zudem habe sich die Politik zu eilig dazu hinreißen lassen, weil der Bertelsmann-Verlag bereits dadurch Tatsachen geschaffen hatte, dass er bereits vor der Unterzeichnung des Wiener Abkommens die Auflage fertig gedruckt hatte. Außerdem habe die Politik die Zusage gebrochen, dass die Reform zurückgenommen werde, sobald in einem Bundesland die Rechtschreibreform per Volksentscheid gekippt würde.

Argumente gegen die Rechtschreibreform von 1996

Deskription contra Präskription: Die Reformkritiker wenden sich gegen die Sprachnormung bzw. Präskription, d.h. gegen die willkürlichen und undemokratischen Eingriffe der Reformer in die Rechtschreibung und damit in die natürliche Sprachentwicklung. Sie fordern die Beibehaltung der bisherigen Methode der Deskription, d.h. eine differenzierte Beschreibung des Sprach- bzw. Schreibgebrauchs (Usus). Andererseits zeichnet sich die Reform durch Freigabe vieler Schreibungen aus, indem sie bisherige Muss-Vorschriften in Kann-Vorschriften verwandelt hat, also damit "deskriptiver" ist. Reformbefürworter argumentieren oft dagegen, dass es eine solche natürliche Sprachentwicklung durch die staatliche Festlegung kaum noch gab.

Kulturelle Kontinuität: jede Rechtschreibreform schafft - zusätzlich zum Zahn der Zeit und nicht derselben Weise - Distanz zwischen uns und unserem kulturellen Erbe: alte Bücher werden der mit der Rechtschreibreform aufgewachsenen Generation noch älter erscheinen, als sie es aus stilistischen und inhaltlichen Gründen tun, weil auch die Schreibweise antiquiert erscheinen wird. Neuauflagen in neuer Rechtschreibung lösen dieses Problem, schaffen dabei aber ein neues, größeres, wenn Ausdrucksnuancen verändert werden. Reformbefürworter entgegnen, dass schon heute viele Klassiker nicht mehr im Original gelesen werden, da diese nach Einführung der Regeln 1902 schon einmal angepasst wurden. Die damaligen Änderungen waren weitaus einschneidender (thun - tun, seyn - sein) und haben trotzdem klassische Werke nicht entstellt.

Biographische Kontinuität: eine Rechtschreibreform bedeutet einen Eingriff in die Beziehung eines Lesers zu seiner Sprache. Der Schriftsteller Reiner Kunze spricht von der Aura der Wörter:

Das Wort besitzt eine Aura, die aus seinem Schriftbild, seinem Klang und den Assoziationen besteht, die es in uns hervorruft, und je wichtiger und gebräuchlicher ein Wort ist, desto intensiver und prägender ist diese Aura. Wer sie zerstört, zerstört etwas in uns, er tastet den Fundus unseres Unbewußten an. Wird man also ständig mit Wörtern konfrontiert, deren Aura zerstört ist, weil sie zerschnitten sind (»weit gehend« statt »weitgehend«), weil sie so, wie sie jetzt geschrieben werden, anders klingen (»Anders Denkende« statt »Andersdenkende«) oder weil man ihnen eine Packung von drei »s« verpaßt und ihnen dann eine Spreizstange eingezogen hat (»Fluss-Senke«), dann ist die Wahrnehmung dieser Zerstörung jedesmal ein Mikrotrauma, eine winzige psychische Läsion, was auf die Dauer entweder zu Sprachdesensibilisierung, Abstumpfung und Resignation oder zu zunehmend unfreundlicheren Gefühlen denen gegenüber führt, die das alles ohne Not verursacht haben.

In ähnlichem Sinne äußerten sich schon Wittgenstein und Grillparzer zu früheren Rechtschreibreformen.

Ästhetische Argumente: Eine alte Schreibweise sei schlicht und einfach schöner gewesen als eine neue. Dieses Argument wurde 1901 gegen den Wegfall des h in Wörtern, wie z. B. Athem, Heimath, thöricht, angeführt; 1996 richtete es sich vor allem gegen die ss-ß-Neuregelung, die Konsonantenverdreifachung vor Vokalen (z. B. in Schifffahrt), die nun häufiger gegebene Möglichkeit, ph durch f zu ersetzen und gegen einzelne Änderungen von e in ä (z. B. Stängel und Bändel).

Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen: Behindertensysteme, die Letterntexte in so genannter Blindenschrift oder akustische Ausgaben umwandeln, arbeiten nach festen Regeln und Wörterlisten. Die Rechtschreibreform erfordert eine Anpassung dieser Systeme. Von einer Ausgrenzung kann trotz allem keine Rede sein, da alle Systeme und Menschen sich umstellen müssen.

Interkulturelle Diskontinuität: Reformkritiker argumentieren, das Ansehen des Deutschen als Fremdsprache habe durch die kontrovers geführte Diskussion um die Rechtschreibreform und die als undemokratisch bewertete Einführung des neuen Regelwerks im Ausland stark gelitten.
Viele ausländische Universitäten, vor allem im osteuropäischen und asiatischen Raum, können sich ein Umstellen des Lehrmaterial-/Buchbestandes auf die neue Rechtschreibung finanziell nicht leisten und sind daher gezwungen, mit Lehrwerken in der hergebrachten Rechtschreibung zu arbeiten. Umgekehrt sehen sich die ausländischen Studierenden mit dem neuen Regelwerk konfrontiert, so werden Zugangstests in der neuen Rechtschreibung abgehalten (Test Deutsch als Fremdsprache, TestDaF). Die Schaffung einer Vielzahl von Kann-Regeln, die sowohl die hergebrachte als auch eine neue Schreibung erlauben, erhöht den Lernaufwand für Nicht-Muttersprachler.
Das Interesse, Deutsch als Fremdsprache zu wählen, hat darunter jedoch nachweislich nicht gelitten. Im europäischen Ausland gab es kaum Probleme bei der Einführung der neuen Rechtschreibung in den Sprachenunterricht. Dem Argument, die Rechtschreibreform sei nicht demokratisch legitimiert, halten Reform-Befürworter entgegen, im Jahre 1901 sei die so genannte alte Rechtschreibung per Erlass verordnet worden und somit nicht demokratischer eingeführt worden als die neue.

Zur Grundsatzentscheidung gegen eine durchgehend etymologisch begründete Rechtschreibung

Der Richtungsstreit zwischen etymologisch begründeter und phonetisch ableitbarer Schreibung durchzieht die gesamte Geschichte der deutschen Rechtschreibung.

Besonderes Unverständnis bei vielen Reformgegnern rief die von Professor Augst propagierte Etymologieschreibung hervor, wonach nicht die tatsächliche Etymologie entscheidend ist, sondern die Zugehörigkeit zu einer Wortfamilie. Neu sind z. B. die Schreibweisen Stängel (da dieses Substantiv sprachgeschichtlich zur Wortfamilie von Stange gehört), schnäuzen (da dieses Adjektiv über das Altnordische mit Schnauze verwandt ist), aber auch Quäntchen - obwohl es nicht von Quantum, sondern von der alten deutschen Maßeinheit Quent kommt, wird Quäntchen nun mit ä geschrieben, da es mit Quantum in Verbindung gebracht werden kann.

Zur Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen

Schon immer gab es Rechtschreibfragen, die auf Grundlage der amtlichen Regeln nicht eindeutig beantwortet werden konnten; im Zweifel stand dem Schreiber frei, sich nach seinem Gutdünken für eine der möglichen Schreibungen zu entscheiden. In der reformierten Schreibung gibt es nun ganze Klassen von Fällen, in denen Alternativschreibungen zur Auswahl stehen (insbesondere bei der Schreibung von Fremdwörtern, bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, bei der Schreibung mit Bindestrich, bei der Interpunktion und bei der Trennung am Wortende). Mit jeder Revision der reformierten Schreibung wächst die Zahl zulässiger Alternativen weiter an.

Manche Kritiker sehen darin einen Verlust an Einheitlichkeit der geschriebenen Sprache. Andererseits wird unter allen Einzelregelungen der Rechtschreibreform am heftigsten die Vereinheitlichung der Getrennt- und Zusammenschreibung beanstandet, die nach Meinung der Kritiker einen Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten bedeutet.

Allerdings geben Alternativen Schreibern auch demokratische Mittel in die Hand, innerhalb eines Übergangszeitraums über die sinnvollste Schreibweise zu entscheiden, indem sie sich mit der Zeit einbürgert. Der Schreiber erhält durch die Alternativen also die Chance, weniger gute Schreibweisen durch bessere zu ersetzen. Ob er sie annimmt, ist ihm selbst überlassen.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass einer der profiliertesten Kritiker der Rechtschreibreform, Prof. Theodor Ickler, darauf hinweist, dass die alte Rechtschreibung wesentlich mehr Alternativschreibungen zuließ, als den meisten Schreibern bewusst war:

Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten. Das ist der Kernsatz einer richtigen Dudenexegese. [...] Einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß fast alle Dudenregeln Kann-Bestimmungen sind, Spielräume eröffnen. [...] Fast alle Bedenken, die man gegen Widersprüche und Haarspaltereien des Duden vorgebracht hat, lassen sich nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation beseitigen. [Fetisch der Norm. In: FAZ 14.11.97, S. 41].

Das gilt auch nach der Rechtschreibreform. Die Rechtschreibreform beinhaltet Regeln und Wortlisten. Die Wortlisten können nicht vollständig sein. Im Zweifelsfall werden sie durch Regeln ergänzt. "Sciencefiction" ist der Wörterbucheintrag. Beispiel: Nach den Regeln kann man aber auch richtig schreiben: "Science-Fiction", obwohl es nicht im angegebenen Wörterverzeichnis steht. Ähnliches ist der Fall bei den Kommaregeln. Sie geben an, wo ein Komma stehen soll, und wo keines zu stehen braucht. Bei wohlwollender Auslegung kann man weiterhin Kommas schreiben, um die Satzstruktur leichter verständlich zu machen, also auch dort, wo es nicht mehr nötig ist.

Zu einzelnen Regelungen

Laute und Buchstaben

Die Änderung von Laut-Buchstaben-Zuordnungen führte zahlreiche Änderungen oder Alternativen ein. Diese wurden teilweise mehr, teilweise weniger akzeptiert.

ss-ß-Schreibung und Dreifachbuchstaben

Die Umstellung der Schreibung von ß und ss hat von allen Teilen der Rechtschreibreform die augenfälligste Änderung des Schriftbildes mit sich gebracht; allerdings ist es auch die einzige Regel, die Lehrer konsequent korrigieren, und die von Befürwortern der Rechtschreibreform konsequent angewandt wird. Zur heftigen technischen Kritik an der Neuregelung gesellt sich Protest gegen die Umstellung des gewohnten Schriftbildes an sich (siehe oben: Einwände gegen jede Rechtschreibreform).

Die Neuregelung der ss-ß-Schreibung ist ein Kompromiss der Reformer, die ursprünglich das ß ganz abschaffen wollten, und soll laut diesen die Schreibung vereinfachen: der alte Merkspruch: "ss am Schluß bringt nur Verdruß" wird abgeschafft. Der Neuregelung zufolge steht ss immer da, wo bisher nach kurzem Vokal ß stand, ß selber steht nur noch nach langem Vokal. Allerdings wird der Lernaufwand nicht wesentlich geringer, denn die Regel greift nur dort, wo früher ß stand. Der Schreiber muss weiterhin wissen, wann er s am Wortende schärfen muss: so schreibt sich weiterhin Verständnis, Bus, die Last, aber Kompromiss, muss, lasst!.

Die ss-ß-Schreibung sei zu einer der Hauptfehlerquellen von Anwendern der rechtschreibreformierten Regeln geworden (siehe Prof. Harald Max: Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: was ändert sich bei Grundschulkindern?): die neue Erklärung setze nur noch phonologisch an und leite so zu Fehlschreibungen wie "Verständniss". Man habe zusätzlich die Wahlmöglichkeit - und damit die Unsicherheit - der Schreibenden vergrößert. Wo früher am Wortende Auswahl zwischen zwei Schreibweisen (s oder ß: Bus – Kuß) war, gelte es jetzt, zwischen drei Schreibweisen unterscheiden zu müssen (s, ss oder ß: Las – Bass – Maß). Die Zufallstrefferquote werde von 50% auf 33% vermindert, zumal je nach Dialekt, Soziolekt oder Idiolekt lange und kurze Vokale nicht treffsicher unterschieden werden könnten (ist das kurz oder lang?). Dabei blieben die Hauptprobleme, die durch die Regel beseitigt werden sollen, bestehen: man müsse weiterhin zwischen das und dass unterscheiden, ebenso wie bei ist und isst. Im Gegenteil, hier verschärfe sich das Problem, denn die Verwechslungsgefähr sei wegen der nun noch ähnlicheren Wortbilder größer.

Auch wird eine der wichtigsten Funktionen des ß verkannt und zerstört: der Silbenfuge. Wörter wie Missstand sind nicht nur kritisiert worden, weil einige meinen, ihnen fehle Ästhetik, sie sind angeblich auch schwerer zu lesen. Die Schreibung von Messergebnis statt Meßergebnis zwinge den Leser, das Wort zweimal zu lesen, denn die erste Lesung sei automatisch Messer-gebnis. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass Wörter niemals einzeln gelesen werden, sondern immer in Gruppen. Außerdem war auch bisher schon bei vielen Wörtern die Bedeutung nur aus dem Zusammenhang zu erschließen (so bei "Schloß"/"Schloss").

Gegner der Reform meinen, dass das ß als Verhinderung der Trennung als s-s entfällt und dadurch Computerprogramme nun Mes-sergebnis statt Meß-ergebnis trennen. Befürworter meinen, dass dies nur zeige, dass die Programme verbessert werden müssen - auch da bei versaler Schreibweise (also unter ausschließlicher Verwendung von Großbuchstaben), sowie bei in der Schweiz üblicher Schreibung generell kein ß verwendet wird und somit das Problem reformübergreifend existiert.

Umlautschreibung zur Stärkung des Stammprinzips

Die Änderung von e in ä in einzelnen Wörtern soll das Stammprinzip verstärken und damit Schreibweisen ableitbar machen. Dies wurde auch vor der Reform in vielen Fällen beachtet, die Reform war aber um weitere Vereinheitlichung bemüht, um weitere Ausnahmefälle abzubauen.

Gegen die Änderung von e in ä wird argumentiert, dass in einigen besonderen Fällen die Unterscheidbarkeit eines Wortpaars aufgehoben wird: aufwendig von Aufwand gegenüber aufwändig für auf der Wand, greulich von grausam zur Unterscheidung von gräulich von grau. Diese Fälle sind in ihrer Zahl gering, kommen aber relativ häufig vor.

Weitere Kritik richtet sich insbesondere gegen Fälle, in denen eine Volksetymologie legitimiert (oder durch die Reform erst suggeriert) wird (belämmert zu Lamm, schnäuzen zu Schnauze, einbläuen von blau).

Befürworter entgegnen, dass es für die Erlernbarkeit irrelevant sei, ob die Schreibweise auf historisch korrekter Etymologie beruhe (dazu oben: zur Grundsatzentscheidung gegen eine durchgehend etymologisch begründete Rechtschreibung). Sie sehen darin eine Anpassung an den Sprachgebrauch und somit eine Vereinfachung.

Fremdwörter

Begrüßt wurde von einigen die Möglichkeit, Endungen wie -graphie fortan als -grafie zu schreiben. Hierdurch wird nach Meinung der Reformbefürworter der Lesefluss erleichtert.

Beanstandet werden Mischformen aus etymologischer und eingedeutschter Schreibung: Orthografie mit th, aber ohne ph. Warum "ph" als etymologisch anzusehen sei, wird jedoch fraglich, wenn man bedenkt, dass dieser Laut im Griechischen Alphabet mit einem einzigen Zeichen dargestellt wird, wobei er in klassischer Zeit überdies als [ph] und nicht wie heute im Deutschen als [f] artikuliert wurde.

Ein weiterer Einwand der Gegner ist, dass durch die weitgehend phonetische Schreibung von Fremdwörtern und damit die Vergrößerung der Distanz zwischen ursprünglichem und deutschem Wort das Bildungsniveau noch weiter gesenkt werde. Reformbefürworter unterstellen da, dass solche Kritiken in ihrem Wesen als Gesellschaftspessimismus zu bezeichnen seien, der sich nur an sprachlichen Einzelheiten manifestiere, aber mit der Sprache und deren Verschriftung eigentlich nichts zu tun habe.

Zu begrüßen ist im Prinzip, dass es nicht Sache der deutschen Sprache sein kann, alle Fremdwörter immer so wie in der Gebersprache zu schreiben. Überdies gibt es seit längerer Zeit Beispiele von erfolgreicher orthografischer Eindeutschung, vgl. Keks aus engl. cakes, Streik aus engl. strike, Plüsch aus französ. peluche, Schock aus frz. choque usw. Die Reform führt also diese Linie im Bereich vielverwendeter Wörter weiter.

Dagegen kann man argumentieren, dass die deutsche Sprache sich durch diese Eindeutschungen aus dem Verband anderer westeuropäischer Sprachen wie Französisch und Englisch verabschiedet, die beide ebenfalls das Prinzip der etymologischen Schreibung von Fremdwörtern kennen. Andere europäische Sprachen passen Fremdwörter jedoch wesentlich gezielter orthografisch an - beispielsweise Italienisch (vgl. dittongo "Diphthong", teatro "Theater" usw.) oder Spanisch (vgl. quiosco "Kiosk", dólar "Dollar" usw.).

Groß- und Kleinschreibung

Die Rechtschreibreform fördert die Großschreibung vieler Wörter:

  • mit Bezug auf, in Bezug auf (früher: mit Bezug auf, in bezug auf)
  • im Nu, im Nachhinein (früher: im Nu, im nachhinein)
  • heute Abend, aber: heute früh (auch: heute Früh; früher: heute abend, heute früh)
  • alles Weitere, alles Übrige (früher: alles Weitere, alles übrige)

In vielen Fällen entstanden scheinbar schwere Grammatikfehler oder es gingen Bedeutungsunterscheidungen verloren:

  • Bei Abend in heute Abend handelt es sich um kein Substantiv, das eine Großschreibung legitimieren würde.
  • Leid tun (Leid zufügen), so die Reformgegner, sei etwas anderes als (alt:) leid tun (Mitleid erregen). Die Reformer meinen, dieses Problem in einer Revision der Reform dadurch beseitigt zu haben, indem sie beide Formen und zusätzlich noch leidtun erlaubten. Allerdings verschlimmere dies laut Gegnern der Reform das Problem, denn Leid tun kann immer noch für Mitleid empfinden geschrieben werden und bleibe in dieser Bedeutung weiterhin falsch. Dies und das zusätzliche leidtun (das die Regeln noch beliebiger mache) würden das Sprachgefühl des Schreibenden untergraben.

Getrennt- und Zusammenschreibung

Die Getrennt- und Zusammenschreibung war bisher nicht amtlich geregelt, sondern beruhte auf Einzelentscheidungen und Wörterbucheinträgen der Dudenredaktion, die diese erst später zu systematisieren versucht hat. Tendenziell sollte bei "wörtlichem" Gebrauch getrennt, bei "übertragenem" Gebrauch zusammen geschrieben werden: Die Besucher sind stehen geblieben (= standen weiterhin), aber Die Besucher sind stehengeblieben (= haben einen Halt gemacht).

Nach Meinung der Reformer war diese Regelung unübersichtlich, kompliziert und unsystematisch, da beispielshalber im Gegensatz zum "regelkonformen" sitzen bleiben (= auf einem Stuhl) / sitzenbleiben (= nicht versetzt werden) Wörter existierten, die immer getrennt oder zusammengeschrieben werden mussten - so schrieb man zum Beispiel liegenbleiben immer zusammen (egal, ob man auf einer Liege liegen bleibt oder ob eine Sache liegen bleibt [= vergessen wird]), während baden gehen immer getrennt geschrieben wurde (egal, ob man in einem See baden geht oder mit einer Sache baden geht [= scheitert]).

Als Beispiel für die Willkürlichkeit der bisherigen Regelung wird auch häufig das Beispiel Auto fahren in Konkurrenz zu radfahren genannt. Reformgegner antworten, dieses Beispiel beruhe auf einem Missverständnis: Bei "richtiger Dudenexegese" [Ickler] habe man daraus, dass nur radfahren, nicht aber autofahren einen eigenen Wörterbucheintrag gehabt habe, keineswegs darauf schließen müssen, dass man je nach Kontext nicht auch autofahren und Rad fahren habe schreiben dürfen (siehe dazu oben: zur Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen).

In der Neuschreibung kann ein Bedeutungsunterschied mit Hilfe der Getrennt- und Zusammenschreibung oft nicht mehr getroffen werden; alleine der Kontext gibt in diesen Fällen Auskunft, wie die Wortzusammensetzung zu verstehen ist. Von allen Entscheidungen der Rechtschreibreform hat diese wohl die meiste Kritik auf sich gezogen.

Kritiker nennen zahlreiche Fälle, in denen nach alter Rechtschreibung die getrennt und die zusammengeschriebene Variante unterschiedliche Bedeutungen hatten: sitzenbleiben (nicht versetzt werden), aber: sitzen bleiben (nicht aufstehen); schwerbeschädigt, aber: schwer beschädigt; weiter entwickeln (andauernde Entwicklung) oder weiterentwickeln (Fortschritt). (In neuer Rechtschreibung gibt es nur noch das getrennt geschriebene sitzen bleiben, während die Unterscheidungen schwerbeschädigt und schwer beschädigt sowie weiter entwickeln und weiterentwickeln weiterhin getroffen werden können.)

Es wird kritisiert, dass die Abschaffung der unterschiedlichen Schreibweisen beim Lesen zu Missverständnissen und beim Schreiben zum Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten führe.

Reformbefürworter argumentieren, die Bedeutung ergebe sich aus dem Kontext. In Präsens und Präteritum komme man ja auch ohne Unterscheidung von Getrennt- und Zusammenschreibung aus: Er bleibt / blieb sitzen.

Reformbefürworter argumentieren weiterhin, auch in der gesprochenen Sprache gebe es keinen Unterschied zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung. Dieses Argument ist jedoch nicht immer für alle Muttersprachler nachvollziehbar, da sie z. T. kleine Sprechpausen bei Getrenntschreibung machen. Außerdem gibt es in einigen Fällen einen Unterschied in der Betonung, z.B. er hat die Arbeit schlecht geMACHT (schlecht gemacht) vs. er hat die Arbeit SCHLECHT gemacht (schlechtgemacht); dieses Problem ist wohl beKANNT (wohl bekannt) vs. dieses Problem ist WOHL bekannt (wohlbekannt).

Soweit Reformgegner anerkennen, dass die reformierten Regeln vom fonetischen Standpunkt her vertretbar sind, bleibt ihnen die Argumentationslinie, die geschriebene Sprache sei nicht einfach nur ein Abbild der gesprochenen Sprache, sondern ein System eigenen Rechts: Unterscheidungen, die man in der gesprochenen Sprache nicht höre, könnten nichtdestoweniger in der Schriftsprache sinnvoll sein.

Schreibung mit Bindestrich

In diesem Punkt ist der Anspruch der Reform, die "Regelung der deutschen Rechtschreibung den heutigen Erfordernissen anzupassen", vergleichsweise leicht nachvollziehbar: die zunehmende Komplexität der heutigen Lebensverhältnisse bringt immer neue, oft mehrgliedrig zusammengesetzte Wörter mit sich. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Wörter mit einem Bindestrich in Sinn-Einheiten zu gliedern, kann bei vernünftigem Gebrauch das Lesen erleichtern. Sie bereichert auch die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Schriftsprache, da nach der alten Rechtschreibung beispielsweise nicht zwischen Drucker-Zeugnis und Druck-Erzeugnis unterschieden werden konnte, beides wurde Druckerzeugnis geschrieben. Auch in diesem Fall gilt, dass sich Wörter im Kontext oft trotzdem erkennen lassen.

Reformgegner sind der Meinung, dass es unverständlich ist, dass ein Bindestrich nicht mehr gesetzt werden muss, wenn drei Vokale bei einem Kompositum auftreten. So hieß es vor der Reform ausschließlich "Kaffee-Ersatz". Nach der Reform darf dieses Wort auch "Kaffeeersatz" geschrieben werden. Die Silbentrennung bzw. Sprechpause inmitten der "e" könne so nicht sofort erkannt werden. Reformbefürworter entgegnen, dass dies nur eine Erweiterung der Möglichkeiten sei.

Zeichensetzung

Die gelockerte Kommasetzung der rechtschreibreformierten Schreibweise vereinfacht laut Befürwortern das Schreiben und erschwert laut Gegnern das Lesen. Sie wird von vielen Lesern als ermüdend empfunden, da die Unterteilung längerer Sätze in logische Einheiten nicht mehr durchgehend durch Kommata erfolgt und aus dem Zusammenhang rekonstruiert werden muss. Gerade die für die deutsche Sprache typischen Schachtelsätze sind oft kaum noch zu verstehen. Allerdings ist das Setzen von Kommas teilweise nicht verboten, sondern dem Schreiber überlassen. Zur Verdeutlichung der Satzstruktur können auch nach der Reform Kommas gesetzt werden.

Wenn man Kommas weglässt, ergeben sich Mehrdeutigkeiten oder Probleme im Lesefluss:

  • Der Lehrer empfahl dem Schüler nicht zu widersprechen.
  • Zu dritt saßen sie am Tisch und aßen ein Huhn und die Mutter kam später dazu.

In diesen Fällen empfiehlt die Duden-Redaktion ausdrücklich, ein Komma zu setzen.

Worttrennung

Im Bereich der Worttrennung hat es recht wenige Änderungen gegeben. Am auffälligsten sind der Wegfall des s-t-Trennungsverbots ("Trenne nie ST, denn es tut ihm weh!") und die Neuerung bei ck. Ersteres hat mit dem Setzen der Bleilettern in der Druckerei zu tun gehabt, bei dem es für "st" eine einzelne Letter gab.

Bei der neuen Regelung für die Trennung von Worten mit "ck" war die Intention, eine Ausnahmeregelung abzuschaffen. Wurde früher ein Wort mit ck geschrieben (wie beispielsweise "Hacke"), dann wurde bei der Silbentrennung dieses durch "k-k" ersetzt: Hak-ke. Nach neuer Schreibung ist jetzt "Ha-cke" richtig. Dies geschah in Angleichung an die Trennung bei "ch". Beispielsweise wird "Sa-che" nach alter wie nach neuer Schreibung vor dem "ch" getrennt. Durch die Angleichung der ck-Trennregel an die ch-Trennregel fiel effektiv eine Ausnahmeregel weg.

Zwar wäre es konsequenter gewesen, "ck" grundsätzlich zu "kk" zu machen: "Hakke". Die damit verbundene starke Veränderung des Schriftbildes hätte aber sicher keine Akzeptanz gefunden. Außerdem hätte man dann konsequenterweise auch "ch" in irgendeinen Doppelkonsonanten umwandeln müssen, was noch weitreichendere Änderungen mit sich gebracht hätte.

Die neuen Regeln erlauben generell, nach Sprechsilben zu trennen. So ist nun neben der alten Trennung Heliko-pter auch die Trennung Helikop-ter zulässig, neben Chir-urg nun auch Chi-rurg.

Weiterführende Informationen

Literatur contra