Wasserfall war der Name einer deutschen Flugabwehrrakete mit Flüssigtreibstoff, die 1943 entwickelt wurde. Ab 1944 fanden etwa 40 Probeflüge statt. Die Rakete sollte zur Unterstützung von Flak-Batterien gegen hochfliegende Bomber bis zu einer Entfernung von 48 km dienen. Nach dem Krieg war sie Grundlage zur Entwicklung amerikanischer Flugabwehrraketen.
Hintergrundproblematik
Bereits 1942 begann sich die Jägerkrise mit der allierten Luftüberlegenheit abzuzeichnen. Viele deutsche Piloten waren in der Luftschlacht um England getötet oder gefangen genommen worden. Zudem fehlte es an Jagdflugzeugmustern, die es in Punkto Bewaffnung mit den massiv gepanzerten Bombern aufnehmen konnten und sich dabei noch gegen die zahlenmäßig überlegenen Geleitschutzstaffeln vermittels Wendigkeit und Steigleistung hätten durchsetzen können. In den Entwicklungsbüros wurde von der "Kolbenmotorkrise" gesprochen. Denn es standen keine ausreichend leistungsfähigen Jagdflugzeugmotoren zur Verfügung, die bestehenden Motoren waren hochgezüchtete Weiterentwicklungen, die trotz mäßiger Leistungen im Gefecht gerade mal 50 Stunden zuverlässig funktionierten. Der Bedarf an qualitativ hochwertigem Stahl, welcher zu den knappen Ressourcen gehörte, konnte im Verlauf des Krieges immer weniger gedeckt werden.
Das Ziel der Luftabwehr ist es, Schaden vom zu verteidigenden Ziel abzuwenden. Dies kann geschehen, indem man den Angreifer unschädlich macht oder ihn zum Ausweichen zwingt und so die Trefferquote herabgesetzt wird. Ein Ausweichen in größere Flughöhen bedeutet dabei eine Reduktion der Bombenlast und eine Verschlechterung der Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Die genannten Gesichtspunkte machten einen ferngelenkten oder rechnergesteuerten Lenkflugkörper zu einer naheliegenden und realistischen Problemlösung. Deutschland hatte in der V-Waffen-Entwicklung, bei Torpedos und Raketentriebwerken bereits entsprechende Erfolge erzielt, um eine Rakete für realisierbar zu erachten.
Die Forderungen an eine Flugabwehrrakete
- Die Rakete muss mit großer Geschwindigkeit auf einen Bomberverband abgeschossen werden. Eine große Geschwindigkeit führt bei vornehmlich senkrechtem Abschuss zu einer großen Zielhöhe und einer schlechten Bekämpfbarkeit.
- Da ein direkter Treffer relativ unwahrscheinlich ist, muss eine Splitterbombe mit ausreichendem Explosionsradius im Gefechtskopf zur Explosion gebracht werden, und durch Schrapnelle möglichst viele Feindflugzeuge beschädigen.
- Dazu muss der Flugkörper eine gut voraussagbare Durchschnittsgeschwindigkeit haben, ohne dies ist eine Vorausberechnung des Vorhaltepunktes nicht möglich.
- Die Avionik muss das Geschoss auf einer möglichst geraden Flugbahn halten.
- Ein Autopilot muss das Rollen der Rakete sicher unterdrücken.
- Die Rakete muss mehrere Wochen abschussbereit auf der Lafette stehen können, um dann im Angriffsfall abgefeuert werden zu können.
- Möglichst wenig technisches und militärisches Personal darf zur Benutzung gebunden werden, da es passieren kann, dass die Rakete wochenlang ungenutzt herumsteht.
- Eine minimale Vorwarnzeit muss ausreichen, um Rakete, Feuerleitstellung und Abschussvorrichtung in Bereitschaft zu versetzen.
- Von nicht geringer Relevanz ist, dass die Rakete in Sektionen gefertigt werden kann, die zum Teil von handwerklichen Kleinbetrieben in ausreichender Präzision ausgeführt werden können, ohne dass der jeweilige Betrieb Kenntnis über die genaue Verwendung der einzelnen Bestandteile haben muss, um die Gegenspionage zu erschweren.
Realisierung
Antrieb
Von vornherein ausgeschlossen waren die Walterantriebe (Me163), Feststoffraketen (Natter) oder Flüssigsauerstoff (V2), da diese nicht für eine Rakete, die startbereit auf einer Lafette ruht, geeignet waren. Der Walter-Antrieb ist schlecht enttankbar (30 % H2O2) und im abschussbereiten Zustand höchst kritisch. Zudem zersetzt der Kraftstoff alle bis dahin bekannten Anlagen. Edelstähle wiederum waren für eine „Wegwerf-Waffe“ zu ressourcenkritisch. Feststoffraketen zeigen bei langer Lagerung eine Veränderung des Abbrandverhaltens. Verdichtet sich das Treibmittel, so brennt es zu rasant ab und der steigende Druck in der Brennkammer zersprengt die Rakete im Flug. Flüssiger Sauerstoff – welcher bei der V2-Rakete eingesetzt wurde – ist ein schwierig handhabbarer Stoff, da dieser schlecht in der Rakete zu lagern ist und explosive Gemische bildet. Zudem war es praktisch unmöglich eine Rakete unter Gefechtsbedingungen – etwa bei einem anfliegenden Bomberschwarm – mit Flüssiggas zu betanken, da der Kraftstoff nach dem Eintanken erst retemperiert werden muss. Um den Kraftstoff im Entwarnungsfall wieder abpumpen zu können, wäre eine eigene Einrichtung an der Rakete nötig gewesen, sowie eine Tankentlüftung. Jedoch wäre selbst mit derartigen Einrichtungen das Abpumpen und Neubetanken nur schwer zu bewerkstelligen gewesen.
Bei der Wasserfall entschloss man sich zur Verwendung eines hypergolischen zweikomponenten-Flüssigtreibstoffs. Eine kleine Pressluft-Flasche sollte beim Abschuss die Tanks mit Überdruck versorgen. Tankpendel waren unnötig, da die Rakete weder rollen (wie die Katjuscha) noch in Horizontalflug übergehen sollte (wie die V2) und daher immer im positiven G-Bereich bleiben würde. Als Kraftstoff wurde eine Visol- und SV-Stoff-Mischung auserkoren. SV-Stoff (10 % Schwefelsäure + 90 % Salpetersäure) war in der Sprengstoffindustrie weit verbreitet vorhanden, Visol (Isobutylvinylether + Anilin) war auch aus der Kraftstoffdestillation (Kohle-Verflüssigung) als Nebenprodukt zu beziehen. Der damit zu erreichende Schub reichte völlig aus um die Anforderungen zu erfüllen.
Bauweise
Wie aktuelle Flugkörper (z.B. die Sidewinder) wurde die Wasserfall in Sektionsbauweise konstruiert. Die Fertigung der Tanksektion konnte an kleine Manufakturen delegiert werden. Der Sprengkopf entsprach einer damals aktuellen Luftmine, einzig der Raketenmotor und der Flugrechner waren spionagekritisch. Um den Zusammenbau zu vereinfachen, durften keine Kabelbäume oder Seilzüge nötig sein. Das war nur dadurch erreichbar, dass jede Sektion der Waffe eine absolute Aufgabenprioriät besaß:
- Die Tanksektion enthielt die beiden Kraftstofftanks und die Druckgasflasche, welche den Kraftstoffdruck im Tank selbst aufbaute. Eine Kraftstoffpumpe war nicht nötig und stellte somit auch keine Fehlerquelle dar. Sie sollte noch vor dem Transport zum Einsatzort mit der Antriebssektion verschraubt werden (denn die Tanks mussten ja absolut dicht mit dem Motor verbunden werden).
- Die Antriebssektion enthielt den Raketenmotor. Der Schub wurde über Kraftstoffventile von einer einfachen Gravitationswaage reguliert (Gewicht an Feder). Somit war die Endgeschwindigkeit der Wasserfall selbstreguliert. Der Motor wurde so großzügig stabil ausgelegt, dass eine Brennkammer-Druckkontrolle unnötig war. Der Raketenmotor wurde nach dem Regenerativ-Kühlprinzip gebaut. Die Heckflossen hatten eine einfache, selbststeuernde Eigenschaft: die großen Leitwerksflächen wurden durch den auftreffenden Fahrtwind ausgelenkt und ragten soweit in den Triebwerksstrahl hinein, dass sie dort sofort gegensteuerten. Damit konnte die Rakete mit minimalem Aufwand 1. auf eine fixe Beschleunigung kommen und 2. zumindest grob geradeausfliegen. Ein Aufschaukeln der einzelnen Regulatorien gegeneinander wurde zuverlässig dadurch verhindert dass es 1. nur wenige Stellgrößen gab und 2. Regulationsträgheiten, so nicht sowieso schon systemimmanent, eingefügt wurden.
- Die Steuersektion enthielt einen schlichten Kursrechner, wie er in Torpedos tausendfach Verwendung fand und daher zur Verfügung stand: ein Kreisel verhinderte das Rollen der Rakete, der andere hielt sie senkrecht (oder auf dem vorberechneten Anflugwinkel). Ein mechanischer Rechner mittete den Soll- und den Istwinkel gegeneinander aus. Es war zudem geplant, einen Infrarotsuchkopf für den Einsatz bei Nacht einzuführen. Diese Werte wären analog zur normalen Flugwinkelkontrolle in den mechanischen Soll/Ist-Rechner einspeisbar gewesen. Der Flugkurs wurde durch die 4 vorderen Flügel mittels Servomotoren gesteuert.
- Der Sprengkopf war eine Kombination aus Luftmine und Splittergranate, er erhielt einen Funkempfänger, um bei Annäherung ans Ziel ferngelenkt zu explodieren, bzw. einen Zeitzünder, um sich beim Versagen der regulären Zündmechanismen selbst zu zerstören (Einsatz über bewohntem Gebiet/Gegenspionage). Auch waren magnetische Annäherungszünder, Infrarotsensoren und akustische Suchköpfe (analog selbstsuchender Torpedo "Zaunkönig") in Erprobung.
Diese scharfe Trennung der Aufgaben sollte bewirken, dass die Wasserfall schnell, einfach und dabei fehlerfrei am Einsatzort montierbar war. Die Zerlegbarkeit vergrößerte die Transportabilität, erleichterte die Lagerung in Luftschutzbauten und den Zusammenbau ohne Kran oder Hubeinrichtung etc.
Die Sektionsbauweise bot der Waffe gute Weiterentwicklungsoptionen, denn solange Schwerpunkt und Gesamtmasse gleich blieben, konnte jede einzelne Sektion unabhängig von den anderen in Sachen
- Ökonomie im Einsatz,
- Ökonomie in der Fertigung,
- Kampfwert
weiter verbessert werden.
Personal, technisches Gerät, Test-Aufbauten für eine Abstimmung der einzelnen Komponenten aufeinander sollte unnötig sein und gleichzeitig die Flugeigenschaften immer konstant und voraussagbar ausfallen.
Abschuss-Sequenz
Die Wasserfall war dafür ausgelegt, bei Bedarf wochenlang wartungsfrei und abschussbereit auf der Lafette zu stehen. Vor einem Abschuss musste sie dann nur noch von der Tarnung befreit und aktiviert werden. Dazu wurden, ähnlich einem Torpedo, zunächst die Kreisel gestartet und auf Nullwert geeicht. Anschließend wurden die Tanks unter Druck gesetzt (zuerst das Visol, dann das SV) und die Dichtigkeit überprüft. Da die Rakete immer senkrecht abgeschossen wurde, musste nun der Zielanflugwinkel im Kursrechner programmiert werden. Dazu war die genaue Kenntnis von Position und Flugrichtung des anvisierten Bombers wichtig. Dies waren allerdings Aufklärungsdaten, die nach der Landung der Alliierten in der Normandie nicht mehr lückenlos zur Verfügung standen, was die gesamte Bomberabwehr beeinträchtigte. Wenn Bomber und vorausberechneter Zielvektor sich überschnitten, wurde der Sprengkopf entsichert und die Waffe abgefeuert. Bei Annäherung an das Ziel detektierte die Rakete eine Änderung des Magnetfelds und zündete den Sprengkopf.
Entwicklungshistorie
Die Erprobung der Rakete erfolgte unter der Federführung von Dr. Walter Thiel in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Die ersten Modellversuche ab März 1943 verliefen vielversprechend. Durch Thiels Tod bei einem Bombenangriff der Alliierten auf die Peenemünder Forschungs- und Fertigungsstätten im August 1943 wurde das Projekt um Monate zurückgeworfen. Der erste Abschuss erfolgte am 8. Januar 1944 und misslang. Die Rakete durchbrach die Schallmauer nicht und erreichte so nur eine Gipfelhöhe von ca. 7000 m. Doch war dieses Fehlverhalten von Rakete und Steuerung vorausgesehen worden, und als Resultat flossen neue Ideen in den nächsten Prototypen. Der erste erfolgreiche Start fand am 29. Februar 1944 statt. Die Rakete erreichte eine Geschwindigkeit von 2772 km/h in vertikaler Fluglage und bei 20 km Höhe war der Kraftstoff verbraucht.
Bis Kriegsende waren 50 Prototypen gebaut worden, mit denen Flug- und vor allem Steuerstudien durchgeführt wurden. 40 Probeabschüsse sind dokumentiert. Ende Februar 1945 wurde die Fertigung zugunsten der V2 eingestellt.
Im Unternehmen Einhorn gelang es den USA (und auch der Sowjetunion) die Pläne und Modelle zu erobern. Nach dem Krieg wurden in den USA zu Erprobungszwecken Kopien der Wasserfall-Rakete unter der Bezeichnung Hermes-A1 getestet.
Technische Daten
- Erststart: 29. April 1944
- Länge: 7,85 m
- Durchmesser (mit Flügeln): 2,51 m
- Treibstoff: 450 kg Visol + 1.500 kg SV-Stoff
- Nutzlast/Sprengkopf: bis 300 kg
- Gesamtgewicht: 3.500 kg
- SV-Stoff-Füllung: 1.500 kg
- Visol-Füllung: 450 kg
- Schub: 8.000 kp
- Brenndauer: max. 42 s
- Höchstgeschwindigkeit (vmax): 400-800 m·s-1
- Gipfelhöhe: 18.000 m oder 24.000 m (?)
- Querreichweite: 26.000 m
- Besonderheiten:
Wehrtechnische Betrachtung
Die Wasserfall stand im Krieg weder in ausreichender Zahl noch rechtzeitig zur Verfügung, um den Kriegsverlauf zu verändern. Die Rakete hat jedoch die Entwicklungsrichtung der folgenden Jahrzehnte vorgegeben, denn seit den 1950er Jahren ist die Flugabwehr zunehmend raketengestützt und basiert nur noch in vereinzelten Fällen wie zum Beispiel bei der Schilka (ZSU-23-4) oder beim Gepard-Flugabwehrpanzer auf Kanonen.
Ein Vergleich mit der V2 ist nicht möglich. Beide entstanden zwar in Peenemünde, beides waren Raketen und beides waren deutsche Waffen im zweiten Weltkrieg. Nur wurden sie von völlig eigenständigen Arbeitsgruppen entwickelt, hatten andere Zielsetzungen und benutzten andere technische Prinzipien (Antriebe, Kraftstoffe, Kursrechner, etc.). Auch war die Wasserfall nie Teil des V-Waffenprogramms. Entsprechend hat die V-Waffen-Produktion, deren Vorantreibung von Hitler, Goebbels (Propaganda) und Speer (Ressourcenkalkulation, Zwangsarbeiter, etc.) aus sehr emotionalen Gründen der Vorzug gegeben wurde, die Entwicklung anderer Waffen, so auch der raketengetriebenen Gleitbomben, verhindert. Die V2 war somit ein Konkurrent um Ressourcen (Material, Personal, Laborzeit) und verhinderte letztlich die zeitgerechte Fertigstellung und den Fronteinsatz der Wasserfall-Rakete.
Literatur
- Joachim Engelmann: Geheime Waffenschmiede Peenemünde. V2-"Wasserfall"-"Schmetterling". Podzun-Pallas-Verlag Friedberg, ISBN 3-7909-0118-0