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Der Zusammenstoß zwischen DHL-Flug 611 und Bashkirian-Airlines-Flug 2937 über Owingen bei Überlingen am Abend des 1. Juli 2002 gilt mit 71 Opfern, davon 45 Kinder, als eines der tragischsten Flugunglücke im deutschen Luftraum. Das Unglück zog zahlreiche Diskussionen rund um die Flugsicherung und verschiedene Flugsicherungssysteme nach sich.
Verlauf
Am 1. Juli 2002 gegen 21 Uhr (MESZ) startet eine russische Tupolev Tu-154M der Bashkirian Airlines in Moskau unter der deutschen Flugbezeichnung Bashkirian-Airlines-Flug 2937. An Bord der Maschine befinden sich 71 Menschen, davon 45 Schulkinder im Alter zwischen 8 und 16 Jahren aus Ufa. Ziel des Fluges war das spanische Mittelmeer. Der Ferienflug soll eine Belohnung für größtenteils hochbegabten Schüler wegen guter Leistungen in der Schule sein. Gesteuert wird das Flugzeug vom sehr erfahrenen Piloten Alexander Gross, der bereits mehr als 12.000 Flugstunden absolviert hatte. An seiner Seite sitzt als Co-Pilot Murat Itkulow. [1]
Kurz nach 23 Uhr des selben Abends startet eine Frachtmaschine vom Typ Boeing 757-200 des Dienstleistungsunternehmens DHL unter der deutschen Flugbezeichnung DHL-Flug 611 vom Flughafen im italienischen Bergamo. Das Ziel des Flugs ist die belgische Hauptstadt Brüssel. Fliegender Pilot ist der Engländer Paul Phillips, der seit 1989 bei der DHL beschäftigt ist und im Dienste dieses Unternehmens mehr als 10.000 Stunden Flugerfahrung gemacht hatte. Unterstützt wird er durch seinen Co-Piloten Brent Campioni aus Kanada. [1] Planmäßig sollen sich die beiden Flugzeuge über dem Bodensee kreuzen.
Gegen 23:20 Uhr meldet sich Pilot des DHL-Flug 611, Paul Phillips, bei der zuständigen Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, die für den deutschen Luftraum zu diesem Zeitpunkt verantwortlich ist, an. Der verantwortliche Fluglotse Peter Nielsen weist Phillips daraufhin an, die Flughöhe von momentan 26.000 Fuß auf 32.000 Fuß zu erhöhen. Phillips möchte noch höher fliegen und bittet um die Erlaubnis, auf eine Flughöhe von 36.000 Fuß (ca. 11.000 m) steigen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde von Skyguide erteilt und nur wenige Minuten später, um 23:29:50 Uhr, erreicht die Boeing die gewünschte Flughöhe, ohne dies an die Flugsicherung zu melden.[2].
Auch die Flughöhe der aus Russland kommenden Tupolev, die sich um 23:30 Uhr bei Skyguide anmeldet, beträgt 36.000 Fuß. Der Fluglotse, der sich gleichzeitig mit der Koordination des Landeanflugs einer dritten Maschine auf Friedrichshafen beschäftigt, erkennt den dadurch drohenden Konflikt nicht und gibt keine rechtzeitigen Instruktionen an die beiden Maschinen aus.
Das Zusammenspiel verschiedener unglücklicher Faktoren führt kurz nach 23:35 Uhr zur Kollision der beiden Flugzeuge im Luftraum zwischen Owingen und Überlingen am Bodensee, wobei alle 71 Menschen in beiden Flugzeugen sterben.
Unfallgeschehen
Um 23:30 Uhr gibt der Pilot der Tupolev nochmals die Flugdaten durch, darunter auch die Höhe des Fluges. Der verantwortliche Fluglotse bei Skyguide, Peter Nielsen, bestätigt die Flugdaten. Im Gegenzug weist er aber weder der Boeing, noch der Tupolev eine andere Flughöhe zu, sodass sich beide Flugzeuge weiterhin auf der selben Flughöhe befinden. Die Kreuzung der Flugwege war gegen 23:34 Uhr geplant.
An Bord beider Flugzeuge befand sich ein Kollisionswarnsystem. Dieses Traffic Alert and Collision Avoidance System, kurz TCAS, dient dazu, die Piloten bei drohenden Kollisionen noch rechtzeitig zu warnen und ihnen im Ernstfall Kommandos zu Flugmanövern, die der Verhinderung der Kollision dienen, zu geben. Das TCAS meldet sich nur in äußerst kritischen Situationen, wenn die eventuelle Kollision in kürzester Zeit (in der Regel zwischen 20 und 60 Sekunden) bevorsteht. Im Normalfall wird ein Konfliktfall aufgrund des Abgleichs der Flugpläne bzw. spätestens durch das bodengestützte Short Term Conflict Alert-System (STCA) erkannt und kann durch Anweisungen des Fluglotsen bereinigt werden, ohne dass das TCAS in Aktion tritt.
Zuerst werden die beiden Piloten gewarnt, anschließend kommunizieren die Bordcomputer der beiden involvierten Maschinen und berechnen gemeinsam ein geeignetes Ausweichmanöver. So wird die eine Crew zum Sinken, die andere zum Steigen aufgefordert. TCAS hat keine Verbindung zum verantwortlichen Fluglotsen, somit erfährt dieser nichts über einen eventuellen TCAS-Verkehrshinweis (Traffic Advisority) und die Anweisungen an die Piloten.
Um 23:34:42 meldet das TCAS in beiden Flugzeugcockpits akustisch die Annäherung durch eine synthetische Stimme („Traffic, Traffic“). Zeitgleich erkennt Peter Nielsen auf seinem Radarschirm die gefährliche Situation. Er weist die Tupolev sieben Sekunden nach dem Auslösen des TCAS Traffic Advisority um 23:34:49 Uhr an, umgehend auf eine Flughöhe von 35.000 Fuß zu sinken.[3] Die Tupolev-Besatzung bestätigt dies nicht, kommt aber der Aufforderung nach und leitet den Sinkflug ein. Gleichzeitig hat TCAS ein Ausweichmanöver (Resolution Advisory) errechnet und weist die Tupolev an, in den Steigflug zu gehen („Climb, Climb“), während es die Crew der Boeing anweist, zu sinken („Descend, Descend“). Dies führt zu kurzer Irritation der Tupolev-Besatzung, die den Widerspruch bemerkt. (First Officer: „es [TCAS] sagt 'steigen'!“ – Co-Pilot: „er [Lotse] schickt uns runter'!“ – First Officer: „… sinken?“)[4]. Der Flugzeugführer entscheidet sich, den Sinkflug fortzusetzen. Nielsen meldet sich um 23:35:03 Uhr erneut und fordert die Tupolev nochmals auf, auf Fluglevel 350 zu sinken. Dies wird von der Mannschaft sofort bestätigt. Nielsen sieht die Situation damit als entschärft an.
Paul Phillips folgt den Empfehlungen des TCAS und leitet um 23:34:10 Uhr – genau wie wie Alexander Gross in der Tupolev – einen starken Sinkflug der Boeing ein. Tatsächlich befinden sich nun wegen des Widerspruchs der Anweisung durch den Fluglotsen und des TCAS-Kommandos an die Tupolev beide betroffenen Flugzeuge gleichermaßen im Sinkflug. Um 23:35:13 Uhr spricht Peter Nielsen ein letztes Mal mit der Tupolev. Er warnt vor einem Flugverkehr auf 2 Uhr auf Level 360. Diese Angabe war aber falsch, richtig wäre Traffic aus 10 Uhr gewesen. Phillips' Meldung, er gehe auf Empfehlung des TCAS in Sinkflug, wurde am Boden überhaupt nicht registriert. Gross sucht nun offenbar in der falschen Richtung nach dem anderen Flugzeug und meint, es sei über ihm. Etwa neun Sekunden vor der Kollision fragt er seinen Copiloten: „wo ist es [das andere Flugzeug]?“. Dieser antwortet: „Hier, links.“ Zwei Sekunden vor der Kollision versucht Gross, die Tupolev stark hochzuziehen und die Steuersäule der Boeing wird komplett nach vorn gedrückt.
Um 23:35:32 Uhr kommt es in 34.890 Fuß (etwa 10.630 m) Flughöhe zur Kollision: Die Tupolev trifft nach zwei vorherigen Kurskorrekturen um insgesamt 20° in einem Winkel von 274° der missweisenden Peilung in das Heck der Boeing und zerbricht anschließend in vier Teile. Beide Tragflächen und das Heck mit den drei Triebwerken lösen sich vom Flugzeugrumpf. Verschiedene Zeugen sagten später aus, dass sie den Zusammenstoß beobachtet hatten und die brennenden und herunternfallenden Trümmerteile sehen konnten. Die Trümmer werden nördlich von Überlingen über zwei Kilometer verstreut. Die Boeing stürzt acht Kilometer weiter nördlich über dem Gebiet der Gemeinde Owingen ab. Die Trümmer stürzen in Waldgebiete und treffen somit weder Menschen am Boden, noch richten sie größeren Sachschaden an.
Rettungs- und Bergungsmaßnahmen nach der Kollision
Um 23:39 Uhr wurde die integrierte Leitstelle Bodensee[5] in Friedrichshafen über verschiedene Kleinbrände zwischen Überlingen und Owingen verständigt. Daraufhin rückten erste Rettungsfahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr Owingen noch vor einer Alarmierung aus.[6] Nur kurze Zeit später rückten verschiedene Löschzüge der Freiwilligen Feuerwehren aus Owingen und Überlingen an. Anschließend wurden alle Feuerwehren aus dem umliegenden Gebiet und den angrenzenden Landkreisen alarmiert.
Um 23:47 Uhr gingen bei der Leitstelle die ersten Hinweise auf einen Flugzeugabsturz und brennende Wrackteile ein. Daraufhin alarmierte die Rettungsleitstelle zwei Rettungshubschrauber sowie 10 Rettungswagen, zwei Rettungshundestaffeln und weitere Löschzüge. [7] Um 00:25 Uhr wurde die Technische Einsatzleitung alarmiert, die sich in Überlingen einrichtete.[6][7]
Die erste Aufgabe der Feuerwehren bestand darin, die zahlreichen brennenden Trümmer zu löschen. In Taisersdorf wurde durch den Aufprall des brennenden Wracks der Boeing ein Waldbrand ausgelöst, der jedoch schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte.
Nachdem der Großteil der Brände gelöscht oder unter Kontrolle gebracht wurde, war das Primärziel der Rettungskräfte die Bergung von eventuellen Überlebenden. Probleme bei der Suche waren einerseits die Dunkelheit der Nacht, andererseits die große Verbreitung der Trümmer über etwa 30 Quadratkilometer.[8] Für die Suche wurden vier weitere Rettungshubschrauer, zwei davon aus der benachbarten Schweiz, sowie ein Großraumrettungshubschrauber der Bundeswehr Laupheim eingesetzt. Insgesamt waren 250 Feuerwehrleute, 180 Helfer des Deutschen Roten Kreuzes und 80 Helfer des Technischen Hilfswerks im Einsatz.
Gegen 01:45 Uhr wurden die ersten acht Todesopfer geborgen. Um 02:12 wurde eine Bootsstaffel zur Wasserrettung auf dem Bodensee durch die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft ausgesandt.
Am 02. Juli 2007 konnte der Gefahrstoffzug 3.500 Liter Kerosin aus einer der Tragflächen herauspumpen.[9] Die gezielte Bergung der Leichen der Todesopfer begann am 3. Juli. Hierbei wurde mithilfe von Trennschleifern und Rettungsscheren das Wrack der Tupolev Stück für Stück auseinander genommen. Am 6. Juli wurden schließlich die letzten – teilweise stark verstümmelten − Leichen geborgen.[8]
Am 8. Juli wurde der Gesamtgroßeinsatz für beendet erklärt.[6]
Flugunfalluntersuchung
Der Zusammenstoß der beiden Flugzeuge wurde bedingt durch Ausfälle verschiedener Systeme sowie Unachtsamkeiten und fahrlässigen Handlungen verschiedener Personen sowie dem Zusammenspiel verschiedener Zufälle.
Die Flugunfalluntersuchung erfolgte durch die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BfU). Dabei wurden die Flugdatenschreiber, Cockpit-Voice-Recorder, die gespeicherten TCAS-Daten, der aufgezeichnete Funkverkehr und die aufgezeichneten Radardaten herangezogen.[2]
Technischer Zustand der Flugzeuge
Die Untersuchungen der BfU ergaben, dass sich beide Flugzeuge in einwandfreiem technischen Zustand befanden und über ein identisches Kollisionswarnsystem verfügten, das einwandfrei arbeitete. Beide Cockpitbesatzungen konnten den unfallbezogenen Funkverkehr der Bodenkontrolle hören, da sie die entsprechende Frequenz an ihrem Funkgerät gerastet hatten.
Unterbesetzung der Überwachungsplätze und Ablenkung des Lotsen
Normalerweise wird jeder Radarschirm von jeweils einem Fluglotsen überwacht. Wie spätere Untersuchungen ergeben, macht der zweite Fluglotse, der Peter Nielsen unterstützen soll, jedoch gerade Kaffeepause und ist wider den Empfehlungen nicht an seinem Platz. Nielsen war darüber zuvor unterrichtet worden, sodass er von der Unterbesetzung Bescheid wusste. Trotzdem hat er keinen der für seine Unterstützung zur Verfügung stehenden Lotsen um Hilfe gebeten.
Eine bereits geltende dienstliche Weisung besagt eindeutig:
„Ein einzelner Fluglotse soll nicht zur gleichen Zeit zwei nebeneinanderliegende Sektoren bewachen.“
Diese dienstliche Weisung ist jedoch nicht bindend. Die Unterbesetzung des Radarschirms wird als einer der Hauptgründe für den Unfall angeführt. [10]
Der diensthabende Lotse Peter Nielsen musste sich zudem zeitgleich um den Flughafen in Friedrichshafen kümmern, wo ein verspätetes Flugzeug landen sollte. Der Landeanflug dieses Fliegers sollte von Nielsen betreut werden. Durch die Betreuung dieses Anflugs war Nielsen abgelenkt, sodass er wahrscheinlich den Flughöhen der beiden anderen Flieger nicht genug Beachtung schenkte. Dazu kam es, dass Nielsen auf Grund dieses Landeanflugs dauernd etwa zwei Meter zwischen zwei Radarschirmen räumlich hin- und herwechseln musste, um sowohl die Kreuzung der Boeing und Tupolev, als auch die Landung in Friedrichshafen beobachten zu können.
Während der Wartungsarbeiten war ein weiterer Mitarbeiter im Raum in der Nähe von Peter Nielsen, der zu dessen Unterstützung vorgesehen war. Dieses wurde dem unterstützenden Lotsen jedoch offensichtlich nicht eindeutig mitgeteilt.
„Für die Durchführung der geplanten Arbeiten waren 10 Techniker eingeteilt. Diese waren über die unterschiedlichsten Diensträume verteilt, von denen sich ca. 5 bis 6 im Kontrollraum des ACC aufhielten.“
Zur Verbindung zwischen Lotsen und Technikern war ein Mitarbeiter aus dem Leitungsstab der Flugsicherungszentrale abgestellt. Dieser hielt sich über den gesamten Zeitraum in unmittelbarer Nähe des Lotsenarbeitsplatzes auf. Ebenso war ein Systemmanager (SYMA) zum Dienst eingeteilt, der sich am „SYMA-Desk“ aufhielt. Die Funktion dieser beiden Mitarbeiter waren dem Lotsen nicht bekannt. Der Lotse ging davon aus, dass der SYMA-Dienst planmäßig gegen 21:00 Uhr beendet worden war und er diese Aufgaben im Nachtdienst mit zu übernehmen hatte. Die speziellen Aufgaben dieser beiden zusätzlichen Mitarbeiter waren in den dazu erlassenen Weisungen ebenfalls nicht beschrieben.
Im Normalfall, wenn mehrere Lotsen im Raum sind und sich ein Lotse überbeansprucht fühlt, kann er seinen Kollegen bitten, ihm behilflich zu sein. Nielsen machte keinen anderen Lotsen auf seine Doppelbelastung aufmerksam.
„Zum Zeitpunkt des Ereignisses war nur ein Lotse im Kontrollraum des ACC Zürich. Er hatte gleichzeitig die Aufgaben des Planungs-Verkehrsleiters, des Radarverkehrsleiters und des Dienstleiters wahrzunehmen. Mit ihm im Kontrollraum war eine Controller-Assistentin. Ihre Aufgabe war es, den Lotsen bei Routine- und Koordinierungsaufgaben zu unterstützen; sie hatte keine Aufgaben und Berechtigungen im Rahmen der Verkehrsführung.“
Der Lotse hat infolge seiner Überlastung eine rechtzeitige Staffelung beider Flugzeuge unterlassen.
Ausfall des STCA und der Telefonanlage
Kommen sich zwei Flugzeuge auf der selben Flughöhe näher, als dies durch die Staffelung vorgesehen ist und erreichen damit eine kritische Nähe, so erhält der Fluglotse in der Regel durch das Short Term Conflict Alert-System (kurz: STCA) eine Conflict Alert Message auf seinen Radarschirm, die mit einer akustischen Warnung verbunden ist. Somit wird der Fluglotse auf diese Konfliktsituation rechtzeitig aufmerksam gemacht, sodass dieser noch genüngend Zeit zur Einleitung von Gegenmaßnahmen hat. Bei Skyguide wurde das STCA jedoch seit 23:30 Uhr wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb genommen und steht Nielsen damit nicht in vollem Umfang zur Verfügung. Das akustische STCA funktionierte jedoch einwandfrei und die akustische Warnung ist wurde auch protokolliert. Es ist unklar, wieso Nielsen das akustische Warnsignal nicht wahrgenommen hat oder wahrnehmen konnte.[2]
Das nächste solche STCA ist bei der Flugsicherung Karlsruhe installiert. Dieses System meldete zwei Minuten vor dem Zusammenstoß der Flugzeuge einen kritischen Zustand. [11] Der verantwortliche Fluglotse in Karlsruhe erkennt die Situation und die sich anbahnende Kollision. Daraufhin versucht er, die Lotsen in Zürich per Telefon aufmerksam zu machen, kommt jedoch nicht durch: Auch die Telefonanlage wird in dieser Nacht bei Skyguide gewartet. Dadurch steht nur eine einzige Telefonleitung zur Verfügung, auf der Peter Nielsen mit dem Flughafen in Friedrichshafen telefoniert. Hätte der Lotse aus Karlsruhe einen Lotsen bei Skyguide erreicht, wäre noch ausreichend Zeit geblieben, um eine Kollision zu vermeiden.
Der Lotse in Karlsruhe hätte über eine internationale Notfrequenz, die jeder Pilot gerastet haben sollte, beide Piloten ansprechen und sie auf die Gefahrensituation hinweisen können. Jedoch gilt das allgemeine Arbeitsprinzip unter Fluglotsen, dass ohne die ausdrückliche Zustimmung des verantwortlichen Lotsen kein anderer Lotse Anweisungen in einem fremden Sektor geben darf.[12] Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung schätzt die Situation so ein, dass ein Hinweis aus Karlsruhe in beiden Flugzeugen für Verwirrung gesorgt, den Zusammenstoß mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch nicht verhindert hätte.[2]
Unachtsamkeiten der Piloten
Die Boenig 737 flog als erste in den Luftraum, in dem die Kreuzung der Flugzeuge geplant war, ein. Wenige Minuten später meldete sich die Tupolev der Bashkirian-Airlines ebenfalls im Flugraum an und gab dabei die Flugdaten per Funk durch. Dies hat der Pilot der Boeing 737, Paul Phillips, ebenfalls hören können und hätte sich bewusst machen müssen, dass beide Maschinen noch immer auf der selben Flughöhe fliegen. Dies hätte als deutliches Warnsignal interpretiert werden müssen, sodass Phillips sofort die Flugsicherung hätte informieren müssen. [13]
Die Nachuntersuchungen ergaben, dass sich beide Crews nicht an die Empfehlungen des TCAS bzw. die Anweisungen des Fluglotsen gehalten haben. Beim TCAS-Kommando Increase Descend soll mit einer Sinkrate von mindestens 2.500 ft/min geflogen werden, die Boeing flog zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes jedoch nur noch mit knapp 2.400 ft/min. Die Crew der Tupolev wurde angewiesen, auf eine Flughöhe von 35.000 ft zu gehen. Zum Zeitpunkt der Kollision ist die Tupolev schon 110 ft unter der geforderten Flughöhe und fliegt mit einer Sinkrate von ca. 1200 ft/min.[14]
Kollisionswarnsystem
Das TCAS forderte die Tupolev zunächst auf, einen Steigflug (Climb) einzuleiten. Gleichzeitig wies Peter Nielsen die Mannschaft der Tupolev an, in den Sinkflug zu gehen und auf eine Höhe von 35.000 Fuß zu sinken. Die Mannschaft der Tupolev folge der Anweisung des Fluglotsen und ging in den Sinkflug. Dieser Widerspruch und der damit entstandene Interpretationsspielraum für Alexander Gross führten mit zur Kollision der Flugzeuge.
„Diese Systemphilosophie von TCAS sieht vor, dass man dem TCAS folgt und die Anordnung der Flugsicherung zweitrangig ist, in dem Falle also ignoriert werden muss.“
Grund für das Verhalten von Alexander Gross, nicht der TCAS-Empfehlung zu folgen, dürfte mangelnde Erfahrung mit dem System gewesen sein. Luftverkehrsrechtlich war die Situation zum Zeitpunkt des Unfalls nicht zwingend geregelt. So gab es zwar mehrere Empfehlungen, TCAS Resolution Advisories eine höhere Priorität zuzuschreiben, keine davon hatte jedoch offiziellen Stellenwert.
„Man muss sehen, dass man in einer Situation, wo einerseits ein mechanisches Gerät anspricht, andererseits eine gegensätzliche Anweisung einer menschlichen Stimme, von der man erwartet, dass sie den Luftraum beobachtet und betreut, erfolgt, muss man sich die Frage stellen, wie man selbst reagiert hätte. Die meisten Menschen würden antworten, dass sie wohl der menschlichen Stimme gefolgt wären, weil diese einfach näher und kompetenter klingt.“
Allerdings kommt ein weiterer Faktor zum Tragen: Laut TCAS-Benutzerhandbuch sind Flugmanöver, die dem TCAS-Manöver entgegengesetzt sind, verboten. Im Flugbetriebshandbuch der Bashkirian Airlines hingegen steht, dass die Anweisungen der Flugsicherungen das wichtigste Mittel zur Vermeidung von Kollisionen ist – eine eventuelle gleichzeitige TCAS Resolution Advisority bleibt bei diesen Erläuterungen völlig unberücksichtigt.
Während der fliegende Pilot (auch: Pilot flying) bei einer TCAS Resolution Advisory entsprechende Flugmanöver einleitet, nimmt der assistierende Pilot (auch: Pilot monitoring) sofort Kontakt zur Flugsicherung auf und informiert sie, dass sich die Maschine in einem TCAS CLIMB, also dem durch TCAS bedingten Steigflug, oder im TCAS DESCEND, im entsprechenden Sinkflug, befindet. [15] Erst um 23:35:19 Uhr und damit nur 13 Sekunden vor der Kollision bzw. 23 Sekunden nach dem TCAS Resolution Advisority führt die Crew diesen Schritt durch. Die BFU hält diese Reaktionszeit entsprechend der Anweisung aus dem Benutzerhandbuch von TCAS, dass diese Meldung as soon as practicable (so schnell wie möglich) gemacht werden muss, grundsätzlich für zu lang. Dennoch erfolgte die Meldung zum frühstmöglichen Zeitpunkt, da die Frequenz zur Flugsicherung vorher belegt war.[2]
Die Unfalluntersuchung kam zu dem Ergebnis, dass das TCAS der Boeing (anders als das der Tupolev) vermutlich nicht auf die größte Reichweite eingestellt war, so dass der Pilot erst sehr spät auf die Annäherung des zweiten Flugzeugs aufmerksam wurde. Die auf beiden Flugzeugen verwendete TCAS-Anzeige hat eine einstellbare Reichweite von bis zu 40 nautischen Meilen, die akustische Warnung erfolgt dagegen erst bei Unterschreiten der Mindestseparation von sieben Meilen. Nur so lässt sich auch erklären, dass sich der Co-Pilot der Boeing, Brent Campioni, kurz vor der ersten TCAS-Warnmeldung auf die Toilette begab und erst nach der Warnung ins Cockpit zurückgekehrt ist.[10] Somit war Phillips in einer entscheidenden Phase unter größten Stressbedingungen auf sich allein gestellt.
Nach einer Staffelungsunterschreitung am 31. Januar 2001 zweier Japan Airlines-Flügen[16] wurde ein Änderungsvorschlag zu TCAS (change proposal CP112) erlassen, der im Falle seiner vorherigen Umsetzung ein Reversal Resolution Advisory (ein entgegengesetztes Kommando als zuerst ausgegeben) gerichtet an die Crew der Boeing erlassen und so die hinreichende Staffelung wiederhergestellt hätte.[17].
Ermordung von Peter Nielsen
Am 24. Februar 2004 wurde der 36-jährige Peter Nielsen vom Osseten Witali Kalojew, dessen Frau und zwei Kinder beim der Kollision ums Leben gekommen waren, erstochen.[18] Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte den Täter wegen Totschlags zu acht Jahren Haft. Da die anschließend eingelegte Revision vom Kassationsgericht des Kantons Zürich teilweise gutgeheißen wurde, reduzierte das Obergericht die Strafe im Juli 2007 auf fünf Jahre und drei Monate, da Kalojew eine sehr geringe Zurechnungsfähigkeit zugeschrieben wurde. Die Staatsanwaltschaft kündigte kurz darauf an, vor das Bundesgericht zu gehen. Sie hatte ursprünglich zwölf Jahre Haft beantragt.[19]
Rechtliche Auseinandersetzungen
Bashkirian Airlines reichte 2005 Klage gegen Skyguide ein, gefolgt von einer Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland 2006 mit dem Vorwurf mangelnder Flugsicherung und -überwachung. Die geforderte Schadensersatzsumme für das zerstörte Flugzeug beläuft sich auf 2,6 Millionen Euro.
Nach einer Klage der Bashkirian Airlines gab das Konstanzer Landgericht am 27. Juli 2006 der Bundesrepublik Deutschland die alleinige Schuld am Unglück, da die Übertragung der Flugsicherung im süddeutschen Randbereich am Bodensee, siehe Karte des Fluginformationsgebiets für Deutschland, an das Schweizer Unternehmen Skyguide gesetzeswidrig und aufgrund ungültiger Verträge unwirksam sei; der Vertrag verstoße gegen das Grundgesetz, das besagt, dass die Luftverkehrsüberwachung in bundeseigener Verwaltung geführt werden müsse. Nach dem Urteil muss die Bundesrepublik Deutschland alle Schadensersatzansprüche aus diesem Unglück übernehmen, die Bundesregierung hat vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe Berufung gegen das Urteil eingelegt. Das Rechtsmittel wird vor dem 9. Zivilsenat der Außenstelle Freiburg verhandelt werden.
Nach dem Unglück begannen die Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaften Winterthur Unterland und Konstanz gegen die beiden diensthabenden Flugverkehrsleiter und weitere sieben Mitarbeiter von Skyguide wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und anderer Straftaten. Die Staatsanwaltschaft Winterthur reichte am 4. August 2006 vor dem Bezirksgericht Bülach Klage gegen die Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs ein. Aufgrund der Anklageerhebung und der schweizerischen Staatsbürgerschaft der Beschuldigten hat die Staatsanwaltschaft Konstanz am 7. August 2006 das Ermittlungsverfahren an die Schweizer Behörden abgegeben. Am 15. Mai 2007 begann vor dem Bezirksgerichts in Bülach bei Zürich der Strafprozess gegen acht Skyguide-Mitarbeiter. Am 4. September 2007 wurden die vier leitenden Angestellten unter den insgesamt acht Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. [20] [21]
Einzelnachweise und Anmerkungen
- ↑ a b Abendblatt: Die Unglückspiloten von Überlingen
- ↑ a b c d e Offizieller Flugunfalluntersuchungsbericht der BFU
- ↑ Mitteldeutsche Zeitung: Der Ablauf der Unglücksnacht von Überlingen
- ↑ offizielle Flugunfalluntersuchung, Anlage 3: Darstellung der letzten Minute
- ↑ siehe Homepage: http://www.integrierteleitstellebodensee.de
- ↑ a b c Seite der Feuerwehr Owingen zum Flugzeugabsturz
- ↑ a b Seite der Freiwilligen Feuerwehr Überlingen zum Flugzeugabsturz
- ↑ a b Abschlussbericht der FFW Überlingen
- ↑ Pressebericht der Feuerwehr Überlingen
- ↑ a b ZDF: Tod über den Wolken (Dokumentation zum Unfall)
- ↑ Siegfried Niedek, Flugsicherheitsexperte
- ↑ Marek Kluzinak, Gewerkschaft für Flugsicherung
- ↑ Elmar Giemuella, Luftrechtsexperte
- ↑ Flugunfalluntersuchung: Anlage 5b (Auswertung der Flugschreiberdaten)
- ↑ Markus Kirschnek, Vereinigung Cockpit
- ↑ IACO Bericht zu der Staffelungsunterschreitung zwischen JA8904 und JA8546 am 2001-01-31
- ↑ BFU Bericht
- ↑ Wenn der Reporter wie ein Detektiv arbeitet, Abendblatt
- ↑ Strafreduzierung für Fluglotsenmörder, swissinfo.org
- ↑ „Vier Schuldsprüche“ n-tv.de, 4.September 2007
- ↑ „Keiner darf sich entschuldigen“ Spiegel Online, 4. September 2007
Literatur
- Ariane Perret: Kollision aus heiterem Himmel – Die Flugzeugkatastrophe von Überlingen, Mai 2007, ISBN: 3280060982