Différance

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Der vom französischen Philosophen Jacques Derrida geprägte Neologismus Différance ist ein Schlüsselwort des Dekonstruktivismus, an den eine über den üblichen Vorgang des Lesens hinausgehende Rezeptionsvorschrift gekoppelt ist (diese Vorschrift ist im nächsten Absatz erläutert). Durch die Existenz der Vorschrift vermittelt Différance in einer ungewöhnlichen Weise den Gedanken, den es bezeichnet: Différance kann ohne oder unter Verwendung der Lesevorschrift gelesen werden, wobei die eine Lesart aber jeweils nur zugunsten der anderen zurückgestellt wird, bis sie vom Bewusstsein wieder in der Vordergrund gezogen wird, so Derrida. Die Différance verallgemeinert damit ein Phänomen, das optisch an den sog. Kippbildern sichtbar wird.

Differance sei zunächst identisch mit Différence, was die substantivierte Form der Verben différencier (frz. "einen Unterschied setzen") und différer (hier: "aufschieben") ist. Durch Veränderung des Suffix zum passivischen -ance geht das Wort vom Begriffspaar Unterschied/Aufschub zum Begriffspaar Unterschiedenes/Aufgeschobenes über.

Die Leservorschrift besteht darin, sich - mittels des Widerspruchs bezüglich der Schreibweise mit a jedoch der Betonung als e - die beiden unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffspaare jeweils ins Gedächtnis zu rufen:

Differance als Differ{a,e}nce.

Das Hin- und Herschwanken der Wahrnehmung als symbolisches Kippbild.

Einige resultierende Fragen

Beim Verinnerlichen der Lesevorschrift entsteht ein bewusster Moment, der augenscheinlich werden lässt, wie das Bewusstsein neue Begriffe quasi schluckt.

Eine klassische Reaktion besteht darin zu fragen, ob es sinnvoll ist, alles zu schlucken, was ein Mensch zu lernen aufgefordert ist, eine Frage, die in bezug auf das Prinzip von Freiheit sicher negativ zu beantworten ist.

Derrida schärft das Bewusstsein, in dem er aufhorchen lässt, dass Begriffe wirken und Wirklichkeit beeinflussen.

Zuletzt liegt in der Différance der Différance eine ernst zunehmende Warnung: da sich Zeit nicht zurückdrehen lässt, existiert sie nicht, die Différance der Différance. Anders ausgedrückt, Unschuld kehrt nie zurück.

Weitere Schlussfolgerungen

Derrida sieht in diesem Phänomen die Wirkweise der Kommunikation, dessen paradoxer Mechanismus als eine "Ur-Schrift" gelten soll, die die Bedeutung jeder kulturellen und geistigen Handlung erzeugt. Der zweifache Akt der Dekonstruktion im Spannungsfeld von zeitlicher und räumlicher Verschiebung wird damit symbolisch nachgezeichnet.

Ferdinand de Saussures Auffassung, es gäbe in der Sprache nur Differenzen ohne positive Einzelglieder, wird in Différance radikalisiert. Das System sprachlicher Differenzierungen ist damit nicht mehr an Signifikate gebunden, wie z. B. an das Bedeutung tragende Phonem. Vielmehr wird aus der Vorstellung von Arbitrarität, d. h. der Willkürlichkeit von Zeichen, hier der Prozess von fortwährendem Sich-Unterscheiden (durch Aufschub, Zurückweisung, Umwege usw.) und von gegenseitigen Verweisen der Signifikanten, ein Spiel der Differänzen ohne erkennbares Zentrum und klar auszumachende Hierarchien. Bedeutung ist darin immer relational, niemals sich selbst konstituierend, da Différance sowohl die Wurzel von Unterschieden als auch Vorbedingung aller Bedeutungen und Strukturen ist.

Derrida steht mit seinem Gedanken in der Tradition Martin Heideggers wie auch Ludwig Wittgensteins. Darum ist Différance nach seiner eigener Zielsetzung auch weder nur strukturalistisch noch nur genetisch zu interpretieren, diese Unterscheidung wäre wiederum eine Wirkung von Différance. Eine besondere Tragweite erlangte Différance so als Ausgangspunkt für die Selbstkritik des Feminismus und den daraus entwickelten Ansatz der Gender Studies, da der Glaube an eine gemeinsame weibliche Identität bzw. an "das Weibliche" als Ergebnis von Denken in dichotomen Logikmodellen durch die Dekonstruktion grundlegend in Frage gestellt wurde.

Siehe auch: Dekonstruktivismus, Dekonstruktion Roman, Postmoderner Roman, Intertextualität, Geschlechterdifferenz, écriture, Schrift, Grammatologie, queer, Jacques Lacan, Julia Kristeva, Jacques Derrida, Gerhard Anna Concic-Kaucic,

Literatur

  • Jacques Derrida : La différance. In : Théorie d'ensemble, S. 41?66. Seuil, Paris 1968
  • Richard Rorty: Dekonstruieren und Ausweichen. In: Eine Kultur ohne Zentrum. Reclam, Stuttgart 1993. S. 139