Die semitischen Sprachen sind ein Zweig der afroasiatischen Sprachfamilie. Sie werden heute von ca. 260 Millionen Menschen im Nahen Osten, in Nordafrika und am Horn von Afrika gesprochen. Die wichtigsten semitischen Sprachen sind Arabisch, Hebräisch, Aramäisch, eine Reihe von in Äthiopien gesprochenen Sprachen wie Amharisch sowie zahlreiche ausgestorbene Sprachen des Alten Orients wie Akkadisch.
Zur Bezeichnung
Die Bezeichnung „semitisch“ wurde 1781 von Philologen August Ludwig von Schlözer geschaffen. Sie lehnt sich an die biblische Person Sem an, der im Alten Testament als Stammvater der Aramäer, Assyrer, Elamiter, Chaldäer und Lyder erwähnt wird (Gen 10,21-31 EU). Während mittlerweile die Bezeichnung „semitisch-hamitisch“ – „hamitisch“ wurde analog zu semitisch in Anlehnung an Ham geschaffen – für die übergeordnete Sprachfamilie durch „afroasiatisch“ ersetzt wurde, hat sich der Name „semitisch“ fest eingebürgert.
Geografische Verbreitung
Im Altertum waren die semitischen Sprachen noch im wesentlichen auf das Gebiet des Vorderen Orients beschränkt. Im 1. Jahrtausend erlebten sie dann eine räumliche Verbreitung auf den afrikanischen Kontinent, als sich in Äthiopien semitische Sprachen verbreiteten und das Arabische durch die Islamische Expansion im 7. Jahrhundert über ganz Nordafrika verbreitete. Heute umfasst das semitische Sprachgebiet den Nahen Osten, das Horn von Afrika, Nordafrika und mit der Insel Malta sogar einen kleinen Teil Europas.
Altertum
Im Mesopotamien des Altertums sprach man ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. Akkadisch. Als Sprache der internationalen Korrespondenz wurde es bishin nach Ägypten benutzt. Nah mit dem Akkadischen verwandt war das in Syrien gesprochene Eblaitische. Im Laufe des 1. Jahrtausends v. Chr. starb das Akkadische als gesprochene Sprache aus, konnte sich aber noch bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. als Schriftsprache halten.
Nur sehr fragmentarisch ist das Amurritische überliefert, das nur durch die Personennamen der Amurriter aus der Zeit zwischen 2000 und 1500 v. Chr. bekannt ist. Aus dem Norden der Levante ist das Ugaritische durch umfangreiche Inschriftenfunde aus der Zeit zwischen 1400 und 1190 v. Chr., die man in der Stadt Ugarit fand, überliefert. In Kanaan sprach im Altertum man die kanaanäischen Sprachen. Hierzu gehörte das Hebräische, die Sprache der israelitischen Stämme, in der das Alte Testament verfasst ist. Als gesprochene Sprache starb es wohl in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. (vielleicht aber auch erst im 2. Jahrhundert n. Chr.) aus. Es blieb aber als Sprache des Judentums als Schriftsprache erhalten. Das Phönizische wurde ursprünglich im heutigen Libanon (Tyros, Byblos, Sidon) von den Phöniziern gesprochen. Durch die phönizische Kolonisation verbreitete sich ihre Sprache in Form des Punischen nach Nordafrika (vor allem Karthago). Dort blieb es bis in das 6. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch. Kleinere, nur durch Inschriften belegte kanaanäische Sprachen waren das Moabitische, Ammonitische und Edomitische.
Aramäisch war ursprünglich nur in einigen Stadtkönigreichen in Syrien verbreitet. Die Sprachform jener Zeit bezeichnet man als Altaramäisch. Nachdem die aramäischen Königreiche im 8. Jahrhundert v. Chr. von den Assyrern erobert wurden, wurde das Aramäische in Form des Reichsaramäischen zur Verwaltungssprache zunächst im Neuassyrischen Reich sowie später im Neubabylonischen Reich (610-539 v. Chr.) und im Achämenidenreich (539-333 v. Chr.). Dadurch verbreitete es sich im gesamten Vorderen Orient als Lingua franca. Durch die islamische Expansion wurde das Aramäische zurückgedrängt, doch blieb das Mittelaramäische (200 v. Chr. - 300 n. Chr.) durch den Targum und das Spätaramäische (300-1200), insbesondere das Altsyrische als Sprache der Orientalischen Kirchen, für Juden und Christen im Nahen Osten von Bedeutung.
Die Stämme der Arabischen Halbinsel sprachen im Altertum Altarabisch, eine Vorläufersprache des heutigen Arabischen (in der Semitistik im Abgrenzung zum Alt- und Neusüdarabischen auch als Nordarabisch bezeichnet). Zu den altarabischen Dialekten gehören Thamudisch, Lihjanisch, Safaitisch und Hasaitisch. Die Sprache des Alten Südarabiens war das Altsüdarabische. Dieses ist durch Inschriften aus der Zeit zwischen dem 8. Jahrhundert v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. überliefert und teilt sich in die Sprachformen Sabäisch, Minäisch, Qatabanisch und Hadramautisch. Das Altsüdarabische wurde im Zuge der Islamischen Expansion durch das Arabische verdrängt.
Gegenwart
Heute ist das Arabische mit ca. 230 Millionen Sprechern mit Abstand die größte aller semitischen Sprachen. Sein Sprachgebiet erstreckt sich zwischen Mauretanien und Oman. In insgesamt 25 Staaten der Arabischen Welt dient es als Amtssprache. Die arabischsprachigen Länder befinden sich in einer ausgeprägten Diglossie-Situation: Während die arabische Schriftsprache auf dem Klassischen Arabischen des 8. Jahrhunderts beruht, dienen als Umgangssprache die regional unterschiedlichen arabischen Dialekte (auch: Neuarabisch). Auch das Maltesische, die einzige in Europa gesprochene semitische Sprache, ist ursprünglich aus einem arabischen Dialekt hervorgegangen. Als Sprache des Korans hat das Arabische auch in nicht-arabischsprachigen Ländern der islamischen Welt Verbreitung erfahren.
Trotz seiner weitaus kleineren Sprecherzahl ist das Hebräische durch die Bedeutung die ihm als Sprache des Alten Testaments für das Judentum und Christentum zukommt ähnlich bedeutsam wie das Arabische. Im 19. Jahrhundert wurde es von jüdischen Intellektuellen in Form des Neuhebräischen (Iwrit) als gesprochene Sprache wieder zum Leben erweckt. Seit 1948 ist Hebräisch die Amtssprache von Israel. Heute wird es von ca. 5 Millionen Menschen gesprochen.
Obwohl das Aramäische viel von seiner einstigen Bedeutung verloren hat, hat es als gesprochene Sprache bis heute überlebt. Insgesamt gibt es über den Nahen Osten verstreut ca. 500.000 Aramäisch-Sprecher. Das Neuwestaramäische wird noch von ca. 10.000 Menschen in drei Dörfern in Syrien gesprochen. Zu den neuostaramäischen Sprachen gehören unter anderem Turoyo (50.000 Sprecher) und Neumandäisch.
Im Süden der Arabischen Halbinsel, im Jemen und in Oman spricht man die neusüdarabischen Sprachen. Diese sind trotz ihres Namens weder mit dem Altsüdarabischen noch dem (Nord-)Arabischen näher verwandt, sondern bilden einen eigenständigen Zweig der semitischen Sprachen. Die sechs neusüdarabischen Sprachen Mehri, Dschibbali, Harsusi, Bathari, Hobyot und Soqotri haben insgesamt ca. 200.000 Sprecher, die größte Sprache ist Mehri mit 100.000.
In Äthiopien und in Eritrea ist eine größere Zahl semitischer Sprachen vom Zweig der äthiosemitischen Sprachen verbreitet, die insgesamt von ca. 25 Millionen Menschen gesprochen werden. Die größte äthiosemitische Sprache und die zweitgrößte semitische Sprache überhaupt ist Amharisch, die Nationalsprache Äthiopiens, mit ca. 15 Millionen Sprechern. Tigrinya ist neben Arabisch Amtssprache in Eritrea und hat ca. 5 Millionen Sprecher. Ebenfalls in Eritrea verbreitet ist Tigré (0,8 Millionen Sprecher). Die klassische Sprache Äthiopiens ist das mittlerweile ausgestorbene Ge'ez.
Klassifikation
Die semitischen Sprachen werden traditionell in folgende Gruppen eingeteilt: Ostsemitisch, Nordwestsemitisch und Südsemitisch. Seit etwa 1985 wird in der Nachfolge R. Hetzrons eine alternative Einteilung immer wahrscheinlicher, die das Nordwestsemitische und die nordarabischen Dialekte zu einem "Zentralsemitisch" zusammenfasst.
- Ostsemitisch (ausgestorben)
- Akkadisch (ausgestorben)
- Babylonisch (ausgestorben)
- Assyrisch (ausgestorben)
- Eblaitisch (ausgestorben, Zuordnung umstritten)
- Akkadisch (ausgestorben)
- "Zentralsemitisch"
- Nordwestsemitisch
- Amurritisch (ausgestorben)
- Ugaritisch (ausgestorben)
- Kanaanäisch (ausgestorben)
- Phönizisch-Punisch (ausgestorben)
- Moabitisch (ausgestorben)
- Ammonitisch (ausgestorben)
- Hebräisch
- Alt-Bibelhebräisch
- Biblisches Hebräisch
- Rabbinisches Hebräisch
- Neuhebräisch (Iwrit) (heute wieder gesprochen)
- Aramäisch (Aramäer, auch als Gelehrten-, Handels- und Sakralsprache)
- Westaramäische Dialekte
- Nabatäisch (ausgestorben)
- Palmyrenisch (ausgestorben)
- Jüdisch-Aramäisch (Sprache der Targume, des Palästinischen Talmuds und einiger Midraschim)
- Samaritanisch (ausgestorben)
- Christlich-Palästinisch
- Neuwestaramäisch (in Maalula in Syrien heute noch gesprochen)
- Ostaramäische Dialekte
- Syrisch
- Jüdisch-Babylonisch-Aramäisch (Sprache des Babylonischen Talmud)
- Mandäisch
- Neuostaramäisch auch Aramoyo genannt (heute noch gesprochen)
- Westaramäische Dialekte
- Nordarabische Sprachen
- Frühnordarabisch (ausgestorben)
- Oasennordarabisch: Saudi-Arabien, Syrien (ausgestorben)
- Safaitisch (ausgestorben)
- Hismaisch (ausgestorben)
- Thamudisch (ausgestorben)
- Hasaitisch (ausgestorben)
- Klassisches Arabisch (Literatur- und Sakralsprache)
- moderne arabische Dialekte
- Maltesisch (auf Malta gesprochen, mit modernen maghrebinischen Dialekten verwandt)
- Frühnordarabisch (ausgestorben)
- Nordwestsemitisch
- Südsemitisch
- Äthiosemitische Sprachen
- Nordäthiosemitische Sprachen
- Ge'ez (im Alltag ausgestorben – hat noch als Sakralsprache Bedeutung)
- Tigrinya
- Tigre
- Dahlik
- Südäthiosemitische Sprachen
- Nordäthiosemitische Sprachen
- Südarabisch
- Altsüdarabisch
- Sabäisch (ausgestorben)
- Minäisch (ausgestorben)
- Ausanisch (ausgestorben)
- Qatabanisch (ausgestorben)
- Hadramitisch (ausgestorben)
- Neusüdarabisch
- Altsüdarabisch
- Äthiosemitische Sprachen
Sprachliche Merkmale
Typische Merkmale aller semitischen Sprachen sind:
- in der Phonologie: das Auftreten zahlreicher Kehl- und emphatischer Laute.
- in der Formenlehre:
- die Verwendung einer aus drei Radikalen bzw. Konsonanten bestehenden Wortwurzel zur Bildung von Wörtern (Triradikalität).
- die Verwendung eines bestimmten Artikels vor bzw. nach Substantiven.
- die Verwendung des Status constructus zur Verbindung von zwei oder mehreren Substantiven (siehe hierzu hebräische Sprache).
Substantive in semitischen Sprachen kennen zwei Nominalklassen bzw. Genera, die üblicherweise maskulin und feminin genannt werden. Neben Plural und Singular gibt es in vielen Fällen noch den Dual ("Zweizahl"). Das klassische Arabisch verwendet diese Form in sämtlichen Substantiven und Verben, im Hebräischen hingegen wird sie nur für in der Regel als Paar auftretende Gegenstände verwendet (Augen, Hände etc.).
Verben in semitischen Sprachen unterscheiden ursprünglich nur die Aspekte vollendet (perfekt) oder unvollendet (imperfekt). Dafür drücken verbale Ableitungen semitischer Stammformen verschiedene Modifikationen aus, beispielsweise die Intensivierung (im Deutschen selten: stechen – sticheln, streichen – streicheln), die Veranlassung in kausativen Verben (im Deutschen z. B.: fallen – fällen oder trinken – tränken), oder die rückbezügliche Beziehung in reflexiven Verben. Ansonsten kennen semitische Sprachen Entsprechungen für Aktiv und Passiv, Imperativ, Verbalsubstantiv usw. wie andere Sprachen auch.
Im Unterschied zum Deutschen können die Personalpronomen nicht nur selbständig auftreten, sondern auch mit dem Wort, auf das sie sich beziehen, verschmolzen werden. Dies hat nicht nur orthographische Konsequenzen, da sich das 'Anhängen' auf die gesamte Wortform verändernd auswirkt. (vergleiche biblisches Hebräisch: שָׁמַר schamar = behüten, שָׁמְרֵנִי schomreni = behüte mich). Auch der Artikel, einige Konjunktionen, das Wort für und sowie einige Präpositionen sind nicht selbständig, sondern bilden eine Proklise zu dem Wort, auf das sie sich beziehen.
Schriften
Den Alphabeten oder Abjaden der semitischen Sprachen (außer den semitischen Sprachen Äthiopiens, dem Mandäischen und dem Maltesischen) ist gemein, dass sie nur Konsonanten benennen, während die Vokale im geschriebenen Text meist nicht bezeichnet werden, des Weiteren in vielen Fällen die Schreibweise von rechts nach links.
Literatur
- Gotthelf Bergsträsser: Einführung in die semitischen Sprachen. Sprachproben und grammatische Skizzen. Nachdruck, Darmstadt 1993.
- Carl Brockelmann: Grundriss der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen, Bd. 1-2, Berlin 1908/1913.
- Robert Hetzron (Hrsg.): The Semitic Languages. Routledge, London 1997.
- Burkhart Kienast: Historische semitische Sprachwissenschaft. Harrassowitz, Wiesbaden 2001.
- Sabatino Moscati (Hrsg.): An introduction to the comparative grammar of the Semitic languages. 2. Auflage. Harrassowitz, Wiesbaden 1969.