Die Sozialpolitik eines reichen Landes
Die Schweizer Sozialpolitik als solche eines reichen Landes unterscheidet sich naturgemäss von jener armen Staaten. Die Sicherung des nackten Überlebens steht naturgemäss in der Regel nicht (mehr) im Vordergrund. Dazu kommt, dass das soziale Existenzminimum einen "ordentlichen" Lebensstandard zu garantieren versucht. Deshalb nennt sich diese Art von Existenzminimum eben soziales Existenzminimum. Der in einem reichen Land übliche Lebensstandard wird zu Recht als Masstab genommen.
Sozialpolitik strebt stets die Gewährung von sozialer Sicherheit und die Hebung des allgemeinen Wohlstandes an. In der schweizerischen Bundesverfassung ist dies im sogenannten Zweckartikel der Verfassung umschrieben (Art. 2 BV). Etwas konkreter wird die Verfassung in Art. 41 BV mit den 1998 neu in die Verfassung aufgenommenen Sozialzielen. Die soziale Sicherheit ist also das Hauptziel, aber nicht das alleinige Ziel der Sozialpolitik.
Typologie des schweizerischen Sozialstaats
Jedes Land, jede Zeit hat die Sozialpolitik, die ihm, die ihr entsprechen (vgl. soziale Gerechtigkeit, Solidarität). Der Begriff an und für sich ist unscharf (ähnlich wie der Begriff der Armut). In der Lehre werden verschiedene Sozialstaatstypen unterschieden: einerseits der Sozialversicherungsstaat nach Bismarck, andererseits der Versorgungsstaat nach Beveridge. Reine Typen existieren in der Praxis nicht in reiner Form.
Bei der systematischen Zuordnung der Schweiz in die bestehenden Sozialstaatstypologien kann bei ihr von einem Sozialversicherungsstaat der politischen Mitte ausgegangen werden. In diesem Mischsystem dominiert der Grundsatz, wonach die Versicherten mit ihren Beiträgen die Mittel für den Risikoausgleich im Wesentlichen selber aufbringen. Rechtsansprüche garantieren den Leistungsbezug, ohne dass die Bedürftigkeit nachgewiesen werden muss. Die Sozialhilfe springt nur bei Lücken im Netz der Sozialversicherungen ein: Sie wirkt subsidiär.
Diesem Aspekt trägt das schweizerische System der sozialen Sicherheit mit seiner starken Betonung der Eigenverantwortung und mit verschiedenen Anreizsystemen verhältnismässig gut Rechnung(in der sozialen Krankenversicherungen zum Beispiel sind die Eigenleistungen der Versicherten nirgends so hoch wie in der Schweiz, Selbstbehalte, Franchisen, keine Vergütung von Zahnarztkosten, tiefe Vergütung von Pflegekosten usw. - vgl. Gesundheitswesen Schweiz). Die Eigenverantwortung drückt sich in der stark ausgeprägten Beitragspflicht deutlich aus. Der Eigenverantwortung wird zudem im Prinzip der Subsidiarität hohe Bedeutung beigemessen (so hat eine OECD-Studie vor einigen Jahren klar gezeigt, dass die Leistungen der Sozialhilfe in der Schweiz zwar verhältnismässig hoch sind, aber auch höhere Zugangsbarrieren bestehen als in anderen Ländern - Rückerstattungspflicht bezogener Leistungen aus Arbeitserwerb, Verwandtenunterstützungspflicht usw.).
Kurzer geschichtlicher Abriss
Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg hat in der Schweiz zu einer ungeheuren Verbesserung der Lebenslage weiter Bevölkerungsschichten geführt. Die Einrichtungen der sozialen Sicherheit haben wesentlich dazu beigetragen. Die Sozialpolitikerinnen und -politiker waren von zwei Hauptzielen geleitet, nämlich der Sicherung des Existenzbedarfs einerseits und der Weiterführung des bisherigen Lebensstandards – in einem gewissem Umfange – bei Ausfall des Erwerbseinkommens und bei besonderen Aufwendungen wegen Krankheiten, Invalidität und für Familienlasten andererseits.
Hierzu wurden für häufige und klar umrissene Risiken Sozialversicherungen geschaffen. Die Politik folgte dabei keiner Gessamtschau. Für die Existenzsicherung im Alter wurde 1948 die Alters- und Hinterlassenversicherung (AHV) und 1960 die Invalidenversicherung (IV) eingeführt. Da die Leistungen der AHV und IV nicht existenzsichernd waren, wurde 1966 das soziale Entschädigungssystem der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV eingeführt, das Altersarmut wirksam bekämpft. Bei der Finanzierung von Aufenthalten in Alters- und Pflegeheimen haben die Ergänzungsleistungen zur AHV im Resultat die Funktion einer Heimpflegeversicherung übernommen (vgl. soziales Entschädigungsrecht, Pflegeversicherung).
Gegenwart/Perspektiven
Trotz des offensichtlichen Ausbaus der sozialen Sicherheit sind Armut und Not auch in der reichen Schweiz - wie in den übrigen modernen Industriestaaten - nicht verschwunden. Die Verdoppelung der Sozialhilfeausgaben im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stellt ein klares Indiz für die Verschlechterung der sozialen Lage vieler Menschen dar. Die Wissenschaft spricht von einer Armutsquote in der Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts von 5–10 % der Bevölkerung: Die grösste Ursachenquelle für Verarmung stellt die Erwerbslosigkeit (Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit) dar. Knapp 30 % der erwerbslosen Menschen müssen als arm bezeichnet werden. Geschiedene Frauen (mit oder ohne Kinder) sowie alleinerziehende Elternteile sind ähnlich stark betroffen (20 % der ganzen Gruppe). Kinderreichtum (drei und mehr Kinder) erhöhen das Armutsrisiko überdurchschnittlich (Armutsquote von rund 15 %). Wird nur die Haushaltsgrösse betrachtet, sind – unberücksichtigt vom Zivilstand – alleinstehende Männer mit gut 16 % stärker armutsgefährdet als alleinstehende Frauen mit knapp 12 %.
Für einen verhältnismäßig kleinen, jedoch wachsenden Teil der Bevölkerung bietet in der Gegenwart und für die nächste Zukunft das ausgebaute System von Sozialversicherungen keine genügende soziale Absicherung (mehr). Die Vorsorgesysteme (berufliche Vorsorge, Unfallversicherung - vgl. SUVA) und teilweise auch die Systeme der Volksversicherungen (AHV/IV) knüpfen nämlich meist an die sogenannte Vorsorgegeschichte an. Soziale Sicherheit wird nur jenen gewährleistet, die mit ihren Beiträgen aus dem erzielten Erwerbseinkommen in das jeweilige System einbezahlt haben. Menschen ohne regelmässiges Einkommen oder mit zu geringem Einkommen (Working Poor), Menschen mit Unterbrüchen in der Einkommensbiographie (oft sind dies Frauen) sind in ihrer Vorsorgefähigkeit zunehmend eingeschränkt.
Überblick zu den Bundesgesetzen (BG) der einzelnen Sozialversicherungen (Rechtsgrundlagen)
a) Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge – BG über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 20. Dezember 1946 (AHVG) – BG über die Invalidenversicherung vom 19. Juli 1959 (IVG) – BG über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung vom 19. März 1965 (ELG) – BG über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 25. Juni 1982 (BVG) – BG über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 17. Dezember 1993 (FZG)
b) Kranken- und Unfallversicherung – BG über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 (KVG) – BG über die Unfallversicherung vom 20. März 1981 (UVG)
c) Militärversicherung und Erwerbsersatzordnung – BG über die Militärversicherung vom 19. Juni 1992 (MVG) – BG über die Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende in der Armee, Zivildienst und Zivilschutz vom 25. September 1952 (EOG)
d) Familienschutz – BG über die Familienzulagen in der Landwirtschaft vom 20. Juni 1952 (FLG)
e) Arbeitslosenversicherung – BG über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung vom 25. Juni 1982 (AVIG)
Einzelne Aspekte