Konrad Lorenz

österreichischer Biologe (Verhaltensforscher) und Nobelpreisträger für Medizin
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Prof. Dr. med. Dr. phil. Konrad Zacharias Lorenz (* 7. November 1903 in Wien; † 27. Februar 1989 ebenda) war einer der herausragenden Vertreter der vergleichenden Verhaltensforschung; ein heute gebräuchlicheres Synonym ist Ethologie. Konrad Lorenz selbst nannte dieses Forschungsgebiet bis 1949 "Tierpsychologie" und wird in Deutschland als dessen Gründervater angesehen; der "Spiegel" bezeichnete ihn einmal als den "Einstein der Tierseele". Für seine Leistungen wurde ihm 1973 gemeinsam mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen der "Nobelpreis für Physiologie oder Medizin" zugesprochen: für ihre Entdeckungen betreffend den Aufbau und die Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltenselementen (im Original: "for their discoveries concerning organization and elicitation of individual and social behaviour patterns").

Zur Veranschaulichung seiner Grundüberzeugung, das Verhalten der Tiere werde vor allem durch innere Triebenergien und weniger durch äußere Auslöser gesteuert, entwickelte Konrad Lorenz ein (gegen behavioristische Anschauungen opponierendes) anschauliches und daher Jahrzehnte lang akzeptiertes psychohydraulisches Instinktmodell: Triebenergien können sich diesem Modell zufolge - ähnlich wie das Wasser in einem Wasserleitungsnetz - in bestimmten Bahnen ausbreiten, aufstauen und überlaufen. Heute gilt diese Theorie unter Verhaltensforschern als überholt und wurde u.a. ersetzt durch soziobiologische, verhaltensökologische und an der Computertechnik orientierte Modelle.

Konrad Lorenz wurde in den 1950er Jahren weit über die Grenzen seines Fachgebietes hinaus bekannt, als er seine Studien (u.a. an Graugänsen), verpackt in unterhaltsame und anekdotenreiche Tiergeschichten, auch für naturwissenschaftliche Laien, ja sogar für Kinder zugänglich machte. Seit den 1960er Jahren stieg seine Bekanntheit durch diverse engagierte populärwissenschaftliche Publikationen - u.a. "Das sogenannte Böse" (1963) und "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" (1973) - weiter an: mit der Folge, dass er in der Öffentlichkeit zunehmend als Kulturpessimist und Philosoph wahrgenommen wurde; geprägt sind diese Schriften von seiner tiefen Überzeugung, dass auch das Verhalten des Menschen sehr weitgehend durch biologische, stammesgeschichtliche Vorgaben bestimmt wird. Immer wieder und heftig kritisiert wurde Konrad Lorenz, weil er häufig einzelne Phänomene aus der Tierwelt unmittelbar auf menschliche Handlungsweisen übertrug und gleichzeitig menschliche Eigenschaften ohne jede experimentelle oder sonst nachvollziehbare Begründung in Analogie zu einzelnen Phänomenen aus dem Tierreich setzte ("Anthropomorphismus").


Werdegang

  • 1922 Medizinstudium an der Premedical School der Columbia University in New York
  • 1923-1928 Medizinstudium an der Universität Wien
  • 1927 Hochzeit mit der Medizinstudentin Margarethe Gebhardt (mit der K. Lorenz seit seinem dritten Lebensjahr befreundet war und deren späteres Einkommen als Ärztin ihm bis 1951 den finanziellen Rückhalt für seine Studien gab)
  • 1928 Promotion in Wien zum Dr. med.
  • 1928 und 1931-1935 Assistenz bei Prof. Ferdinand Hochstetter am II. Anatomischen Institut der Universität Wien (dessen Spezialgebiet, die vergleichende Anatomie, ein Magnet für deutsch-nationale und völkisch gesinnte Studenten war)
  • 1933 zweite Promotion, zum Dr. phil. im Fach Zoologie in Wien
  • 1935 im Journal für Ornithologie erscheint der epochemachende Aufsatz: „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“
  • 1936 Habilitation; ab 1937 Lehrbefugnis für „Zoologie mit besonderer Berücksichtigung der vergleichenden Anatomie und Tierpsychologie“ an der Universität Wien (die erste akademische Lehrbefugnis ihrer Art in Österreich)
  • 1937 mehrmonatige gemeinsame Forschung mit Nikolaas Tinbergen an Graugänsen in seinem Heimatort Altenberg bei Wien
  • 1938 Antrag auf Aufnahme in die NSDAP („Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist ... Schließlich darf ich wohl sagen, daß meine ganze wissenschaftliche Lebensarbeit ... im Dienste Nationalsozialistischen Denkens steht.“)
  • 1940 Berufung zum ordentl. Professor für Psychologie in Königsberg, Leiter des Instituts für vergleichende Psychologie
  • 1941-1944 Soldat; 1942 Heerespsychiater im Lazarett in Posen (mit bis heute nicht völlig geklärten Aufgaben), Mitarbeit an einer rassekundlichen Studie an „Posener deutsch-polnischen Mischlingen und Polen“, als deren Erkenntnis von den Hauptautoren u.a. eine „vitale Triebhaftigkeit“ der Polen im Gegensatz zu typisch deutschen Charakterzügen wie „Gründlichkeit“ festgestellt wurde
  • 1944-1948 Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion
  • 1949 Veröffentlichung des Buches „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ zwecks Finanzierung seines Lebensunterhalts und seiner Forschung
  • 1950 die Max-Planck-Gesellschaft richtet in Buldern / Westfalen eigens für K. Lorenz eine „Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung“ ein, als Außenstelle des Max Planck-Instituts für Meeresbiologie Wilhelmshaven (u.a. um Abwerbeversuche aus England zu kontern)
  • 1955 Baubeginn des Max-Planck-Institus für Verhaltensphysiologie am Eßsee in Oberbayern (später erhielt diese Örtlichkeit den Namen „Seewiesen“); dort stv. Direktor unter Erich von Holst und nach dessen frühem Tod ab 1961 Direktor bis 1973
  • 1957 Ernennung zum Honorarprofessor für Zoologie an der Universität München
  • 1973 zwei weitere Bestseller erscheinen: „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ und das philosophische Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“
  • 1978 unmittelbar vor seinem 75. Geburtstag wird Lorenz zur Galionsfigur des erfolgreichen österreichischen Volksbegehrens gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf
  • 1988 sein letztes großes Werk erscheint: „Hier bin ich - wo bist Du?“, eine genaue ethologische Beschreibung von Graugänsen als Zusammenschau von rund 60 Jahren intensiver Verhaltensbeobachtung

Konrad Lorenz' Karriere im Nationalsozialismus

Konrad Lorenz behauptete wie viele andere Österreicher und Österreicherinnen nach der Niederschlagung des NS-Regimes nie der NSDAP beigetreten zu sein (er berief sich darauf, dass sein Mitgliedsausweis nie zugestellt wurde). Sein Ansuchen um Aufnahme in die Partei spricht aber klare Worte:

Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist und aus weltanschaulichen Gründen erbitterter Feind des schwarzen Regimes (nie gespendet oder geflaggt) und hatte wegen dieser auch aus meinen Arbeiten hervorgehenden Einstellung Schwierigkeiten mit der Erlangung der Dozentur. Ich habe unter Wissenschaftlern und vor allem Studenten eine wirklich erfolgreiche Werbetätigkeit entfaltet, schon lange vor dem Umbruch war es mir gelungen, sozialistischen Studenten die biologische Unmöglichkeit des Marxismus zu beweisen und sie zum Nationalsozialismus zu bekehren. Auf meinen vielen Kongress- und Vortragsreisen habe ich immer und überall mit aller Macht getrachtet, den Lügen der jüdisch-internationalen Presse über die angebliche Beliebtheit Schuschniggs und über die angebliche Vergewaltigung Österreichs durch den Nationalsozialismus mit zwingenden Beweisen entgegenzutreten. Dasselbe habe ich allen ausländischen Arbeitsgästen auf meiner Forschungsstelle in Altenberg gegenüber getan. Schließlich darf ich wohl sagen, daß meine ganze wissenschaftliche Lebensarbeit, in der stammesgeschichtliche, rassenkundliche und sozialpsychologische Fragen im Vordergrund stehen, im Dienste Nationalsozialistischen Denkens steht!

Am 1.9.1940 wurde Konrad Lorenz überra­schend für die psychologische Fachwelt zum ordent­lichen Professor der Psychologie an der Reichsuniversität Königsberg ernannt. Lorenz er­freute sich dabei kei­nesfalls der Wertschätzung seiner Kolle­gen, sondern wurde auf Intervention des Reichsministeriums für Wissenschaft und Erziehung gegen den Widerstand der dortigen Fakultät eingesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war Lorenz nur als Privatdozent tätig. Es bedurfte daher seit 1938 die Intervention des SS-Ahnenerbe Abteilungsleiters und Dekans der Universität Wien Christian, (d)a Lorenz keine festen Einkünfte besitzt, wird es ihm schwer, seinen Lebensunterhalt sowie den seiner Familie aufrechtzuerhalten , um seine ökonomische Versorgung bis 1940 zu gewährleisten.

Eine wesentliche Rolle spielt hierbei der Soziologe Arnold Gehlen. Dieser hatte 1936 gefordert, Immanuel Kant, Hegel und Fichte zur Basis des Rassenverständnis im Nationalsozialismus zu machen. 1938 übernahm Gehlen den renommierten Kantlehrstuhl an der Reichsuniversität Königsberg. 1939 wurde er darüberhinaus Leiter des psychologischen Institutes in Königsberg. Am 1.1.1941 wurde dies dann an Konrad Lorenz übergeben, während Arnold Gehlen an die Reichsuniversität Wien zu Christian wechselte. Aus dieser Zeit stammt auch ein Artikel über Kants Lehre von Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, von K. Lorenz der in den 1960er Jahren zur Theorie einer Evolutionären Erkenntnistheorie führte. Lorenz war seit 1938 NSDAP-Mitglied, sowie im NSV und Reichskolonialbund. Bis dahin hatte Lorenz sich vor allem einen Namen durch seine anthropologischen Lichtbildvorträge im Stile nationalsozialistischer Rassenpropaganda gemacht.

Seine daraus folgenden Schlussfolgerung einer notwendigen systematischen Selektion kranken Erbmaterials zur Erhaltung einer lebenstüchtigen Zivilisa­tion bildeten bis zu seinem Tode den Kern seines biologisch determinierten Gesellschaftsverständnisses - erkennbar u.a. daran, dass seine 1943 veröffentlichte, umfangreiche Begründung dieser Anschauung noch in den 1960er Jahren auf der Einbandrückseite seiner populärwissenschaftlichen dtv-Bücher als "Hauptwerk" bezeichnet wurde. In den 1960er Jahren wandte sich Lorenz' Interesse vor allem dem Verständnis des sog. Bösen (des Aggressionstriebes) zu, wobei er in heute reichlich naiv anmutender Weise u.a. vorschlug, große internationale Fußballereignisse als Orte "friedlicher Abfuhr" von aggressiven Triebenergien zu organisieren.

Nach der Niederlage des Nationalsozialismus konnte der Forscher an viele seiner Gedankengänge anknüpfen, freilich mit einer etwas entschärften Sprache und weniger ambitioniert für eine Eugenik streitend. Lorenz versuchte immer wieder, seine Nazivergangenheit mit dem Verweis auf seine Naivität herunterzuspielen. So schreibt er etwa in "Leben ist Lernen": "Ich habe gehofft, daß der Nationalsozialismus etwas Gutes bringen wird, nämlich in Bezug auf die Hochschätzung der biologischen Vollwertigkeit des Menschen, gegen Domestikation usw. Daß die Leute `Mord´ meinten, wenn sie `ausmerzen´ oder wenn sie `Selektion´ sagten, das habe ich damals wirklich nicht geglaubt." Er distanzierte sich damit aber nur von der Wortwahl, in keiner Weise jedoch vom Inhalt seiner Artikel. Stattdessen verteidigte er unaufhörlich seine Degenerationslehre, die er der Domestikation zuschrieb: dabei gleiche der Stadtmensch dem degenerierten Haustier. Der von ihm ausgemachte Schönheitsinstinkt - ein angeborenes Schönheitsempfinden - weist nicht zufällig in die Richtung des vom Nationalsozialismus propagierten Schönheitsideals.

Die bisher umfangreichste und dank neu erschlossenen Quellenmaterials zugleich erschreckendste Beschreibung seiner Parteinahme für nationalsozialistisches Gedankengut haben K. Taschwer und B. Föger 2003 zu seinem 100. Geburtstag in ihrer Biographie "Konrad Lorenz" (Zsolnay-Verlag) vorgelegt.

Die wissenschaftliche Bedeutung von Konrad Lorenz innerhalb der Verhaltensforschung

Konrad Lorenz gilt heute zu Recht als der Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung, da er die Tierbeobachtungen diverser Forscher in einer griffigen, physiologischen Theorie der Instinktbewegungen gebündelt und so ab 1937 den Weg gebahnt hat für Verhaltensexperimente sowie für das Vergleichen von Verhaltensweisen auch zwischen unterschiedlichen Arten. "Der grundlegend neue Ansatz, den Lorenz mit dieser Theorie in die Verhaltensforschung hineingetragen hat, liegt in der Annahme, dass sich in den vielfältig und variabel erscheinenden komplexen Verhaltensabläufen der Tiere gleichartig aufgebaute Grundbausteine des Verhaltens, die Erbkoordinationen oder Instinktbewegungen, identifizieren lassen. (...) Im Gegensatz zu der Anfang der dreißiger Jahre noch weitgehend akzeptierten Ansicht, dass tierisches Verhalten rein reaktiv sei, betont Lorenz die Spontaneität tierischen Verhaltens, speziell der Instinktbewegung." (Zippelius 1992, S. 6) Lorenz selbst sah in Oskar Heinroth den Urvater der Ethologie, und in Nordamerika wird diese Rolle William Morton Wheeler zugeschrieben.

Lorenz' Bedeutung liegt ferner darin, dass er, deutlicher als andere Forscher vor ihm, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten den Blick auf zwei genetische Besonderheiten gelenkt hat: auf angeborene Auslöser für Verhaltensweisen ("Schlüsselreize" und "angeborene Auslösemechanismen", AAM) sowie auf eine bei diversen Tierarten nachweisbare Entwicklungsphase, in der eine gleichsam unwiderrufliche "Prägung" möglich ist.

Andererseits liegt Lorenz' wissenschaftliche Bedeutung mindestens ebenso darin begründet, dass er ganz wesentlich dazu beitrug, die vergleichende Verhaltensforschung (er selbst nannte das Gebiet übrigens oft auch "Tierpsychologie") als eigenständiges Forschungsgebiet an den deutschen Hochschulen zu etablieren und diese Fachrichtung überdies ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Hierzu trugen vor allem seine diversen, seit 1949 erschienenen und auch heute noch gut lesbaren Tiergeschichten bei, in denen er - anders als die meisten Sachbuchautoren vor ihm - das Verhalten der Tiere aus ihrer jeweils eigenen "Sichtweise" zu schildern sich bemühte (statt ihr Verhalten aus dem Blickwinkel des Menschen zu schildern). Seine Triebtheorie des Verhaltens regte zwischen 1935 und 1970 zudem zahlreiche Wissenschaftler zu Forschungsarbeiten an, da diese Theorie ein Erklärungsmodell bot, das man in empirischen Studien überprüfen konnte.

Viele Deutungsversuche von Verhaltensweisen der Tiere, die K. Lorenz veröffentlichte, halten jedoch heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht stand, und seine Triebtheorie wird heute von keinem ernsthaften Verhaltensforscher mehr als Arbeitshypothese benutzt. Schon seit Mitte der 1970er Jahre rückten immer mehr Forscher von Lorenz' Triebtheorie ab und wandten sich zunehmend verhaltensökologischen und neurobiologischen Fragestellungen zu - es gab kaum offensive Kritik an den Lorenz'schen Arbeiten, man zog sie einfach nicht mehr als Arbeitshypothese heran. Erst 1992/93 kam es zu einer nennenswerten öffentlichen Debatte, als die Bonner Verhaltensforscherin Prof. Hanna Maria Zippelius diverse klassische Verhaltensstudien wiederholte und hierbei nachwies, dass von einer glaubwürdigen experimentellen Grundlage der Arbeitsergebnisse von K. Lorenz (und auch von Nikolaas Tinbergen!) nicht gesprochen werden kann. Einige Ergebnisse der Studien von H. M. Zippelius (siehe unten, Sekundärliteratur und Link-Verweise) legen dabei sogar den Verdacht nahe, dass Lorenz und Tinbergen experimentelle Daten selektiv veröffentlichten oder wegließen, damit sie zu ihrer Theorie "passten".

Lorenz' Triebtheorie des Verhaltens entstand in den 1930er Jahren auf der Basis relativ weniger und zudem anfangs eher anekdotisch interessanter Tierbeobachtungen. Es fehlte - vergleichbar mit den Theorien Sigmund Freuds - von Beginn an eine breite empirische Unterfütterung. Daher wurde die Triebtheorie zu einem herausragenden Beispiel für das Erzeugen von Pseudoerklärungen innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin: So ist beispielsweise die sog. "Übersprunghandlung" eine unmittelbare Folge der Lorenzschen Grundannahme, im Konfliktfall setze sich jeweils der "stärkere" von zwei gleichzeitig aktivierten Trieben im Verhalten durch; da jedoch der Fall zweier genau gleich stark aktivierter Triebe denkbar ist, musste der Triebtheorie eine Art "Kompromiss" für diesen Spezialfall beigegeben werden - die "Übersprunghandlung" ist somit eher eine Konsequenz der Theorie (!) als das Ergebnis empirischer Befunde. Die (sehr wenigen) "empirischen Belege" wurden dann rasch "entdeckt", oder genauer gesagt: bestimmte Beobachtungen wurden im Licht der theoretischen Annahmen entsprechend gedeutet. Das wohl am häufigsten angeführte Beispiel (zwei Hähne kämpfen ihre Hackordnung aus und einer von ihnen pickt plötzlich auf dem Boden herum, als würde er Futter aufnehmen - gedeutet als gleich starker Aggressions- und Flucht-Trieb, was als Übersprungshandlung Futterpicken hervorrufe) kann beispielsweise sehr viel plausibler als soziales Signal gedeutet werden, das dem Rivalen möglicherweise anzeigt: schau, ich fühle mich so stark, dass ich selbst in dieser prekären Situation noch Futter aufnehmen kann. Ähnlich ist die von Lorenz bei einem von Hand aufgezogenen Star "entdeckte" sog. "Leerlaufhandlung" eine Folge (!) der Behauptung, dass Triebenergien stetig vom Körper produziert werden: Fehlt dann aber über längere Zeitspannen ein äußerer Auslöser für die zugehörige Triebhandlung, erzwingt die Theorie gleichsam ein "ins Leere laufen" der Triebhandlung - eine kuriose (weil absolut unökonomische und daher undarwinistische) Konsequenz der Theorie, denn selbst eine (im wörtlichen Sinne ins Leere laufende) Pollution dient ja noch der Entsorgung überalterter Spermien...

Obsolet geworden ist die Lorenz'sche Triebtheorie allerdings nicht in erster Linie aufgrund solcher wissenschaftstheoretischer Mängel, sondern weil die moderne Hirnforschung keinerlei physiologisches Korrelat zu den unterstellten Trieben auffinden konnte. Wie seine Biographen K. Taschner und B. Föger hervorheben, kamen seine Untersuchungsmethoden "aber auch deshalb aus der Mode, weil sie jahrelange Beobachtungen vorausetzten - im Zeitalter des publish or perish ein Ding der Unmöglichkeit."

Werke

  • Lorenz, K. (1935): Der Kumpan in der Umwelt des Vogels. in: Journal für Ornithologie 83 (2-3), S. 137 - 215 und S. 289 - 413 (Nachdruck 1965 in: „Über tierisches und menschliches Verhalten“ Bd. 1).
  • Lorenz, K. (1940): Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens. in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 59 (1, 2), S. 2 – 81.
  • Lorenz, K. (1941): Kants Lehre von Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. in: Blätter für Deutsche Philosophie 15, S. 94 - 125
  • Lorenz, K. (1943): Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung. in : Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (2), S. 235 – 409.
  • Lorenz, K. (1949): Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. (Neuausgabe von 1998 bei dtv, Bd.20225, ISBN 3-423-20225-4)
  • Lorenz, K. (1963): Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. (Neuausgabe von 1998 bei dtv: ISBN 3-423-33017-1)
  • Lorenz, K. (1965): Über tierisches und menschliches Verhalten. 2 Bände: München / Zürich: Piper
  • Lorenz, K. (1973): Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. (Neuausgabe als: Serie Piper, Bd.50. ISBN 3-492-20050-8)
  • Lorenz, K. (1973): Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens. München / Zürich: Piper
  • Lorenz, K. (1978): Vergleichende Verhaltensforschung oder Grundlagen der Ethologie. Wien / New York: Springer.
  • Lorenz, K. (1988): Hier bin ich – wo bist Du? Ethologie der Graugans. München / Zürich: Piper.

Literatur

  • Th.J. Kalikow: Die ethologische Theorie von Konrad Lorenz: Erklärung und Ideologie, 1938 bis 1943 in: Mehrtens,H.- Richter, St.; Naturwissenschaft Technik und NS-Ideologie, Frankfurt a. M. 1980
  • Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene Theorie. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und verhaltenskundlicher Forschungspraxis, Braunschweig: 1992 (Vieweg), 295 S., ISBN 3-528-06458-2
  • Ute Deichmann: Biologen unter Hitler - Vertreibung, Karrieren, Forschung, Frankfurt/Main, New York: 1992, 370 S., ISBN 3-593-34763-6
  • Benedikt Föger, Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels, Czernin Verlag 2001, ISBN 3707601242
  • Klaus Taschwer / Benedikt Föger: Konrad Lorenz. Biographie, Wien: 2003 (Zsolnay), 341 S., ISBN 3-552-05282-8


Konrad Lorenz zum Anhören

  • Konrad Lorenz. Über das Verhalten geselliger Tiere. Originaltonaufnahmen 1951 - 1983. Herausgegeben von Klaus Sander. 2004: Verlag Supposé. 2-CD-Set, 140 Min., EUR 24.80, ISBN 3-932513-55-X

Konrad Lorenz spricht u.a. über "wertphilosophische Aspekte der Evolution"; über moral-analoges Verhalten geselliger Tiere; und mit Erich von Holst über das Entstehen tierischen Verhaltens.


Zitate

Die Fähigkeit eines Tieres, Schaden zu stiften, ist proportional zu seiner Intelligenz. Der Mensch hält auch hier die Spitze." -- profil

1943: "Die Idee der Rasse, die die Grundlage unseres politischen Regimes ist, hat bereits viel in dieser Richtung erreicht." --

in: Konrad Lorenz, Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: »Zeitschrift für Tierpsychologie«, Bd. 5, 1943, S. 302

1973: "Das verderbliche Wachstum bösartiger Tumoren beruht, wie schon angedeutet, darauf, daß gewisse Abwehrmaßnahmen versagen oder von den Tumorzellen unwirksam gemacht werden, mittels deren der Körper sich sonst gegen das Auftreten asozialer Zellen schützt. Nur wenn diese vom umgebenden Gewebe als seinesgleichen behandelt und ernährt werden, kann es zu dem tödlichen infiltrativen Wachstum der Geschwulst kommen. Die schon besprochene Analogie lässt sich hier weiterführen. Ein Mensch, der durch das Ausbleiben der Reifung sozialer Verhaltensnormen in einem infantilen Zustand verbleibt, wird notwendigerweise zum Parasiten der Gesellschaft.« ... »Es ist nicht auszuschließen, daß viele Infantilismen, die große Anteile der heutigen >rebellierenden< Jugend zu sozialen Parasiten machen, möglicherweise genetisch bedingt sind."

"Ich habe damals - genau wie ich es heute tue - den genetischen Verfall des Zivilisationsmenschen, das, was ich roh die Verhausschweinung des Zivilisationsmenschen nenne, für eine große Gefahr gehalten. Wenn Sie den Aufsatz als ganzen lesen, werden Sie finden, dass ich mich zwar der Terminologie der Nazis bediene, dass aber die Ideologie, die diesem Aufsatz zugrunde liegt, genau die gegenteilige ist."

in: Konrad Lorenz, Acht Todsünden der Menschheit, München 1973, 1. Aufl., S. 64 ff

1988: "Es zeigt sich, daß die ethischen Menschen nicht so viele Kinder haben und die Gangster sich unbegrenzt und sorglos weiter reproduzieren." "...gegen Überbevölkerung hat die Menschheit nichts Vernünftiges unternommen. Man könnte daher eine gewisse Sympathie für Aids bekommen."

in: Konrad Lorenz in einem Gespräch anlässlich seines 85. Geburtstags, in: »Natur«, Nr. 11, München 1988.