Artikel von Telim Tolan, Oldenburg, tolan@yeziden.de - www. yeziden.de
Der Begriff Jezidismus (besser Yezidentum) bezeichnet eine montheistische Religion, die ausschließlich unter Kurden verbreitet ist. Die Yeziden sprechen das nordkurdische Kurmanji als Muttersprache. Der Begriff Yezid leitet sich von "Yezdan" bzw. "Ezdan" ab und bedeutet Schöpfer / Gott!
Lehre und Kosmologie
Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, deren Wur-zeln wohl weit vor dem Christentum liegen. Gott ist allmächtig und erschuf die Welt. Nach yezidischen Vorstellungen wäre Gott schwach, wenn er noch eine zweite Kraft neben sich existieren lassen würde. Folglich fehlt in der yezidischen Theologie die Gestalt des Bösen. Die Yeziden sprechen den Namen des Bösen nicht aus, weil allein sein Aussprechen die Anzweif-lung der Allmächtigkeit Gottes bedeuten würde. Damit einher geht auch die Vorstellung, dass der Mensch in erster Linie selbst verantwortlich für seine Taten ist. Aus yezidischer Sicht hat Gott dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zu sehen, zu hören und zu denken. Er hat ihm den Verstand gege-ben und damit die Möglichkeit, für sich den richtigen Weg zu finden. Die Yeziden glauben, dass das Leben nicht mit dem Tod endet, sondern dass es nach einer Seelenwanderung einen neuen Zustand erreicht. Der neue Zustand ist abhängig von den Taten im vorherigen Leben. In diesem Zusammenhang spielen der „Jenseitsbruder“ (Biraye achrete) für einen Mann bzw. die „Jenseitsschwester“ (Chucha achrete) für eine Frau eine wichtige Rolle für einen Yeziden / eine Yezidin. Unter den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sucht man sich zu Lebzeiten einen Bruder bzw. eine Schwester für das Jenseits aus. Diese Wahlgeschwister übernehmen im Jenseits gegenseitig die moralische Mitverantwortung für ihre Taten, und in der Totenzeremonie „begleiten“ sie den Verstorbenen / die Verstorbene auf dem Weg zur neuen Bestimmung. Nach den yezidischen Vorstellungen bestand die Verbindung der Jenseitsgeschwister bereits im vorherigen Le-ben und wird im künftigen Leben weiterbestehen. Eine zentrale Bedeutung in den yezidischen Glaubensvorstellungen hat Taus-i Melek, der „Engel Pfau“, dessen Symbol – wie es der Name sagt – ein Pfau ist. Nach der yezidischen Mythologie hat er in besonderer Weise der Allmächtigkeit Gottes gehuldigt und wurde deshalb von Gott zum O-berhaupt der sieben Engel erkoren. Er nimmt eine Art Stellvertreterfunktion Gottes ein. So symbolisiert Taus-i Melek in der yezidischen Theologie nicht das Böse und ist auch kein in Ungnade gefallener Engel. Nach der Schöpfungsgeschichte der Yeziden ist Taus-i Melek, den Gott mit sechs weiteren Engeln aus seinem Licht schuf, an der gesamten Schöp-fung, an dem göttlichen Plan, aktiv beteiligt. Folglich verkörpert Taus-i Melek nicht den Widerpart in einem dualen Weltbild, sondern ist der Be-weis für die Einzigartigkeit Gottes. Eine zweite wichtige Gestalt für die Yeziden ist der Reformer Scheich Adi aus dem 11./12. Jahrhundert. Er ist für die Yeziden eine Inkarnation des Taus-i Melek, der kam, um das Yezidentum in einer schwierigen Zeit neu zu beleben. An seinem Grab in Lalesh findet jedes Jahr vom 6.-13. Oktober das „Fest der Versammlung“ (Jashne Jimaiye) statt. Yeziden aller Gemeinden aus den Siedlungs- und Lebensgebieten kommen zu diesem Fest zusammen, um ihre Gemeinschaft und ihre Verbundenheit zu bekräfti-gen. Leider erschweren oder verhindern politische Umstände häufig die Pilgerfahrt nach Lalesh, die eine Pflicht für jeden Yeziden ist. Aus Lalesh bringen die Yeziden geweihte Erde mit, die mit dem heiligen Wasser der Quelle Zemzem zu festen Kügelchen geformt wurde. Sie gelten als „heilige Steine“ (Sing.: Berat) und spielen bei vielen religiösen Zeremonien eine wichtige Rolle.
Unter den Yeziden herrscht die Auffassung, dass ein Yezide ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein, muss man nicht Ye-zide sein. Das heißt: das Yezidentum ist von vornherein tolerant gegenüber anderen Religionen. In einem Gebet der Yeziden heiß es: „Gott, schütze erst die 72 Völker und dann uns.“ Die Yeziden haben keine Berührungs-ängste mit anderen Religionsgemeinschaften. So ist z. B. das Verhältnis zwischen Yeziden und Christen sehr gut. Dies hat etwas mit der gemeinsa-men Leidensgeschichte der Yeziden und Christen in den kurdischen Gebie-ten zu tun. So haben z. B. die Yeziden während der Zeit der Armenierver-folgung (1914-1917) im Osmanischen Reich viele Armenier bei sich auf-genommen und vor Deportation und Vernichtung gerettet.
Gesellschaft
Als Yezide wird man geboren; es gibt keine Möglichkeit, zum Yezidentum zu konvertieren. Dies schließt aus, dass Yeziden missionarisch tätig werden und Angehörige anderer Religionen bekehren. Es gibt bei uns keinen religiösen Fanatismus, der von der Überlegenheit der Religion über andere Glaubensvorstellungen ausgeht. Der yezidischen Religion fehlt so-mit die aggressive Komponente des Bekehrens mit Feuer und Schwert, wie z. B. im Islam. In der Abwehr gegenüber dem fanatischen Islam entstand das zwingen-de Gebot bei den Yeziden, keine Andersgläubigen zu heiraten. Bei dieser endogamen Heiratsregel handelt es sich um einen historisch entstandenen Schutzmechanismus, der in der Verfolgungssituation den Zusammenhalt und die Solidarität der Yeziden stärkte. Und weil sie sich als Schutz be-währt hat, ist diese Regel in der Gemeinschaft fest verankert. Spätestens seit dem 12. Jahrhundert gibt es innerhalb der yezidischen Gemeinschaft mehrere Kasten, die auf den Reformer des Yezidentums, Scheich Adi, zurückgehen. Die yezidische Gesellschaft gliedert sich in die Kaste der Laien, der Muriden und in zwei Kasten von Geistlichen, in die der Scheichs und die der Pirs. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste ist erblich; heiraten außerhalb der eigenen Kaste sind tabu. Die Geistlichen haben die Aufgabe, die Laien religiös zu unterweisen und zu betreuen. Darüber hin-aus nehmen sie wichtige soziale Funktionen wahr. Im Gegensatz zum Kas-tenwesen im Hinduismus trennt das Kastensystem bei den Yeziden nicht die Gesellschaft, sondern es schuf ein komplexes System, das durch die Abhängigkeit der einzelnen Glieder voneinander einen engen Zusammen-halt aller Schichten garantierte. Nur durch die Kontakte zwischen den ein-zelnen Kasten ist es den Yeziden möglich, ihre Religion zu bewahren.
In ihren Heimatgebieten im Vorderen Orient waren und sind die Yeziden einer doppelten Verfolgung ausgesetzt: Einmal ethnisch, weil sie Kurden sind, und zum anderen religiös, weil sie in den Augen fundamentalistischer Muslime als „Ungläubige“, „vom wahren Glauben Abgefallene“ gelten, die es entweder zu bekehren oder umzubringen gilt. Denn nach den Vorstel-lungen radikaler Muslime öffnet sich für denjenigen, der einen Ungläubi-gen tötet, der Weg ins Paradies. Fanatische Muslime, die yezidische Dörfer verwüsten oder die Einwohner vertreiben, Menschen ermorden oder Frauen entführen, werden von den Behörden nicht zur Verantwortung gezogen, sei es, weil es in ein politisches Konzept passt oder sei es, weil die Vertreter des Staats ebenfalls Muslime sind, welche die Ansichten – wenn auch nicht die Taten – der Radikalen teilen. In ihren Heimatgebieten können Yeziden nur öffentlich in Erscheinung treten, wenn sie ihre Identität verleugnen. Der mangelnde staatliche Schutz führte dazu, dass besonders in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Yeziden, insbesondere Yeziden aus der Türkei, in Massen nach Deutschland flüchteten. Prof. Wießner von der Universität Göttingen hatte sich als Wissen-schaftler den Religionen des Vorderen Orients und damit auch der Religion der Yeziden gewidmet. Durch seine Reisen in die Region kannte er die Situation der Menschen in diesen Ländern. Mit einem Gutachten beim Verwaltungsgericht Stade erreichte er 1982 erstmals die Anerkennung von Yeziden als Flüchtlinge. Danach dauerte es noch elf Jahre, bis sich diese Rechtsprechung allgemein durchsetzte. Als letztes deutsches Gericht er-kannte Anfang 1993 das Oberverwaltungsgericht Lüneburg den Yeziden den Status als Gruppenverfolgte zu. Auf politischer Ebene bereitete 1989 Herbert Schnoor in seiner Amtszeit als Innenminister des Landes Nord-rhein-Westfalen den Weg für ein Bleiberecht der Yeziden vor. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, dessen Beiratsmitglied Prof. Wießner war, hat sich als Menschenrechtsorganisation für die Yeziden eingesetzt.
Überlieferungen
Das Yezidentum kennt keine verbindliche religiöse Schrift, wie es ver-gleichbar die Bibel für die Christen ist. Die Vermittlung religiöser Traditi-onen und Glaubensvorstellungen beruhte – bisher – ausschließlich auf mündlicher Überlieferung. In der Literatur über die Yeziden werden zwei Bücher erwähnt, das „Buch der Offenbarung“ (Kiteb-i Jilwe) und die „Schwarze Schrift“ (Meshef Resch). Von beiden Büchern sind lediglich Auszüge bekannt geworden, wobei man davon ausgehen kann, dass diese nicht in allen Teilen authentisch die Glaubensvorstellungen der Yeziden wiedergeben.
Der Glauben wird überwiegend durch Lieder (so genannte Qewals) und Bräuche weiter gegeben.
Verbreitung
Ihre Siedlungsgebiete befinden sich innerhalb der kurdischen Verbreitungsgebiete, die in keinem eigenen Staat zusammenge-schlossen sind und sich auf die Länder Irak, Syrien, die Türkei und Iran – hier leben nur wenige Yeziden – verteilen. Weiterhin leben Yeziden auch noch in den ehemaligen Sowjetstaaten Armenien und Georgien und mitt-lerweile auch in Deutschland. Es gibt keine offizielle Zählung der Yeziden, ihre Gesamtzahl wird jedoch auf 800.000 Personen geschätzt. Die Yeziden stellen heute also eine religiöse Minderheit unter den mehrheitlich muslimi-schen Kurden dar. Noch im Mittelalter bekannten sich die meisten Kurden zum Yezidentum. Das Hauptverbreitungsgebiet der Yeziden ist der Nordirak. Hier leben ca. 550.000 yezidische Glaubensbrüder, und hier befindet sich nicht allzu-weit von Mosul entfernt Lalesh, das religiöse Zentrum der Yeziden. Nahe bei Lalesh residiert in Baadhra das weltliche und geistige Oberhaupt der Yeziden, der Mir, auch nach dem Distrikt Shaikhan Mire Shaikhan ge-nannt. In Deutschland leben etwa 35.000-40.000 Yeziden, vorwiegend in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sie häufig größere Gemeinden bilden.
Literatur
Tolan,Telim - Religion und Leben, erschienen in: Erhard Franz (Hrsg.): Yeziden – Eine alte Religionsgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne. Beiträge der Tagung vom 10.-11. Oktober 2003 in Celle. Kizilhan, Ilhan - Die Yeziden - medico Verlag, Frankfurt