Das Brett des Karneades ist ein philosophisches Gedankenexperiment, dass auf den griechischen Philosophen Karneades zurückgeht. Man stellt sich die Situation zweier Schiffbrüchiger vor, deren einzige Rettung ein umhertreibendes Brett ist, welches jedoch nur eine Person tragen kann. Einer der beiden Schiffbrüchigen tötet nunmehr den anderen, um die rettende Planke für sich zu sichern und anschließend gerettet zu werden.
Ist er wegen Tötung (zum Tode) zu verurteilen oder kann der Überlebende die Notwendigkeit der Tötung rechtfertigen und wenn, mit welchen Argumenten und innerhalb welches Rechtsrahmens.
Das Situationsbeispiel wirft ethische und rechtsphilosophische Grundfragen auf, die in verschiedenen Lebensbereichen wiederkehren und durch das Problem der Allokation knapper Ressourcen hervorgerufen werden. Bedeutung hat das Dilemma als strafrechtliches Fallbeispiel, für die Frage nach der rechtlichen Bewertung der Notstandsproblematik - nämlich dem Töten eines Menschen, um das eigene Leben zu retten.
Überlieferung des Beispiels durch Cicero
Cicero, der sich aus Hecatos Werk „Über die Pflichten“ informiert hat, gibt das Beispiel mit folgenden Worten wieder: „Angenommen aber, es gibt nur ein Brett, aber zwei Schiffbrüchige, und beide sind weise Männer. Soll es jeder von ihnen an sich zu reißen suchen oder soll es einer dem anderen abtreten? Es soll abgetreten werden, aber an den, der eher wert ist, um seiner eigenen Angelegenheiten oder um des Staates willen am Leben zu bleiben. Was aber dann, wenn sie in beiden Punkten gleiche Ansprüche haben? Es wird keinen Streit geben, sondern einer wird dem anderen den Vortritt lassen, wie wenn er durch Losen oder im Fingerspiel verloren hätte.“
Rezeption und Bewertung durch Kant
Auch Immanuel Kant hat das Fallbeispiel von Karneades aufgegriffen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Tat nicht als unsträflich (inculpabile), sondern als unstrafbar (impunibile) zu beurteilen sei, da die Bedrohung mit einem Übel durch das Gesetz, nämlich der Tod durch den richterlichen Ausspruch, gar nicht größer sein könne als die Furcht vor dem bevorstehenden Übel, nämlich dem Ertrinken. Der Sinnspruch des Notrechts laute: „Not hat kein Gebot (necessitas non habet legem)“ – es könne aber trotzdem keine Not geben, die ein Unrecht gesetzmäßig machte. - Kant bezieht sich aber auch direkt auf das Brett des Karneades: „Wenn aber von einem, welcher einen anderen Schiffbrüchigen von seinem Brett stößt, um sein eigenes Leben zu erhalten, gesagt wird: er habe durch seine Not (die physische) ein Recht dazu bekommen, so ist das ganz falsch. Denn mein Leben zu erhalten, ist nur bedingte Pflicht (wenn es ohne Verbrechen geschehen kann); einem andern aber, der mich nicht beleidigt, ja gar nicht einmal in Gefahr, das meinige zu verlieren, bringt, es nicht zu nehmen, ist unbedingte Pflicht.“
Erweiterungen und Abwandlungen des Fallbeispiels
Immer dann, wenn knappe zum Leben notwendige Güter unter Menschen verteilt werden, ergeben sich Bewertungs- und Verteilungsfragen sowie Rechtfertigungsprobleme dieser Güterzuordnungen, vor den anderen Menschen.
Beispiele: Im englischen Recht stellte sich 1884 das durch das Brett des Karneades vorgezeichnete Rechtfertigungsproblem anhand des Seefahrer-Kannibalen-Falles „R. v. Dudley and Stephens”. Aufgrund schlechten Wetters kentert eine Yacht und die vierköpfige Mannschaft kann sich nur durch das Rettungsboot über Wasser halten. Nach 12 Tagen, in denen sich die Mannschaft von zwei Speiserüben ernähren konnte und acht weiteren Tagen ohne Nahrung und Trinkwasser, schlägt der Kapitän vor, den Schiffsjungen zu opfern um die anderen zu ernähren. So geschieht es und die anschließend gerettete Mannschaft wird in Falmouth wegen der Tötung (im englischen Murder) vor Gericht gestellt. Das Gericht verurteilte die Überlebenden, da keinem Menschen die Möglichkeit zugestanden ist, über Tod und Leben anhand persönlich aufgestellter Kriterien zu entscheiden. 1842 entschied jedoch ein amerikanisches Gericht gegenteilig: Demnach sei Mord in einem Rettungsboot dann gerechtfertigt, wenn ein faires Verfahren, etwa eine Auslosung das Opfer selektiert.
In der Medizin stellt sich bei einem Massenanfall von Verletzten/Kranken die Frage, wem geholfen werden soll und wem nicht. Wie soll bei einer großen Zahl von Schwerletzten mit den wenigen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln umgegangen werden? Ähnliche Fragen stellen sich bei allen Unfällen oder Katastrophen mit vielen Betroffenen (Wer soll als erster mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden?) und bei der Verteilung von gespendeten Organen zum Zweck der Transplantation. Hier wird mittels des Verfahrens der Triage versucht, eine Einteilung in Behandlungs- und Versorgungsklassen vorzunehmen, um eine Antwort auf die Zuordungsfrage zu geben und geordnet Hilfe leisten zu können.
Aktuell (2006) stellte sich das Rechtfertigungsproblem anhand des vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Luftsicherheitsgesetzes. Die dadurch eröffnete Frage lautet: Darf man eine Passagiermaschine abschießen, um anderen Menschen das Leben zu retten? Die klare und unmißverständliche Antwort: Nein! Wenn unbeteiligte Passagiere Gefahr laufen, Kollateralschaden eines solchen Abschusses zu werden, wird gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Leben und damit gegen die Menschenwürde verstoßen. Wäre es zu einem solchen Abschuss gekommen, hätte sich der Bundeswehrpilot strafbar gemacht, auch wenn er dies auf einen Befehl hin getan hätte. Grundsätzlich gilt, dass strafbare Handlungen auch auf Befehl hin verboten sind.
Das Rechtfertigungsproblem stellt sich auch beim finalen Rettungsschuss (gezielter Todesschuss), zum Beispiel während Geiselbefreiungen oder der Terrorismusbekämpfung. Darf eine Geisel erschossen werden um eine oder die anderen zu befreien? Dürfen einige Menschen zugunsten einer größeren Anzahl von Menschen geopfert werden?
Antworten auf diese Fragen müssen von verantwortlich Denkenden und Handelnden sowohl aus dem Gesichtswinkel der Individualethik als auch aus dem der Sozialethik gefunden werden.
Verarbeitung des Themas in der Literatur
Annette von Droste-Hülshoff greift das Brett des Karneades im dramatischen Gedicht die „Die Vergeltung“ auf. Hier obsiegt der stärkere gegen den kranken, schwächernen Schiffbrüchigen beim Kampf um die Planke. Der Überlebende wird zunächst von einem Piratenschiff gerettet, doch die Piraten werden aufgegriffen und er wird zusammen mit ihnen erhängt.
Ewald Christian von Kleist schreibt im Gedicht „Die Freundschaft“ über zwei schiffbrüchige Freunde. Einer der beiden verzichtet freiwillig auf die Planke, um dem Wohl der Welt den Verlust seines Freundes nicht zuzumuten und um das eigene Leben nicht in Qual ohne den anderen verbringen zu müssen. Der verzichtende Freund ertrinkt jedoch nicht, sondern wird am Strand angespült, wo er seinen Freund wiederfindet. In großer Dankbarkeit teilt dieser daraufhin seine Reichtümer „Und lange waren sie das Wohl der Welt“.
Rechtslage nach deutschem Strafrecht
Nach dem deutschen Strafrecht würde in diesem Fall eine rechtswidrige Tat vorliegen – und zwar ein Totschlag gemäß Vorlage:Zitat-dej StGB. Das Handeln wird also von der Rechtsordnung missbilligt. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit für diese Handlung kennt das Strafrecht nicht. Dies bedeutet auch, dass der andere, der vom Brett gestoßen wird, sich hiergegen verteidigen darf (Notwehr), da ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vorliegt.
Allerdings wäre beim angreifenden Täter ein entschuldigender Notstand gemäß Vorlage:Zitat-dej StGB gegeben, der dazu führt, dass der Täter nicht bestraft würde. Das Handeln des Täters "erscheint" als so verständlich, dass jede Rechtsschuld entfallen muss.
Für den Fall der Rettungsnotwendigkeit mehrerer Menschen (siehe Beispiel Triage) wird von manchen eine rechtfertigende Pflichtenkollision angenommen, in der sich der Helfende frei entscheiden kann, wen er retten will. Andere nehmen hier einen übergesetzlichen schuldausschließenden Notstand an.
Literatur
- Cicero, Werke in 3 Bänden, Berlin 1989; hier Bd.3: Pflichtenlehre III,89.90; S.292f ISBN 3-351-01474-0
- Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Kants Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bd. VI, 1902 ff., S. 203-372, S. 235 f. (Internetversion)
- Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: I.Kant Werkausgabe (Hrsg: W.Weischedel, Frankfurt/M. 1982, S.156f. (Anmerkung) - ISBN 3-518-27792-8