Mit Himmlers Posener Rede ist zumeist eine dreistündige geheime Rede gemeint, die Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 vor 92 SS-Offizieren im Goldenen Saal des Schlosses von Posen hielt. Dabei ließ Himmler die üblichen verschleiernden Tarnbegriffe[1] beiseite und sprach unverblümt von dem Ziel der Ausrottung des jüdischen Volkes und der Existenz der Massenmorde.
Zu Unrecht gerät darüber Himmlers zweite Posener Rede aus dem Blick, die er wenig später, am 6. Oktober 1943, vor Reichs- und Kreisleitern hielt und in der er in unmissverständlicher Offenheit auch den Mord an jüdischen Kindern für notwendig erklärte.
Auch in vier weiteren Reden vor Befehlshabern der Kriegsmarine in Weimar und vor Generälen in Sonthofen, die zwischen Dezember 1943 und Juni 1944 folgten, spricht Himmler „Klartext“.[2]
Posener Rede vom 4. Oktober 1943
Himmler ließ diese Rede mit zwei Schallplattenaufnahmegeräten auf Wachsplatten aufzeichnen.[3] Die Tonaufnahmen wurden abgetippt und dabei um einige offensichtliche Fehler bereinigt.[4] Nach einer Korrektur durch Himmler entstand eine maschinenschriftliche Version von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren), die in den SS-Akten vorgefunden wurde und als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorlag.[5] Der Redetext wurde mehreren abwesenden hohen SS-Offizieren, die zum Teil in der Rede namentlich erwähnt werden, zur Kenntnisnahme zugeschickt.[6]
Inhaltsübersicht und Zitate
Nach einer Totenehrung stellt Himmler seine Sicht des Kriegsverlaufs dar. Der zähe russische Widerstand sei auf die Politkommissare zurückzuführen, man sei einem russischen Angriff knapp zuvorgekommen, durch Versagen der Bundesgenossen sei der Sieg 1942 verschenkt worden. Himmler spekuliert über das Potential der russischen Armee, macht sich über den „Wlassow-Rummel“ lustig, verbreitet sich über die Minderwertigkeit der slawischen Rasse und schließt Gedanken an, wie eine deutsche Minderheit dort herrschen könne:
„Gemüt am falschen Platze“
- „...wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.“[7]
In seiner Rede kommt Himmler zu Italien, dessen Armee kommunistisch verseucht und anglo-amerikanisch eingestellt sei, und streift die Verhältnisse auf dem Balkan und den übrigen besetzten Gebieten, deren Widerstandshandlungen er als lästige Nadelstiche gering schätzt. Kurz geht er auf den Luft- und Seekrieg ein und wendet sich dann der „inneren Front“ zu. Feindsender und Luftangriffe verursachten Defaitismus, zur Abschreckung müsse man Exempel statuieren. Danach widmet sich Himmler der „Lage auf der Feindseite“, spekuliert über das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA sowie über deren Belastbarkeit und Kriegsbereitschaft. Ausführlich geht er auf SS-Personalveränderungen, einzelne Divisionen und Polizeiverbände ein, skizziert seine Aufgaben als Reichsminister und die der SS-Wirtschaftsbetriebe. Dann spricht er den Völkermord an den Juden in bislang nicht gehörter unverschleierter Sprache an.
„Die Judenevakuierung“
- „Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse, ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ [...] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte... [...] Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.“[8]
Des weiteres lobt Himmler die gezeigte Haltung der SS, verbreitet sich auf rund 30 von 116 Seiten über die Tugenden des SS-Mannes und stellt als künftige Aufgabe des Ordens heraus, nach 20 bis 30 Jahren die Führungsschicht für ganz Europa zu stellen.
Posener Rede vom 6. Oktober 1943
Ende September 1942 hatte die Parteikanzlei alle Reichs- und Gauleiter, den Reichsjugendführer Arthur Axmann und die Reichminister Albert Speer und Alfred Rosenberg zur Konferenz eingeladen. Die Tagung begann um neun Uhr mit Referaten zur Rüstungsproduktion, die von Speer selbst, seinen Referenten und vier Großindustriellen vorgetragen wurden. Es folgten Vorträge von Karl Dönitz und Erhard Milch, bevor Himmler von 17.30 bis 19.00 eine Rede hielt.[9] Diese bis dahin unbekannte Rede fand der Historiker Erich Goldhagen 1970 im Bundesarchiv Koblenz.[10] Die Rede vom 6. Oktober[11] ist kürzer als die vielzitierte vom 4. Oktober. Der Teil über den Völkermord nimmt darin einen etwas größeren Raum ein und ist in der Wortwahl unmissverständlich:
„Über die Judenfrage“
- „Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen. Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? – Ich habe mich entschlossen, auch hier eine klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten, sprich also umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen musste, war es der schwerste, den wir bisher hatten.“ [...]
- „Ich habe mich für verpflichtet gehalten, zu Ihnen als den obersten Würdenträgern der Partei, dieses politischen Ordens, dieses politischen Instruments des Führers, auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist. Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein...“[12]
Hintergründe
Gerüchte über Massenerschießungen an Juden wie auch glaubwürdige Einzelheiten kamen durch Eisenbahner und Urlauber von der Ostfront nach Deutschland und waren schon 1942 unter der reichsdeutschen Zivilbevölkerung weit verbreitet. [13] Besonders gut informiert waren Wehrmachtsoffiziere und Funktionsträger von Staat und Partei. Man darf davon ausgehen, dass die hohen SS-Offiziere, die am 4. Oktober 1943 in Posen der Rede lauschten, über sicheres Tat- und Täterwissen verfügten. Auch den Reichs- und Gauleitern wird man unterstellen müssen, nicht völlig blind und ahnungslos gewesen zu sein.[14] Verschiedentlich wird daher die schonungslos offene Darstellung des Völkermords in den Geheimreden Himmlers gedeutet als Mittel, um die wichtigsten Funktionsträger förmlich zu Mitwissern der Verbrechen und Komplizen zu stempeln.[15] Die Kriegslage und die alliierten Drohung einer Bestrafung der Hauptverantwortlichen[16] führte zur Verunsicherung. Der Historiker Dieter Pohl urteilt:
- „In den traditionellen Institutionen des NS-Staates begann man jedoch schon 1943 insgeheim die Suche nach einer Verteidigungsstrategie für die Nachkriegszeit. Man sei nicht informiert gewesen und schuld sei ausschließlich die SS.“[17]
Joseph Goebbels notierte am 2. März 1943 in seinem Tagebuch:
- „Wie immer in den Krisen der Partei, ist es die Aufgabe der engsten Freunde des Führers, sich in solchen Notzeiten um ihn zu scharen....[ ...] Vor allem in der Judenfrage sind wir ja so festgelegt, dass es für uns gar kein Entrinnen mehr gibt. Und das ist auch gut so. Eine Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen...“[18]
Künstlerische Verarbeitung
Der Filmemacher Romuald Karmakar ließ diese Rede vom 4. Oktober im Jahr 2000 als Film unter dem Titel „Das Himmler-Projekt“ wieder aufleben. Im Film spricht der Schauspieler Manfred Zapatka den gesamten Text der Rede. Er trägt dabei keine Uniform und steht nur vor einer grauen Wand. Er verliest dabei in nüchterner Weise die Abschrift der Tonaufnahme der Rede mit allen Zwischenvorkommnissen.
In Heinrich Breloers mehrteiligem Fernsehfilm „Speer und Er“ wird die Frage diskutiert, ob sich Reichsrüstungsminister Albert Speer am Abend des 6. Oktober 1943 unter den Zuhörern der Rede Himmlers befand. - Speer wird in Himmlers Rede direkt angesprochen: „Natürlich hat das mit Parteigenossen Speer gar nichts zu tun, Sie können gar nichts dazu.“ Speer versichert jedoch, die Konferenz früher verlassen zu haben. [19]
Rezeption von Holocaustleugnern
Von Holocaustleugnern wurden immer wieder Zweifel daran laut, dass die vielzitierte Rede vom 4. Oktober 1943 einen Beweis dafür darstellt, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat. Es bestehen drei verschiedene Argumentationen, die einander ausschließen[20]:
- Die Rede ist eine Fälschung.
- Die Rede ist echt, doch spricht Himmler lediglich in Metaphern.
- Der Terminus Ausrottung in Himmlers Rede bedeutet nicht „Vernichtung“, sondern „Deportation“. Dieses Argument ist unter Berufung auf einen Übersetzungsfehler vor allem im englischen Sprachraum verbreitet (u. a. David Irving).
Die Geschichtswissenschaft weist die Argumentation der Holocaustleugner in Zusammenschau der Gesamtlage der vorliegenden Fakten als unhaltbar zurück.
Fußnoten
- ↑ siehe Kapitel „Drastische und verschleiernde Sprache“ bei Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Frankfurt/M 2002, ISBN 3-10-033626-7
- ↑ Passagen abgedruckt bei Peter Longerich: Der ungeschriebene Befehl. München 2001, ISBN 3-492-04295-3, S. 189-191 sowie bei Bradley F. Smith, Agnes F. Petersen (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 – 1945 ..., Berlin 1974, S. 201-204
- ↑ Dies war seit Ende 1942 üblich [1]; im US National Archives liegen über 500 Schallplatten bzw. Tonbänder von ca. 75 Himmler Reden [2]
- ↑ Die geringfügigen Unterschiede von gesprochener Rede und redigierter Textfassung können überprüft werden durch den als Weblink aufgeführte Tonmitschnitt. Die unredigierte Transskription des Abschnittes ist auch enthalten als speech-text in [3]
- ↑ Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Delphin Verlag, Nachdruck München 1989, ISBN 3-7735-2523-0, Band 29: Urkunden und anderes Beweismaterial, Seite 110-173
- ↑ „die etwa fünfzig abwesenden Generäle..., denen die Rede nachgeschickt wurde und die die Kenntnisnahme der Rede bestätigen mussten“ - [4]
- ↑ IMT: Der Nürnberger Prozess..., ISBN 3-7735-2523-0, Band 29, S. 123
- ↑ IMT: Der Nürnberger Prozess..., ISBN 3-7735-2523-0, Band 29, S. 145/146
- ↑ Gitta Sereny: Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit. München 2001, ISBN 3-442-15141-4, S. 468-470
- ↑ Stefan Krebs / Werner Tschacher: Speer und Er. Und Wir? Deutsche Geschichte in gebrochener Erinnerung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 3, 58(2007), S. 164
- ↑ abgedruckt in: Bradley F. Smith, Agnes F. Petersen (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 – 1945 und andere Ansprachen. Propyläen Verlag, Berlin 1974, S. 162-183
- ↑ Zitat: Gitta Sereny: Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit. München 2001, ISBN 3-442-15141-4, S. 471/472
- ↑ Frank Bajohr / Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. München 2006, ISBN 3-406-54978-0, S. 55-65 – Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst... München 2006, ISBN 3-88680-843-2, S. 222 - 240
- ↑ hierzu Gitta Sereny: Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit. München 2001, ISBN 3-442-15141-4
- ↑ Gitta Sereny: Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit. München 2001, ISBN 3-442-15141-4, S. 468
- ↑ Frank Bajohr / Dieter Pohl: Der Holocaust... ISBN 3-406-54978-0, S. 106 mit Verweis auf Roosevelts Erklärung vom 12. Februar 1943 und US-Kongress vom 18. März 1943
- ↑ Frank Bajohr / Dieter Pohl: Der Holocaust... ISBN 3-406-54978-0, S. 126
- ↑ Joseph Goebbels. Tagebücher, Band 5: 1943-1945, Piper Verlag, München 2003, ISBN 3-492-21415-0, S. 1905
- ↑ Zur Kontroverse um Speers Teilnahme zusammenfassend: Stefan Krebs / Werner Tschacher: Speer und Er. Und Wir? Deutsche Geschichte in gebrochener Erinnerung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 3, 58(2007), S. 163-173
- ↑ http://www.holocaust-history.org/himmler-poznan/ausrotten.shtml
Quellen
- Rede des Reichsführers-SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943. – Beweisstück US-170 (Dokument 1919-PS) vollst. abgedruckt in Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Delphin Verlag, Nachdruck München 1989, ISBN 3-7735-2523-0, Band 29: Urkunden und anderes Beweismaterial, Seite 110-173 / Abschnitt „Judenevakuierung“ S. 145/146
- Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen am 6. Oktober 1943. – Vollständig abgedruckt in: Bradley F. Smith, Agnes F. Petersen (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 – 1945 und andere Ansprachen. Propyläen Verlag, Berlin 1974