Szientismus

Auffassung, wonach sich von der Wissenschaft alle sinnvollen Fragen beantworten lassen
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 25. August 2007 um 08:47 Uhr durch Livani (Diskussion | Beiträge) (Poppers Kritik am Szientismus). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Szientismus (von lat. scientia = Wissen, Wissenschaft, auch Szientizismus, Scientismus) ist eine abwertende Bezeichnung für die Auffassung, dass naturwissenschaftliche Methoden in allen Wissenschaftsbereichen Anwendung finden sollten. Der Szientismus geht dabei von einem positivistischen Verständnis dieser Methoden aus und wird oft mit diesem gleichgesetzt: „Der Glaube, dass die Methoden der Naturwissenschaft, oder die Kategorien und Erkenntnisse der Naturwissenschaft, die einzig zulässigen Elemente jeder philosophischen oder anderen Untersuchung bilden“ [1][2] sei Ausdruck einer "letztlich extremen Haltung von Positivismus".[3][4], und sei scientific imperialism und scientific fundamentalism.[5] Eine bejahende Haltung zu diesem Glauben an die Naturwissenschaft wird z. B. von Daniel Dennett vertreten. Auf Kritik an seinem Buch Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon antwortete er: „wenn jemand eine wissenschaftliche Theorie vertritt, die [religiösen Kritikern] überhaupt nicht schmeckt, dann beantworten sie das schnell mit dem Vorwurf des 'Szientismus'.[6]

Entstehung

Die im Begriff „Szientismus“ enthaltene Kritik von religiösen Weltanschauungen her ist verständlich vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass seit der Renaissance mit Galileo und Kopernikus das religiöse Weltbild des Mittelalters erschüttert wurde, der Glaube an Gott (und übernatürliche Phänomene im weitesten Sinn) mit Beginn der Neuzeit mehr und mehr verdrängt wurde und wird; ersetzt durch den Glauben an die Naturwissenschaft.

Isaac Newton formulierte eine mechanistisch-szientistische Naturauffassung. John Lockes Vorstellung von Gesellschaft als einem mechanischem System, das wie das Universum den Naturgesetzen der Physik unterworfen sei, verhalf dem Szientismus, Eingang in die Sozialwissenschaften zu finden. Dieser Versuch der Begründung der Sozialwissenschaft als positive Wissenschaft durch Auguste Comte wurde dementsprechend als Physikalismus kritisiert.

Die Herausbildung eines sich rationalistisch verstehenden Szientismus wurde wesentlich durch den Empirismus Francis Bacons und den Intellektualismus René Descartes’ befördert. Während Bacon „die Natur auf die Folter spannen (wollte), bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“, war in Descartes’ Philosophie die mathematische Struktur der Schlüssel zum Universum und „exakte“ Wissenschaft gleichbedeutend mit Mathematik.

Hegels Kritik am Szientismus

Die erste Kritik an diesem Wissenschaftverständnis setzte im Deutschen Idealismus mit Hegel ein. Hegel wendet sich hier gegen den in der „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant entwickelten Objektivitätsbegriff mit seiner transzendentalen und präsuppositionslogischen Begründung. Hegel sieht darin einen zwar antidogmatischen (nicht-materialistisch und nicht-metaphysischen) Begriff von Objektivität, aber doch einen physikalistischen 'mechanischen' Begriff.[7]

Hegel stellt diesem entgegen eine erfahrungslogische Reflexion auf das, was es gibt und was es zu erklären gibt. Hegel gibt damit der aristotelischen Ontologie und Naturhistorie eine diese selbst überschreitende, 'transzendete' andere Richtung. Vor jeder genetisch-ableitbaren oder kausalen Erklärung („woher kommt etwas?“) steht die Formbestimmung dessen, was es zu erklären gibt. Dabei gibt es für Hegel soviele Formen, wie es Gleichheiten gibt, die ihrerseits als Nichtunterscheidungen immer auf einen Relevanz- (bzw. Bedeutungs-) und Kommunikationszusammenhang verweisen. So kann der Empirismus entsubjektiviert, und das transzendentalanalytische Programm Kants entformalisiert werden. Durch Hegels Rückgriff auf eine neu platzierte 'historia' der Formen der Natur und Kultur wird der Erfahrungsbezug als die wesentliche Grundlage für Objetivität eingeführt. Daraus entwickelt sich erst die Einsicht in eine methodische Ordnung in einem komplexen Aufbau von Wissenschaft und Sprache. Die darin geschichteten Präsuppositionen lassen sich nicht einfach durch die 'Ergebnisse' der höheren, explikativen und erklärenden Ebenen 'widerlegen'. Hegel argumentiert dabei in der 'Logik' von oben nach unten, nicht aufbauend, sondern präsuppositionsanalytisch. Es werden auf diese Art die Unterstellungen der verschiedenen Wahrheits-, Gegenstands- und Objektivitätsbegriffe ausführlich deutlich gemacht.

Sein Ergebnis ist: Keine transzendentale Deduktion der Kausalität in einer Theorie des Erfahrungsgegenstandes und erst recht keine kausal erklärende Theorie kann die 'empraktische' Objektivität des Lebens, Handelns und Urteilens in Frage stellen. Auf diese Weise kann Hegel Fichtes Einsicht und Forderung in den Vorrang der tradierten Formen des Handelns und Wissens vor jedem Objektivitätsanspruch einer erklärenden Wissenschaft systematisch begründen. Jede physikalische ('mechanische' oder 'chemische') Erklärung wird gesehen als eingebunden in den Zusammenhang des instrumentellen Handelns und des Interesses an bedingten Prognosen.

Es ist dies die pragmatische Seite des Deutschen Idealismus, die auch bei Martin Heidegger in seine Existenzphilosophie zu finden ist. Hegels Philosophie aufgrund ihrer prinzipiellen Beschränkung der Wissens- und Erklärungsansprüche war nicht nur gegen eine szientistische Kosmologie gerichtet, sondern auch für die einzelnen empirischen Wissenschaften, sowie für den Fortschrittsglauben des späteren 19. Jahrhunderts und für das Selbstbewußtsein der wissenschaftlichen Aufklärung des 20. ein Stein des Anstosses.

Stekeler-Weithofer meint: „Man unterstellt ihr den Herrschaftsanspruch des Platzanweisers und verkennt ihr 'spekulatives' Bemühen um topographische oder logische Übersicht. Es geht in diesem Streit aber weniger um Hegel als um den Begriff kritischer Philosophie. Denn eines kann diese nie sein: Magd einer theologischen oder szientistischen Kosmologie oder Weltanschauung.“ [7]

Poppers Kritik am Szientismus

Nach Popper liegt die Gefährlichkeit des Szientismus in seinem falschen Verständnis der naturwissenschaftlichen Methode.[8] Der Szientismus geht demnach davon aus, dass sich Naturwissenschaft durch den Gebrauch einer induktiven Methode auszeichnet und dass eine solche Methode entsprechend auch in anderen Bereichen angewendet werden müsse. Nach Popper gibt es jedoch keine induktive Methode, und sie kann daher auch nicht die Methode der Naturwissenschaften sein. In seinem Kritischen Rationalismus vertritt er den Standpunkt, dass es durchaus richtig sei, von einer Einheitsmethode auszugehen, jedoch in Form eines Falsifikationsprinzips, das auf der aktiven Veränderung des Forschungsgegenstands im Experiment basiert und nicht, wie in der positivistischen Vorstellung, in Form passiver Beobachtung.

Gegenwartskritik

Verschiedene Philosophen sehen ihre Existenzbererechtigung von Naturwissenschaftlern in Frage gestellt. Der Autor Bernd Hille beschreibt dies mit folgenden Worten: „Wenn philosophische Gesellschaften mehr und mehr von Naturwissenschaftlern (besonders von Physikern) unterwandert und dominiert werden, wird der Szientismus zu einer Plage. Die Religionen wollten die Philosophie für sich vereinnahmen, der Szientismus aber, von der Wiener Schule bis Kanitscheider, sie abschaffen. So ist ganz klar, wer ihre größeren Gegner sind. Doch der Philosophie ihre Existenzbererechtigung abzusprechen ist eben auch eine Art des Philosophierens.“[9] Nicht aus dialektischer sondern aus existentieller Sicht, wird im Szientismus eine Bedrohung gesehen. „Genauso wie alles andere kann auch die Wissenschaft zu einem Götzen werden, wie es heute im starken Maße der Fall ist. Wissenschaft schlägt in Szientismus um, der sich in allwissender Manier zum Ebenbild eines 'absoluten Geistes' (Hegel) erhebt.“[10]

Einzelnachweise

  1. Robert Bannister: „Behaviorism, Scientism and the Rise of The "Expert"“
  2. Haack, Susan, (2003). Defending Science Within Reason: Between Scientism and Cynicism. Amherst, NY: Prometheus Books
  3. Rey, Abel. „Review of La Philosophie Moderne“, The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 6.2 (1909): 51-53.
  4. cf. Abraham Maslow: „There are criticisms of orthodox, 19th Century scientism and I intend to continue with this enterprise.“ Toward a Psychology of Being, Preface to 1st edition
  5. Zwartz, Barney; „Let's have a proper scientific debate“, The Age, 18 August, 2005
  6. Byrnes, Sholto. „'When it comes to facts, and explanations of facts, science is the only game in town'New Statesman 10 Apr. 2006.
  7. a b Stekeler-Weithofer, Pirmin: "Hegels Analytische Philosophie", Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1992, ISBN 3-506-78750-0
  8. Karl Popper: Die Einheit der Methode. Das Elend des Historizismus (Mohr Siebeck, 2003), 7. Auflage, ISBN 3161480252.
  9. Bernd Hille [1]
  10. Dirk Hübner: „Existentielle Kritik kontra "negatorische" Kritik, Entgegnungen zu Robert Kurz' "radikaler Kritik"“, 12.01.2006; [2]