Erziehung im Nationalsozialismus
Erziehung im Nationalsozialismus bezeichnet die Erziehungsansätze, die in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt oder angewendet wurden, um die NS-Weltanschauung durchzusetzen.
Der nationalsozialistische Staat hat einen Anspruch auf totale Erziehung gestellt und insofern könnten auch alle Formen der Propaganda und auch des Alltagslebens zur Erziehung im Nationalsozialismus gerechnet werden, dieser Beitrag beschränkt sich aber auf die gemeinhin unter Erziehung gefassten Aspekte der Erziehung.
Schon vor 1933 haben Pädagogen Überlegungen für eine nationalsozialistische Erziehung angestellt. Entsprechende Werke sind z.B. "Menschenformung" von Ernst Krieck und Hermann Nohls "Landbewegung".
Frühe Kindheit
Aus den Erziehungsschriften der Ärztin Johanna Haarers (1900 - 1988) wird deutlich, wie sehr die ideologische Forderung nach Härte im Nationalsozialismus auch den Umgang mit Kleinkindern geprägt hat. Sie behandelt Kinder ab der Geburt als Feinde, deren Schreien und Flehen nicht nachgegeben werden soll. Der Aufbau einer liebevollen Beziehung zwischen Eltern und Kindern soll verhindert werden – dabei ist die Kindererziehung selbstverständlich Aufgabe der Mutter.
Im Rahmen der Aktion Lebensborn werden Heime errichtet, in denen der Nachwuchs der SS gefördert werden sollte. Zu diesem Zweck förderten die Nazis Geburten auch lediger Frauen, die ihren rassistischen Kriterien entsprachen – in den deutschen Heimen werden ca. 8.000 Kinder geboren. Später entführten die Nazis auch Kinder aus den besetzen europäischen Ländern, die von ihrem Aussehen her dem Idealtypus des Ariers nahekamen, und gaben sie SS-Familien zur "Aufzucht".
Schule
Auch in der Schule ist ein Hauptziel der Nazis, ihre rassistische Ideologie zu verbreiten. Da sie relativ viel Geld in die Aufrüstung stecken, nutzen sie preiswert zu produzierende 'Zusatzhefte' die sie anstatt Schulbüchern anschaffen, um inhaltliche Vorgaben für den Unterricht zu geben.
Eines der obersten Ziele der Nationalsozialisten war es, die Kinder zu "rassebewussten Volksgenossen" zu erziehen und "ihren Körper zu stählen", also die körperliche Abhärtung. Erst an zweiter Stelle stand die geistige Erziehung, und dort vor allem die Erziehung zu Willens- und Entschlusskraft, zur Verschwiegenheit, Verantwortungsfreudigkeit und zum Aushalten von Strapazen. Erst an letzter Stelle stand die wissenschaftliche Bildung, sie wurde von Hitler in "Mein Kampf" mit größter Geringschätzung behandelt.
Aus Ablehnung der Aufklärung und des rationalen Fachunterrichts suchen die Nazis alternative Erziehungsformen, die sie in der Reformpädagogik finden. So ist es zu erklären, dass viele reformpädagogische Einrichtungen "erst" Mitte der 1930er Jahre geschlossen werden. So erklärt Wilhelm Kirchner 1939: "Wir werden also zum Beispiel rassenpolitische Erziehung nicht beginnen und erschöpfen mit gescheiten Abhandlungen zur Rassenthematik. Wir werden das Kind im Umgang mit Pflanze, Tier und Mensch jahrelang Anschauungen sammeln lassen, ohne das Wort Rasse überhaupt zu benutzen." (S. 39)
Ab 1937 strukturieren die Nazis das System der Oberschule um, schaffen die gemeinsame Beschulung von Jungen und Mädchen (Koedukation) ab und entwissenschaftlichen die Lehrerausbildung. Sie gründen im Sinne der Eliteförderung besondere Erziehungsanstalten, die von unterschiedlichen Flügeln des Nationalsozialismus getragen werden: z.B. die 'Nationalpolitischen Erziehungsanstalten' (NAPOLA), Adolf-Hitler-Schulen, die Reichsschule der NSDAP und die weiterführenden Ordensburgen.
Für die Nazis ist die Erfassung der Jugend in außerschulischen Organisationen der Hitlerjugend besonders wichtig, da sie hier mit stärkeren erlebnispädagogischen Ansätzen hoffen, einen gefühlsmäßigen Zugang zu den jungen Menschen zu bekommen, eine direkte ideologische Kontrolle des Geschehens zu erreichen und paramilitärische Erziehung realisieren zu können.
Ab 1944 bekommt die Einbeziehung der Jugend in die Kriegsanstrengungen noch eine besondere Bedeutung: sie missbrauchen Fünfzehnjährige als Flakhelfer und über Sechzehnjährige im "Volkssturm" als Soldaten.
Umgang mit Minderheiten
In der Weimarer Republik waren die Diskriminierungen von Minderheiten in der Schule weitgehend aufgehoben worden (auch wenn die Praxis teilweise anders aussah). Die rechtliche Gleichstellung vor allem der jüdischen und der Sinti und Roma-Kinder heben die Nazis nach der Machtergreifung auf. Mit dem 'Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' vom 7. April 1933 werden vor allem jüdische Professoren und Lehrer aus dem Staatsdienst entlassen.
Zudem begrenzen die Nazis den Anteil von "fremden" (vor allem jüdischen) Schülern in deutschen Klassen auf 1,5 %. In den folgenden Jahren verbieten sie ihnen die Teilnahme an Schulveranstaltungen, Klassenfahrten und Besuchen in Schullandheimen. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 werden öffentliche Schulen und Universitäten ganz für "Fremde" geschlossen. Die Hilfsschulen übernehmen die Aufgabe, Schüler auszulesen und besonders Sinti und Roma für die Sterilisation vorzuschlagen.
Die aus den öffentlichen Institutionen ausgeschlossenen Schüler sollen in Schulen der jüdischen Gemeinden bzw. der Sinti unterrichtet werden, wobei die Sinti häufig nicht über die Mittel verfügen, Schulen einzurichten. Die jüdischen Einrichtungen arbeiten anfangs an einer Stärkung der Verbundenheit der Schüler zu Deutschland, später bereiten sie vor allem die Emigration vor. Diese Schulen haben den Vorteil, dass sie ihre Schüler vor der terroristischen Propaganda der Umwelt beschützen. Andererseits bieten sie den Machthabern eine Kontrollmöglichkeit, die später die Deportation und Ermordung erleichtert. Mit der Realisierung des Holocausts werden die Sondereinrichtungen 1942 geschlossen.
Auch im besetzten Europa ist die Schulpolitik rassistisch geprägt: besonders in Polen richten die Deutschen ein Schulsystem ein, wie es Hermann Nohl schon 1933 gefordert hatte: es zielt auf die "Germanisierung" der "deutschstämmigen" Kinder und die Aussonderung und Versklavung der polnischen Schüler ab. Die polnischen Pädagogen werden entlassen, 17.000 werden unter deutscher Herrschaft ermordet, darunter auch Janusz Korcak (1878 - 1942). Heinrich Himmler fordert 1940, es dürfe für die Slawen keine höhere Schule geben. "Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich."
Widerstand
Nach dem Ausschluss "abweichender" Lehrer hat der Nationalismus einen hohen Organisationsgrad unter der deutschen Lehrerschaft: bis 1936 treten 97 % dem Nationalsozialistischen Lehrerbund bei, über 30 % werden Mitglieder der NSDAP oder anderer NS-Organisationen. Organisierten Widerstand von Lehrern gibt es nur vereinzelt – öfters gibt es aber Formen der "inneren Distanzierung" vom Nationalsozialismus, was sich unter anderem dadurch ausdrückt, dass die vorgegebenen Erziehungsinhalte nicht oder nur mit deutlicher Distanz dargestellt werden.
Dagegen gibt es häufiger Formen des Jugendwiderstandes, der sich insbesondere gegen die ideologische Vereinnahmung durch die Hitlerjugend (HJ) richtete. Beispiele dafür sind z.B. die Weiße Rose, die Gruppen um Herbert Baum und die um Helmuth Hübner oder die Edelweißpiraten.
Gegen widerständische Jugendliche richten die Nazis Jugendkonzentrationslager in Moringen (Jungen), Uckermark (Mädchen) und Litzmannstadt (polnische Jugendliche) ein.
NS-Erziehungswissenschaften
Die Erziehungswissenschaften im Nationalsozialismus unterliegen verschiedenen Tendenzen: einerseits versuchen sie, sich den Machthabern anzudienen und Konzepte für die Umsetzung ihrer rassistischen Weltanschauung zu entwickeln. Andererseits versuchen sie die Autonomie der Pädagogik und Wissenschaft zu bewahren und die Ansätze der HJ sind ihnen häufig ein Dorn im Auge.
Ernst Krieck (1882 - 1947) hat als erster eine nationalsozialistische Pädagogik formuliert: er geht von einem faschistischen organischen Gesellschaftsmodell aus, in dem Erziehung der Zurichtung auf die aus der Herkunft ableitbare soziale Position dient, entsprechend benutzt er den Begriff "Zucht". Alfred Baeumler (1887 - 1968) schreibt: "Es ist die Schule von der Rasse her, die wir suchen." (1942, S. 70). Theodor Wilhelm (*1906), selbst SA-Mitglied, legitimiert in den unten angegebenen Schriften die Machenschaften der Nazis: sowohl den Ausschluss der jüdischen Beamten wie auch die Ermordung der ungarischen Juden, die er als eine "europäische Aufgabe" sieht.
Schlussfolgerungen
Erziehung im Nationalsozialismus ist nicht auf die Zeit der Nazi-Herrschaft (1933-1945) zu begrenzen. Dagegen spricht auch die Kontinuität, die das deutsche Bildungssystem zeigt. Mit der Re-education werden alleine die offen nationalsozialistischen Elemente entfernt, nicht aber die autoritären Grundstrukturen die z.B. die soziale Reproduktion bewirken, die im deutschen Bildungssystem besonders stark ist. Jemand wie Theodor Wilhelm kann nach einer kurzen Kriegsgefangenschaft schon 1945 wieder als Lehrer arbeiten und wird 1951 sogar Professor für Pädagogik in Flensburg.
Literatur
- Alfred Bäumler: Bildung und Gemeinschaft Berlin, Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1942.
- Lutz van Dijk: Oppositionelles Lehrerverhalten 1933 - 1945, 1988, ISBN 3779906775.
- Deborah Dwork: Kinder mit dem gelben Stern, Europa 1933-1945, 1994, ISBN 3-406-38016-6.
- Henning Heske: "... und morgen die ganze Welt ...", Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus. Gießen: Focus Verlag, 1988. ISBN 3-88349-363-5
- Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur, 2 Bde., Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung; Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust, 2001, ISBN 3896789910.
- Martin Kipp, Gisela Miller-Kipp: Erkundungen im Halbdunkel, Einundzwanzig Studien zur Berufserziehung und Pädagogik im Nationalsozialismus, 1995, ISBN 3925070141.
- W. Kirchner: Die völkische Landschule im Aufbruch, Frankfurt am Main: Diesterweg, 1939.
- Wolfgang Klafki (Hg.): Verführung - Distanzierung - Ernüchterung, Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Reihe Pädagogik; 1988, ISBN 340734015X.
- Ernst Krieck: Menschenformung, 4. Auflage, Leipzig: Quelle & Meyer, 1939.
- Ernst Krieck: Nationalpolitische Erziehung, 20. Auflage, Leipzig: Armanen-Verlag, 1939.
- Ernst Krieck: Grundriß der Erziehungswissenschaft, Leipzig: Quelle & Meyer, 1944.
- J. Haarer: Unsere kleinen Kinder, 6. Auflage, München: Lehmanns, 1940.
- J. Haarer: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, ohne Angabe der Auflage, München: Lehmanns, 1942.
- Johannes Leeb: Wir waren Hitlers Eliteschüler, Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, 1999, ISBN 3453165047.
- Karl-Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungsthorien im nationalsozialistischen Deutschland, Ursprünge und Wandlungen der 1933 - 1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen; ihre politische Funktionen und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis des "Dritten Reiches", Frankfurt am Main: dipa, 1987.
- Karin Neidhart: Nationalsozialistisches Gedankengut in der Schweiz. Eine vergleichende Studie schweizerischer und deutscher Schulbücher zwischen 1900 und 1945, Peter Lang Verlag : Bern u.a. 2004, ISBN 3-631-51892-7.
- Hermann Nohl: Landbewegung, Osthilfe und die Aufgabe der Pädagogik, Leipzig: Quelle & Meyer, 1933.
- Benjamin Ortmeyer: Schulzeit unterm Hitlerbild, Analysen, Berichte, Dokumente, 2000, ISBN 3860992066.
- Detlev J. K. Peukert: Die Edelweißpiraten, 1988, 3. Auflage, ISBN 376633106X.
- Kurt Piehl: Rebellen mit dem Edelweiß, Von den Nazis zu den Yankees, Roman eines Edelweißpiraten, 1985, ISBN 3925798889.
- Ruth Röcher: Die jüdische Schule im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1942, 1992, ISBN 3763801731.
- Christian Schneider, Cordelia Stillke, Bernd Leineweber: Das Erbe der Napola, Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, 1996, ISBN 3930908255.
- H. Schnorrbach (Hg.): Lehrer und Schule unterm Hakenkreuz. Dokumente des Widerstands von 1930 bis 1945, 2. Auflage, Bodenheim: Syndikat, 1995.
- Theodor Wilhelm: Die Idee des Berufsbeamtentums. Ein Beitrag zur Staatslehre des deutschen Frühkonstitutionalismus, Tübingen: Mohr, 1933.
- Theodor Wilhelm: Die kulturelle Kraft Europas im Kriege, in: Internationale Zeitschrift für Erziehung, 13, Heft 1/2, 1944, S. 1 - 14.