Freiwirtschaft

Wirtschaftsmodell aus dem 20. Jahrhundert
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Freiwirtschaft ist eine Wirtschaftstheorie basierend auf den Ideen Silvio Gesells, nach der der Zins- und Zinseszins-Mechanismus als ungerechter und die Wirtschaft lähmender Umverteilungsprozess des Geldvermögens aufgefasst wird. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das private Bodeneigentum. Nach Auffassung der Freiwirtschaftler liegt beim Grundbesitz eine starke Konzentration des Eigentums vor, so dass sie von einem faktischen Monopol sprechen, das die freie wirtschaftliche Entfaltung vieler anderer begrenze.

Hauptziel der Freiwirtschaft ist somit eine von diesen Monopolen befreite Marktwirtschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, fordern die Vertreter der Freiwirtschaftslehre die Einführung von Freigeld und Freiland. Silvio Gesell entwickelte seine Theorie zu Beginn der 20. Jahrhunderts und veröffentlichte seine wichtigsten Thesen erstmals im Jahre 1916 in dem Buch "Die natürliche Wirtschaftsordnung". Die Freiwirtschaftslehre distanziert sich dabei sowohl vom Kapitalismus als auch vom Sozialismus.

Die Nationalsozialisten griffen anfangs einige Schlagworte der Freiwirtschaft auf und propagierten etwa die "Brechung der Zinsknechtschaft" gegenüber dem Judentum, allerdings zeigte ihre Wirtschafts- und Geldpolitik in Deutschland nach 1933 keine freiwirtschaftlichen Elemente.

Die Freiwirtschaftslehre wird von der universitären Wirtschaftswissenschaft und den Vertretern moderner Wirtschaftstheorien weitgehend ignoriert.

Thesen der Freiwirtschaft

Fehler des Geldsystems

Der Theorie der Freiwirtschaft nach hat unser derzeitiges Geldsystem folgende Fehler:

Geld kann prinzipiell gehortet werden und steht in diesem Fall dem Wirtschaftskreislauf nicht mehr zur Verfügung. Durch das Zurückhalten von Geld sinkt die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Um dieses Problem einzudämmen, werden Zinsen für das Leihen von Geld bezahlt, wodurch das Geld wieder nachfragewirksam wird. Zinsen unterstützen aber langfristig die Kapitalkonzentration und Monopolbildung und tragen zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich bei.

Außerdem sind Zinsen nach Auffassung der Freiwirtschaft auch ein recht unzuverlässiges Mittel der Umlaufsicherung. Wenn der Zins nicht attraktiv genug ist wird das Geld nicht investiert, sondern gehortet und für Spekulationsgeschäfte eingesetzt. Demgegenüber werden diejenigen Wirtschaftsteilnehmer benachteiligt, welche auf eine entsprechende Nachfrage nach ihren Produkten und Dienstleistungen angewiesen sind.

Denn im Gegensatz zu Geld verlieren Waren schnell an Wert, wenn sie gelagert werden müssen bzw. verursachen hohe Kosten. Bei starker Zurückhaltung von Geld kommt es irgendwann zur Deflation, da die Unternehmen gezwungen sind, ihre Preise zu senken. Die Marktteilnehmer merken nicht, dass sie durch die Geldzurückhaltung eine positve Rückkopplung dieser Tendenz verursachen und damit genau die Wirtschaft zerstören, die ihnen für Geld etwas leisten soll.

Diese Rückkopplung in die genau falsche Richtung ist selbstdestabilisierend. Der Theorie der Freiwirtschaft nach ist diese systembedingte Selbstdestabilisierung eine der Hauptursachen für den Krisenzyklus der Wirtschaft.

Um das Horten von Geld unattrativ und zu seiner Wiederverwendung als Tauschmittel beizutragen, sowie gleichzeitig das Geld den Waren gleichzustellen, müsste es zeitlich ebenfalls an Wert verlieren, statt sich selbst zu vermehren. Dieser Ansatz wird von der Freiwirtschaft verfolgt und eine Lösung in Form von negativen Zinsen vorgeschlagen.

Konsequenzen und Umsetzung

Das Geld einer Volkswirtschaft nach freiwirtschaftlichen Prinzipien ist Freigeld, es hat nur befristet vollen Wert und muss regelmäßig gegen eine Umlaufsicherungsgebühr, z.B. 1 % im Monat, erneuert werden oder, um der Gebühr zu entgehen, vor Ablauf des Verfallsdatums zum Erwerb von Gütern und Dienstleistungen ausgegeben werden.

Aktien, Anleihen und Bankguthaben ermöglichen die langfristige Kapitalanlage, während das Geld allein für kurzfristige Tauschzwecke dient, womit umlaufschädigende Guthaben aller Art langfristig auf ein Minimum reduziert werden. Die These, große Guthaben dienten unter Umständen großen Investionen, gilt als nicht gültig, denn ist Geld im Umlauf, entspricht es bereits einer Investition bzw. dem Mehrumsatz eines Wirtschaftszweiges.

Der Boden gehört als Freiland der Gemeinde und kann von Privat- und juristischen Personen nur selbst genutzt oder gepachtet werden. Auf welche Weise Miet- und Pachtobjekte in Allgemeineigentum umgewandelt werden können und sollen, wird unter den Vertretern der Freiwirtschaft diskutiert.

Bodenrente, Miete und Zins sind als "arbeitslose Einkommen" definiert, die durch Überlassung knapper Güter erzielt werden. Nach freiwirtschaftlichen Beipielrechnungen müssen heute im Durchschnitt rund 50 % der erzielten Preise zur Deckung von Renten- und Zinsforderungen verwandt werden. Diese Einkommen sollen der Allgemeinheit zugeführt werden.

Ziele

  • Die allgemeinen Zinsen auf Guthaben bzw. Renditen von Kapitalanlagen sollen durch die Umlaufgebühr des Freigeldes als allein gültiges Zahlungs- und Sparmittel aufgehoben werden.
  • Dadurch keine künstliche Realkapitalverknappung bzw. eine gleichmäßige und dauerhafte (Hoch-)Konjunktur durch den durch die Umlaufgebühr hervorgerufenen maximalen Investitions- und Konsumzwang, wodurch es weniger professionelle Spekulanten, aber mehr Spekulation der Allgemeinheit gibt, denn eine Geldwirtschaft ist unprofitabel und daher kaum vorhanden.
  • Starke Verkleinerung der Kluft zwischen Arm und Reich durch die Unattraktivität des Zinses und verhinderter Vermögenskonzentrationen
  • Die Freiwirtschaft hat ursprünglich keine konkrete ökologische Komponente; man geht aber davon aus, dass sie Liquidität für umweltschonende Investitionen zur Verfügung stellt und sich der steigende Ressourcenverbrauch einer wachsenden Volkswirtschaft durch ergänzende Maßnahmen (beispielsweise Ökosteuer) kompensieren läßt.

Die Freiwirtschaft in der Praxis

Die Brakteaten

Bereits im Hochmittelalter wurde eine Art Freigeld eingeführt. Landesfürsten ließen die damaligen Münzen (Brakteaten) in regelmäßigen Abständen einziehen und gaben neue Münzen mit niedrigerem Wert aus. Dieses System einer halbjährlichen 25%-Abwertung des Geldes zu einem Stichtag entspricht einer Umlaufgebühr, die auch für Freigeld charakteristisch ist. Der zu dieser Zeit stattfindende Wirtschaftsaufschwung wird von den Freiwirtschaftlern mit dem Geldsystem in Verbindung gebracht.

Der Modellversuch von Wörgl

Im Jahr 1932 wurde in der Tiroler Gemeinde Wörgl aufgrund der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ein Modellversuch mit freiwirtschaftlichem Ansatz durchgeführt. Kernpunkt war die Einführung einer mit einer Umlaufsicherungsgebühr behafteten Währung mit einer 1%-Abwertung im Monat. In der Folgezeit wurde der Geldkreislauf und auch die Wirtschaftstätigkeit – entgegen dem allgemeinen Trend – wiederbelebt. Die positiven Auswirkungen führten dazu, dass man den Modellversuch in der Presse damals als das "Wunder von Wörgl" bezeichnete und das Interesse daran derart stieg, dass über hundert weitere Gemeinden in Österreich dem Beispiel folgen wollten. Allerdings legte die Österreichische Nationalbank vor Gericht erfolgreich Widerspruch ein, woraufhin das Modell von Wörgl und alle weiteren Planungen verboten wurden. Da in der Folge die Weltwirtschaft wieder anzog und bald darauf der 2. Weltkrieg ausbrach, gerieten das Modell und sein Erfolg schnell wieder in Vergessenheit.

Wirtschaftskrise in Japan

Als sich die Volkswirtschaft Japans in den 1990er Jahren nach allgemeinem Verständnis in einer Liquiditätsfalle befand und als Reaktion das Zinsniveau zeitweise sogar unter Null sank, sahen Anhänger der Freiwirtschaft ihre Argumente bestätigt.

Moderne Regiogeld-Modelle

Verschiedene moderne Regiogeld-Projekte und Tauschringe beziehen sich ebenfalls auf freiwirtschaftliche Ansätze (beispielsweise in Form einer Umlaufsicherung) und verknüpfen diese mit den Zielen regionaler Wirtschaftsförderung.

Organisationen der Freiwirtschaft

Die traditionellen Freiwirte haben sich unter anderem im

Als politische Organisation wurde 1947 die Radikal-soziale Freiheitspartei RSF gegründet. 1953 entstand als Nachfolgeorganisation die Freisoziale Union (FSU), die inzwischen in der Humanwirtschaftspartei aufgegangen ist. Innerhalb der Partei Bündnis 90 / Die Grünen gibt es die Aktion Dritter Weg / Liberalsoziale, die freiwirtschafliche Ideen vertritt und sie in der Zeitschrift "Alternativen" veröffentlicht.

Folgende private Bildungseinrichtungen versuchen durch Kurse, Tagungen und die Herausgabe von Zeitschriften die freiwirtschaftlichen Theorien zu verbreiten:

  • In Varel befinden sich die Freiwirtschaftliche Bibliothek und das Wissenschaftliche Archiv der Freiwirtschaftsbewegung.

Rolle der Freiwirtschaft in den Wirtschaftswissenschaften

Die Freiwirtschaft wird in den gängigen wissenschaftlichen Lehrbüchern der VWL nicht erwähnt. Lediglich bei John Maynard Keynes findet sich eine positive Erwähnung. Auch in den führenden ökonomischen Zeitschriften lässt sich praktisch keine Forschungstätigkeit der Freiwirtschaftler belegen. Die wissenschaftlichen Diskussionen der Freiwirtschaftler beschränken sich auf den Kreis eigener Publikationen (z.B. die "Humanwirtschaft").

Kritik an der Freiwirtschaft

Kritiker bezweifeln die Grundannahmen und die Umsetzbarkeit der Freiwirtschaftstheorie. Vertreter der gängigen Wirtschaftswissenschaft sehen kein Problem der Bargeldhortung oder einer (empirisch umstrittenen) sinkenden Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die positiven Effekte wie im Wörgler Experiment erklären die Gegner der Freiwirtschaft mit anderen Mechanismen, etwa mit der Erwartungshaltung der Beteiligten. So wurden diese Effekte zum Teil auch bei Regiogeld-Versuchen beobachtet, die ohne Umlaufgebühr auskamen, also keinen freiwirtschaftlichen Ansatz hatten.

Ein wichtiger Kritikpunkt ist die Gefahr der Kapitalflucht in andere Geldsysteme oder andere Wertgegenstände (Edelmetalle, Kunstwerke, Immobilien). Etwaige Enteignungen durch die Einführung von Freiland werden auch von Anhängern der Freiwirtschaftslehre kontrovers diskutiert.

Literatur

  • Werner Onken: Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Leben und Werk (ISBN 3-87998-439-5)
  • Roland Wirth: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Eine Neubewertung der Freiwirtschaftslehre aus wirtschaftsethischer Sicht (St. Gallen 2003) (ISBN 3-258-06683-3)
  • Bernd Senf: Der Nebel um das Geld. Zinsproblematik – Währungssysteme – Wirtschaftskrisen. Ein Aufklärungsbuch (7. Auflage 2004) (ISBN 3-87998-435-2)