Dirnenlied

Liedgattung
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Dirnenlied: Spezifische Liedgattung, deren Thematik um Leben oder Figur der Dirne und des Prostitutionsmilieus kreist und die insbesondere auf den Bühnen der Kabaretts und Cabarets im ersten drittel des 20. Jahrhunderts zur Blühte gelangte. Der Begriff taucht zum ersten Mal in Hans Ostwalds Sammlung "Lieder aus dem Rinnstein" (3.Bde. Berlin: 1903-1908) auf. Als Dirnenlieder im engeren Sinn gelten Rollenlieder, in denen eine Prostituierte aus der Ich-Perspektive über ihr eigenes Leben berichtet - als Dirnenlieder im weiteren Sinn gelten Lieder, die thematisch rund um das Dirnenmilieu angesiedelt sind - z.B. Zuhälterballaden, Milieuchansons u.a.

Das Genre wird aus dem Geist des französischen Naturalismus in den Cabarets des Montmartres geboren - insbesondere durch den französischen Chansonnier Aristide Bruant, der als erster bekannter Chansonnier vom Leben der Dirnen und Zuhälter am Montmartre singt. Bald darauf werden seine anrüchigen Chansons durch die französischen Diseuse Yvette Guilbert auch im deutschen Sprachraum bekannt.

Die deutsche Kabarettb-Boheme übernahm das Genre von den französischen Vorreitern. Zu den Autoren, die bekannte Dirnenlieder verfassten gehörten Karl Henckell, Frank Wedekind, Alfred Lichtenstein, Otto Julius Bierbaum, Leo Greiner, Ernst von Wolzogen, Margarete Beutler, Hugo Egon Strasburger, Richard Zoozmann, Oscar Wiener, Jakob van Hoddis, Friedrich Hollaender, Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Klabund, Hans Adler, Leo Heller, Bertolt Brecht u.v.a

In der Dirne findet die Boheme eine radikale Kampffigur gegen diese moralischen Werte. Die Dirne tritt in ihrer Darstellung dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal, der entsexualisierten Madonna-Mutter, die Attribut ihres Ehegatten ist, entgegen. Sie ist das Antiideal, die Inkarnation der freien Sexualität, die selbstständige weibliche Unternehmerin. Dem Kult der Dirnenlieder auf dem Kabarett ist jedoch nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Mit dem Aufbruch in eine neue gesellschaftliche Moral in den 20er Jahren und der Uniformierung der Weiblichkeit durch den amerikanischen Girl-Kult geht die antibürgerliche Kampfkraft der Dirnenfigur zurück und mit ihr verschwinden auch die Dirnenlieder von den Brettern der Kabaretts praktisch zur Gänze.

Literatur: Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied im literarischen Kabarett von 1901-1933. Diss. Wien: 2004. (S.483)