Timaios

Dialog von Platon
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Der Timaios ist ein um 360 v. Chr. verfasstes theoretisches Spätwerk des griechischen Philosophen Platon, das sich mit naturphilosophischen Überlegungen, Kosmologie, Physiologie, Physik im ursprünglichen Sinne von „Naturlehre“ und der metaphysischen Erklärung der Welt beschäftigt.

Platon (l.) mit dem Timaios in der Hand und Aristoteles, der die Nikomachische Ethik hält. Ausschnitt aus: Raffaels Die Schule von Athen (1510-1511) Fresco in der Stanza della Segnatura (Vatikan).

Nach einem einleitenden Gespräch zwischen den Dialogteilnehmern Sokrates, Timaios, Hermokrates und Kritias, welches schemenhaft den Idealstaat der Politeia resümiert, beginnt die eigentliche Rede des Astronomen Timaios von Lokri.[1] In der darauf folgenden Abhandlung grenzt sich der Timaios von Platons früheren Dialogen dadurch ab, dass er nach einem kurzen dialogischen Vorgespräch als fast ununterbrochener Monolog geschrieben ist.

Zusammen mit dem fragmentarisch erhaltenen Kritias und dem geplanten, jedoch niemals tatsächlich geschriebenen Hermokrates war der Timaios vermutlich als Teil einer Trilogie gedacht,[2] welche neben der naturphilosophischen Thematik des Timaios und der Menschheitsgeschichte im Kritias wahrscheinlich auch die Beschreibung des Werdegangs zum Idealstaates im Hermokrates umfassen hätte sollen.[3] In kürzerer Form als im Kritias erwähnt der Timaios auch den Kampf zwischen dem archaischen Athen und der Insel Atlantis und stellt somit einen staatsutopischen Ausblick auf den platonischen Mythos des Folgewerks her. Aufgrund dieser inhaltlicher Überschneidungen mit dem Kritias spricht man in der Forschung häufig zusammenfassend von Timaios-Kritias.[4]

Die literarische Hauptfigur Timaios von Lokri ist einem im 5. Jahrhundert v. Chr. lebenden Pythagoreer entlehnt, dessen historische Existenz jedoch umstritten ist. Neben dem nach ihm benannten Dialog lässt Platon ihn auch im Kritias auftreten.

Inhaltliche Einleitung

Nach Platons Angaben findet der fiktive Dialog einen Tag nach einem weiteren Gespräch statt, bei dem Sokrates seinen Idealstaat - ähnlich wie in der Politeia - präsentiert hätte (Tim. 17 b-c). Darauf folgt eine kurze Rekapitulation der Kernpunkte dieses Idealstaates, welche sich auf dessen ständestaatlichen Aufbau, Erziehung und Lebensweise der Herrscher und eugenische Maßnahmen beschränken (Tim. 17 c-19 a). Sokrates erwidert, dass er sich eine paradigmatische Umsetzung dieses Modells wünsche, „denn gern wohl möchte ich etwa jemandem zuhören, wenn er erzählt, wie unser Staat die Wettkämpfe, die ein Staat zu bestehen hat, mit anderen Staaten austrägt und wie er in geziemender Weise in den Krieg eintritt [...].“ (Tim. 19c)

Hermokrates will Sokrates' Wunsch nachkommen und erwähnt, dass Kritias auf dem Heimweg vom gestrigen Gespräch eine „Sage aus alter Überlieferung“ eingefallen wäre, welche zu dem eben rekapitulierten Staatsmodell passe (Tim. 20 b). Kritias gibt darauf einen kurzen Überblick über das - im Sinne der platonischen Staatsphilosophie - ideale Ur-Athen und seinen Kampf gegen die Insel Atlantis vor neuntausend Jahren, welcher mit dem Untergang beider geendet hätte (Tim. 20 d ff.).

Kritias legt schließlich die Reihenfolge der einzelnen Vorträge fest: Timaios solle mit seiner Rede über die „Entstehung der Welt“ bis zum „Ursprung des Menschen“ beginnen, worauf Kritias anschließend den Schwerpunkt der Staatsphilosophie am Beispiel des Atlantis-Mythos aufgreifen und Hermokrates seinerseits die Trilogie abschließen würde (Tim. 27 a-b).

Daraufhin beginnt Timaios mit einem Götteranruf seinen Vortrag über Kosmologie.

Inhalt und Konzeption

Die Natur der physikalischen Welt

Timaios beginnt seinen Vortrag mit der Unterscheidung zwischen dem Werdenden (τὸ γιγνόμενον) und dem Seienden (τὸ ὄν), also dem Gegensatz der physikalischen Welt und den ewigen Prinzipien. Die sichtbare Natur ist dabei durch „Meinung“ und „vernunftlose Wahrnehmung“ fassbar und dem Werdenden zuzurechnen, während die Welt der Ideen, die als ewige Urformen dem Bereich des Seienden angehören, nur dem Denken offen steht.

Dabei ist jeder Vortrag über die beiden unterschiedlichen Bereiche von der jeweiligen Natur ihrer Objekte bedingt: Spricht man also „vom Bleibenden und Festen und von dem, was sich durch die Einsicht erhellen lässt, da sollen es auch bleibende und unumstößliche Worte sein (...).“ (Tim. 29 b) Da die physikalische Welt aber nur als eine Art Abbild Anteil am Seienden hat, kann auch die Rede darüber nur einen bildhaften oder gleichnisähnlichen Charakter annehmen; der direkte Zugang zur Ideenwelt bleibt ihr verschlossen. Daher ist ein diesbezüglicher Vortrag nicht mit der Wahrheit des Seienden identisch, sondern kann nur „wahrscheinlich“ sein (εἴκος λόγος); denn „wie zum Werden das Sein, so verhält sich zum Glauben die Wahrheit.“ (Tim. 29 c-d)

Da alles Werdende als das Resultat einer Ursache zu sehen ist, postuliert Timaios, dass ein Demiurg alles Werdende gewissermaßen als Vater des Universums erschaffen haben muss. Aufgrund der Schönheit und vernunftgemäßen Ordnung des Kosmos folgert Timaios, dem Schöpfergött müsse die Ideenwelt als Vorbild gedient haben. Denn „überall nun, wo der Schöpfer jeweils auf das hinblickt, was mit sich selbst identisch ist, indem er etwas Derartiges als Vorbild verwendet und danach den Gehalt seines Werkes nachschafft, da muss notwendig alles schön sein, was auf diese Weise zustande kommt.“ (Tim. 28 a-b)

Die Erschaffung des Kosmos

 
William Blakes The Ancient of Days (1794)

Timaios fährt mit der Beschreibung der Genesis fort, welche als die göttliche Fertigung des Demiurgen beschrieben wird. Gütig und neidlos war der Demiurg bestrebt, die bestmögliche Weltordnung nach dem Vorbild der Ideen aus dem ursprünglichen Chaos zu schaffen. Dabei ordnete er „alles, was sichtbar war und nicht in Ruhe verharrte, sondern sich reglos und ungeordnet bewegte, und brachte es aus der Unordnung zur Ordnung, weil er meinte, dass die Ordnung auf jeden Fall besser sei als die Unordnung.“ (Tim. 30 a). Aus dem formlosen und unkontrolliert bewegten Chaos der Elemente, das sich für Platon als ein Mangel an homogener Ordnung charakterisiert, geht der geordnete Kosmos hervor, welcher der göttlichen Vorstellung von Schönheit entspricht.

Da sich Schönheit in Vernunft ausdrückt und Vernunft in einer Seele eingebettet sein muss, verlieh der Demiurg der Seele Vernunft und setzte diese der Materie ein, woraus der Kosmos als „beseeltes und vernünftiges Wesen“ hervorging (Tim. 30 b). Diese kosmische Schönheit wäre nicht perfekt, wenn es mehrere Welten gäbe und der bekannte Kosmos nur als Teil, nicht als ein unvergleichliches Unikum existieren würde. Daher erschuf der Demiurg nur eine singuläre Welt (Tim. 31 a-b).

Der physikalische Anteil des Kosmos entspricht dabei dem göttlichen Streben nach Proportionen: Aus den Elementen Feuer und Erde für das Sichtbare bzw. das Tastbare erschuf der Demiurg nach Platon die Welt und verband sie als entgegen gesetzte Bindeglieder mit Wasser und Luft, woraus sich der dreidimensionale Raum ergibt: „Deswegen also und mit Hilfe dieser Elemente und ihrer Vierzahl wurde der Leib der Welt geschaffen; dank der Proportion stand er mit sich selbst im Einklang und es ergab sich daraus eine solche Befreundetheit (seiner Teile), dass er zu einer homogenen Einheit zusammnwuchs.“ (Tim. 31-33)

Im Streben nach Harmonie wurde die Welt in Kugelform „als ein vollständiges Ganzes“ erschaffen und in Rotation versetzt. Dem Körper des Kosmos setzte der Demiurg die vernunftbegabte Seele ein, welche in der ganzen Schöpfung verteilt Ausdruck der Schönheit des Erschaffenen ist und den Kosmos selbst zur „glückseligen Gottheit“ macht (Tim. 34 b).

Inwieweit diese Darstellung der Welterschaffung durch den Demiurgen wörtlich zu nehmen ist - also ob nach Platons Meinung die Welt wirklich im zeitlichen Sinne nach und nach entstand und ob dies tatsächlich durch die Lenkung eines personalen Gottes geschah - ist in der Forschung umstritten.

Zentraler Bestandteil der Platonischen Naturphilosophie ist die Lehre von den vier Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft, denen jeweils einer der vier so genannten Platonischen Körper zugeordnet wird: der Erde der Würfel, der Luft der Oktaeder, dem Wasser der Ikosaeder und dem Feuer der Tetraeder.

Historizität der Figur Timaios

siehe Hauptartikel: Timaios von Lokri

Timaios von Lokri, der im gleichnamigen Dialog Platons wie auch im „Kritias“ einen Dialogteilnehmer darstellt, war ein im 5. Jahrhundert v. Chr. lebender Philosoph aus der Schule der Pythagoreer. Seine historische Existenz bleibt jedoch unsicher, da er lediglich bei Platon Erwähnung findet.

Kommentare

Den ersten Kommentar zum Timaios schrieb der antike Philosoph Krantor von Soloi († 276 oder 275 v. Chr.), der jedoch lediglich fragmentarisch im Timaios-Kommentar des Neuplatonikers und Neupythagoreers Proklos aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. erhalten blieb. Krantor betont vor allem hinsichtlich der platonischen Kosmologie die Zeitlosigkeit der Seinsordnung. Dass Platon im Timaios den Kosmos als eine vom Demiurgen geschaffene Ordnung beschreibt, die von der zeitlichen Dimension abhängt, ist nach Krantors Auffassung nicht wörtlich als zeitliches Nacheinander zu verstehen, sondern vielmehr als mythische-didaktische Illustration der Abhängigkeit des Bewirkten vom Verursacher.

Die Erzählung von Atlantis, die Platon im Timaios kurz eröffnet, hielt Krantor für eine geschichtliche Tatsache, für die er als einer der Ersten über Platons Angaben hinausgehende historische Beweise suchte. Krantor behauptet, auf Stelen im ägyptischen Sais, aus dem die Atlantis-Erzählung laut Platon ursprünglich stammen solle, Aufzeichnungen entdeckt zu haben, welche dies bestätigen würden.[5] Die Existenz derartiger epigraphischer Belege wird jedoch gemeinhin bezweifelt; dennoch ist die Meinung Krantors ein Beweis für eine frühe Diskussion um Fiktion oder Realität der Atlantis-Erzählung.[6]

Der Neuplatoniker Proklos Diadochos (* um 410; † 485) verfasste ebenfalls einen Timaios-Kommentar, worin die platonische Gedankenwelt - ähnlich wie bei seinen Kommentaren zu Alkibiades, Kratylos, Parmenides und der Politeia - im Sinne der eigenen Hermeneutik interpretiert wird. In Bezug auf den Atlantis-Mythos beispielsweise zitiert Proklos auch Krantor und erstellt eine Übersicht verschiedener neuplatonischer Interpretationsansätze.

Quellenangaben

  1. Hinweis auf den Beruf des Timaios gibt Platon, Timaios, 27a
  2. Bichler, Athen besiegt Atlantis, S. 74
  3. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 40. Halbband, 2506 (Leisegang)
  4. z.B. Calvo/Brisson 1997 oder Lampert/Planeux 1998
  5. Proklos, Procli Diadochi in Platonis Timaeum Commentaria, I, S. 75, 30 ff. (Diehl), (= FGrHist 665 F 31)
  6. Nesselrath, Atlantis auf ägyptischen Stelen?, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, Bd. 135 (2001), S. 33

Literatur

  • Francis MacDonald Cornford: Plato's Cosmology. The Timaeus of Plato, translated with a running commentray. London 1937, div. Nachdrucke (engl.).
  • Thomas Kjeller Johansen: Plato's natural philosophy. A study of the Timaeus-Critias. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2004 (engl.).
  • Thomas Henri Martin: Etudes sur le Timée. Paris 1841 (frz.).
  • Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 40. Halbband, 2506 (Leisegang)
  • Alfred E. Taylor: A commentary on Plato's Timaeus. Oxford 1928 (engl.).