Nächstenliebe

helfendes Handeln für andere Menschen
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Nächstenliebe ist ein zentrales Gebot der Bibel (Lev 19,18 EU):

Rembrandt van Rijn:
Der barmherzige Samariter
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin JHWH.

Dem Hebräischen folgt auch die Übersetzung (z.B. Die Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig):

Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.

Mit der ganzen Tora (1.-5. Buch Mose) gilt dies Gebot im Judentum als Wort Gottes und damit Grundorientierung und Leitforderung der gesamten Religionsausübung. Für die Rabbiner ist es im Anschluss an die biblische Prophetie ebenso wesentlich für den jüdischen Gottesdienst wie die Gottesliebe (siehe Jüdische Ethik). Ebenso hat Jesus von Nazaret das Gebot der Nächstenliebe als gleichwesentlich mit dem 1. Gebot bekräftigt (Mk 12,31 EU). Zudem hat er es wie vor ihm einige Rabbiner, z.B. Hillel, auch auf Ausländer bezogen, und als Feindesliebe in akuter Verfolgungssituation aktualisiert (Mt 5,38-48 EU). Von da aus wurde es auch ein Zentralbegriff der christlichen Ethik.

Hebräische Bibel

 
Nächstenliebe und Fremdenliebe:
Gebote in der Tora

Das Gebot der Nächstenliebe steht im Rahmen des Heiligkeitsgesetzes im 3. Buch Mose. Es bildet dort den Abschluss und die Summe einer Gebotsreihe, die ähnlich wie die Zehn Gebote die wesentlichen Grundforderungen des Willens Gottes gegenüber dem erwählten Volk Israel zusammenstellt. Es wird auf die Situation eines Streites unter Juden bezogen, den die Befolgung der Gebote lösen soll:

Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin JHWH. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks.

An die Stelle all dieser abgewiesenen Verhaltensweisen soll nach der Tora die Nächstenliebe treten. Gleichrangig zur Seite steht diesem Gebot wenige Verse darauf das Gebot der Fremdenliebe (Lev 19,33f EU), das ausdrücklich mit dem Zentralereignis des jüdischen Glaubens, der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei, begründet wird. Beide Gebote werden mit der Selbstvorstellungsformel Gottes als sein geoffenbarter Wille ultimativ bekräftigt. Damit wird ihre Befolgung dem Belieben der Menschen entzogen und für die gesamte Gemeinschaft vor Gott verbindlich gemacht.

Die menschliche Nächstenliebe soll dem Handeln Gottes in der Geschichte Israels entsprechen. Sie ist deshalb deutlich von allgemeiner Philanthropie unterschieden, indem sie primär den Rechtlosen, Unterdrückten und Benachteiligten zukommen soll. Deshalb sind insbesondere die Sozialgesetze der Tora häufig mit der Selbstvorstellungsformel Ich bin JHWH, oft mit der Näherbestimmung ...der euch aus Ägyptenland [der Sklaverei] befreit hat begründet.

Neues Testament

Lehre Jesu

 
Martin von Tours teilt seinen Mantel

In einem Gespräch mit einem Pharisäer in Jerusalem (Mk 12,28-34 EU) zitiert Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot, die damals unter Pharisäern diskutiert wurde, zwei Bibelstellen: das Erste Gebot, hier in der Version des Schma Jisrael (Höre Israel, dein Gott ist einer...), und das Gebot der Nächstenliebe nach Lev 19,18. Er betont:

Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

Dem stimmt der Pharisäer zu und erkennt dabei mit der Anrede Rabbi Jesu Autorität als Bibelausleger an:

Meister [Lehrer], du hast wahrlich recht geredet. Er ist nur einer und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Diese Antwort bewegt Jesus zu der Zusage:

Du bist nicht fern vom Reich Gottes.

Hier wird also wenige Tage vor Jesu Hinrichtung die grundsätzliche Übereinstimmung im Glauben von Juden und Christen ausgesagt und wechselseitig bekräftigt, die alle übrigen Gegensätze relativiert.

Alles, was an Handlungen, Predigten, Streitgesprächen und Gleichnissen Jesu in den Evangelien berichtet wird, lässt sich von da aus als Auslegung der beiden gleichrangigen Zentralgebote des Judentums verstehen. Ihr gemeinsamer Oberbegriff ist Liebe, die im theologischen Sinn Gottes aktiver Hinwendung zum Menschen folgt und darum das Heil und Wohl des Nächsten anstrebt, um so das gemeinsame Glück zu ermöglichen.

Verkündigung Jesu

 
Vincent van Gogh:
Der gute Samariter

In der Bergpredigt legt Jesus verschiedene zentrale Toragebote für die gegenwärtige Bevölkerung Israels aus, deren Situation von großem Elend und Ohnmacht gegenüber der römischen Besatzungsmacht geprägt war (Mt 5-7). Er nimmt auch zum Gebot der Nächstenliebe Stellung und aktualisiert sie als Feindesliebe (Mt 5,43-48 EU):

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.

Da ein Gebot des Feindeshasses in der Bibel unbekannt ist, gehen Exegeten davon aus, dass Jesus sich auf damalige Deutungen bezog, die Nächstenliebe auf Juden begrenzten und zum Widerstand gegen die fremden Besatzer aufriefen, wie es die Zeloten besonders nach Jesu Tod taten. Denn zuvor hatte Jesus in seiner Auslegung des Gebots Auge für Auge zum Verzicht auf Vergeltung gegenüber Unrechtstätern aufgerufen (Mt 5,38-42 EU). Nächstenliebe schließt also für Jesus unbedingt Versöhnung gerade mit den Feinden, die Juden damals bedrängten und mit Gewalt unterdrückten, ein. Dies entsprach prophetischer Tradition seit Deuterojesaja.

Im Lukasevangelium erläutert Jesus das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25-37 EU; vgl. Mt 22,37-40 EU). Auf die Frage des Schriftgelehrten Wer ist denn mein Nächster? schildert Jesus dort, wie drei Personen - ein Priester, ein Levit und zuletzt ein Samaritaner - mit dem Opfer eines Raubüberfalls umgehen: Nur der Samaritaner habe geholfen, die Wunden des Beraubten versorgt, ihn in eine Herberge gebracht und für seine weitere Pflege bezahlt. Jesus stellt dem Hörer zuletzt die Rückfrage:

Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!

Charakteristisch für Jesu Auslegung war demnach zum einen die deutliche Kritik an den Vertretern des damaligen Tempelkults, den Sadduzäern: Diese lebten von den Abgaben und Opfern der verarmten Landbevölkerung Judäas und Galiläas. Sie sahen die Samaritaner als keine vollgültigen Juden, da diese den Jerusalemer Tempelkult nicht anerkannten und die dortigen Opfer nicht vollzogen. Zum anderen kehrt Jesus hier die Perspektive des Angeredeten um und stößt ihn auf sich selbst. Statt nach allgemeinen Anforderungen zu fragen - Wer gehört zu meinen Nächsten, auf die sich das Gebot erstreckt, wem also sollte ein Jude helfen? (diese Debatte wurde im Pharisäismus damals intensiv geführt) - lädt Jesus den Toragelehrten ein, nach seinen aktuellen Möglichkeiten zu fragen und zu handeln: Für wen bin ich der Nächste, wer braucht mich jetzt, wem kann ich helfen? Damit wird der Unterschied zwischen Mitjuden, Samaritanern und Ausländern im Blick auf die Geltung der Tora hinfällig. Jeder in Not geratene Mensch, der mir begegnet, ist laut Jesus der, dem ich und niemand sonst hier und jetzt helfen kann und soll.

In Mt 25,40 EU werden die im Juden- wie im Christentum als Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott verstandenen Werke der Barmherzigkeit christologisch gedeutet: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Jesus ist nach der matthäischen Theologie in den Armen jeder Zeit gegenwärtig, so dass Nächstenliebe für diese Armen zugleich Gottesliebe ist. An diesem Maßstab würden alle Menschen, Christen wie Nichtchristen, zuletzt im Endgericht gemessen werden.

Kirchliche Bedeutung

 
Guido Reni: Caritas

Im Zusammenspiel mit Feier (Liturgia) und Verkündigung/Zeugnis (Martyria) ist die tätige Nächstenliebe (griech.: Diakonia, lat.: Caritas) einer der drei Grundvollzüge christlicher Gemeinde bzw. Kirche.

Auslegung

Verhältnis zu Gottes Liebe

Eine moderne Auslegung ist die Enzyklika Deus Caritas est des heutigen Papstes Benedikt XVI.. Darin führt er aus:

[Nächstenliebe] besteht ja darin, daß ich auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die Willensgemeinschaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund. Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe — auf Zuwendung, die ich nicht nur über die dafür zuständigen Organisationen umleite und vielleicht als politische Notwendigkeit bejahe. Ich sehe mit Christus und kann dem anderen mehr geben als die äußerlich notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, den er braucht.
Hier zeigt sich die notwendige Wechselwirkung zwischen Gottes- und Nächstenliebe, von der der Erste Johannesbrief so eindringlich spricht. Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ,fromm’ sein möchte, nur meine ,religiösen Pflichten’ tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ,korrekt’, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt. [...]
Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar: Es ist nur ein Gebot. Beides aber lebt von der uns zuvorkommenden Liebe Gottes, der uns zuerst geliebt hat. So ist es nicht mehr ,Gebot’ von außen her, das uns Unmögliches vorschreibt, sondern geschenkte Erfahrung der Liebe von innen her, die ihrem Wesen nach sich weiter mitteilen muß. Liebe wächst durch Liebe. Sie ist ,göttlich’, weil sie von Gott kommt und uns mit Gott eint, uns in diesem Einungsprozeß zu einem Wir macht, das unsere Trennungen überwindet und uns eins werden läßt, so daß am Ende ,Gott alles in allem’ ist (vgl. [[Vorlage:Bibel: Angabe für das Buch ungültig!|1_Kor]] 15,28 EU).

Verhältnis zur Selbstliebe

Häufig wird der Satzbestandteil des Gebots wie dich selbst so aufgefasst, dass die Eigenliebe der Maßstab der Liebe zum Nächsten sein solle. Dazu schreibt etwa der katholische Theologe Peter Knauer:[1]

Selbst die Goldene Regel bzw. die Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, wird häufig im Zug des Gedankens der Selbstverwirklichung so interpretiert, dass das Maß der Eigenliebe zum Maß der Nächstenliebe werden solle. Aber ist es überhaupt möglich, sich selber Geborgenheit zu schenken? Und soll man etwa das, was man sich selber wünscht, anderen aufnötigen? Zwangsbeglückung kann die schlimmste Form von Unglück sein. In Wirklichkeit geht es in der Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, anstelle von Selbstliebe um die Fähigkeit, sich selber in die Situation anderer hineinzuversetzen und dann in deren wirklichem Interesse zu handeln. Dabei genügt es nicht, vermeintlich im Interesse der anderen zu handeln; man muss alles tun, um sich vor solcher Selbsttäuschung zu schützen. Natürlich kann es auch nicht darum gehen, anderen unter Vernachlässigung der eigenen Person zu helfen und dadurch letztlich auch die Hilfe selbst zu untergraben.

Kategorischer Imperativ

 
Immanuel Kant

Die neuzeitliche Philosophie grenzte sich seit dem Zeitalter der Aufklärung zunehmend gegen die an partikulare Glaubensbekenntnisse gebundene kirchliche Dogmatik und Ethik ab und versuchte, eine allgemeingültige Ethik des sozialen Miteinanders rational in menschlicher Einsichtsfähigkeit und gutem Willen zu begründen.

So hat Immanuel Kant das auf das Wohl des Nächsten bezogene, vom guten Willen gesteuerte Handeln formal mit dem Kategorischen Imperativ begründet:

Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Darin ist vorausgesetzt, dass Menschsein nur als auf anderes Menschsein angewiesen und als auf das Allgemeinwohl ausgerichtete Solidarität denkbar und wünschenswert ist. Von da aus bezogen viele Anläufe zu einem modernen Sozialstaat ihre Begründung.

Nächstenliebe und Verhaltensbiologie

 
Pelikan reißt sich die Brust auf:
Symbol der Nächstenliebe

Verhaltensbiologisch gehört die Nächstenliebe zum sogenannten prosozialen System (Liebe, Mildtätigkeit) im Gegensatz zum agonistischen System (Heldentum, Gehorsam). Auch bei Tieren kann ein moralanaloges Verhalten beobachtet werden. Gerade kritische Stellen im Sozialleben werden durch stammesgeschichtliche Anpassung abgesichert. Irenäus Eibl-Eibesfeldt erklärt dazu in dem Grundlagenwerk Die Biologie des menschlichen Verhaltens:

Manche opfern sich zum Beispiel für ihre Jungen auf, stehen bedrohten Artgenossen bei, respektieren Partnerbeziehungen und schonen in bestimmten Situationen Artgenossen, die sich ihnen im Verlauf eines Kampfes durch Demutsverhalten unterwerfen.[2]

Nach Eibl-Eibesfeldt hat sich aus der Brutpflege die Liebe entwickelt, welche auf die Gruppenmitglieder generalisiert wurde.

Sie lieferte die Werkzeuge zum Freundlichsein, und in ihr entwickelte sich die Fähigkeit zu individualisierter Bindung - zur Liebe also -, die gleichzeitig die Wirkung agonaler Signale abschwächt. War dieser Familialisierungsmechanismus einmal im Rahmen der Brutpflege entwickelt, dann bedurfte es nicht besonders viel, auch andere über das Bekanntwerden als Austauschpartner altruistisch einzubinden.[3]

Eine verhaltensbiologische Neigung setzt aber den freien Willen nicht außer Kraft und vermag deshalb auch die Nächstenliebe nicht abschließend zu erklären.

Die Entscheidung kann in Übereinstimmung mit den biologischen Normen erfolgen, sich aber auch gegen unsere Triebnatur richten...Rationalität erfordert einen affektentlasteten "klaren Kopf".[4]

Im Belohnungssystem des Gehirns kann Nächstenliebe zur Ausschüttung körpereigener Botenstoffe führen.

Man kann allerdings auch ohne Drogen hirnchemische Prozesse aktivieren, die angenehme Gefühle oder Rauschzustände vermitteln und das bis zur Sucht kultivieren. Der Mensch kann ... sich an seiner Tugendhaftigkeit berauschen; im agonistischen Bereich als Held, im fürsorglichen als "Heiliger".[5]

Kritik der Nächstenliebe

 
Nietzsche um 1875

Friedrich Nietzsche hat die Nächstenliebe als dekadent bezeichnet:

Daß man die untersten Instinkte des Lebens verachten lehrt, daß man in der tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen des Lebens, in der Selbstsucht, das böse Princip sieht: daß man in dem typischen Ziel des Niedergangs, der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im "Selbstlosen" im Verlust des Schwergewichts in der "Entpersönlichung" und "Nächstenliebe" grundsätzlich einen höheren Werth, was sage ich! den Werth an sich sieht! Wie? Wäre die Menschheit selber in décadence? Wäre sie es immer gewesen? Was feststeht, ist daß ihr nur décadence-Werthe als oberste Werthe gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die typische Niedergangs-Moral par excellence. (Fragmente XII (1888) Mappe Oktober 1888)
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Sigmund Freud 1938

Sigmund Freud kritisierte das Liebesgebot als Überforderung des Menschen. In seinem grundlegenden Essay Das Unbehagen in der Kultur (1929/1930) bezeichnete er das Liebesgebot als

...die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen.

Hans Jonas erklärte in seinem Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung (1979), dass das christliche Liebesgebot zu kurz greife. Es leide an einer Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung:

Man beachte, daß in all diesen Maximen der Handelnde und der "Andere" seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt Lebenden und in irgendwelchem Verkehr mit mir stehenden.

Dies reiche in Anbetracht der ökologischen Krise und der technischen Möglichkeit, die Menschheit dauerhaft auszulöschen, als Handlungsmaxime nicht mehr aus. Mit dem Wandel der Technik müsse die Ethik zur Fernstenliebe erweitert werden. Vor diesem Hintergrund formulierte Jonas einen ökologischen Imperativ:

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.

Siehe auch

Literatur

Quellen

  • Die Bibel (Elberfelder-, revidierte Luther- o.a. Übersetzung oder Bibel online)

Christliche Ethik

Nächstenliebe und Verhaltensbiologie

  • Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Seehamer, Weyarn 1997, ISBN 3-932131-34-7

Kritik des Liebesgebots

  • Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft (1886)
  • Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral - eine Streitschrift. (1887)
  • Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1930 [1], Erstdruck. - (Zahlreiche Neuausgaben, z.B. in: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Fischer, 2001, S.29-108. ISBN 3-596-10453-X)
  • Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M., 1979. Neuauflage als Suhrkamp Taschenbuch, 1984 [u.ö.], ISBN 3-518-39992-6

Quellen

  1. Peter Knauer: Handlungsnetze – Über das Grundprinzip der Ethik, Frankfurt a. M. 2002
  2. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, S. 956
  3. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, a. a. O. S. 969
  4. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, a. a. O. S. 956
  5. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, a. a. O. S. 975