Literatur
Bis in das 19.Jahrhundert hinein der Bereich der Gelehrsamkeit; in einem engeren Sinne dabei die Schriften der antiken Autoren. Seit etwa 1830 die sprachlich fixierte Überlieferung einer Nation, in der die Werke von Kunstrang, so die neue Definition von "Literatur im engeren Sinn", im Zentrum stehen.
Siehe eingehender die Stichworte Literaturgeschichte, Literaturtheorie, Literarische Gattungen, Text und Textinterpretation.
Definition
Historisch beschreibend definiert ist die Literatur jeweils das, was zu einem jeweiligen Zeitpunkt für "Literatur" erachtet wird - dieser Beschreibungsansatz wird selten gewagt, da man unter ihm damit umgehen muß, dass durchaus alles, was man heute für "Literatur" erachtet, vor dem 19. Jahrhundert nicht als "Literatur" bezeichnet werden konnte.
"Literatur" ist bis in das 19. Jahrhundert hinein der Bereich der Wissenschaften. In einem besonderen Sprachgebrauch ist sie vor 1800 das Feld der römischen und griechischen Autoren.
Journale, die im 17. und 18. Jahrhundert die "neueste Literatur" besprechen, bieten dieser Definition gemäß primär Nachrichten aus der "gelehrten Welt", der "respublica literaria", Rezensionen neuester wissenschaftlicher Bücher, Notizen von Berufungen auf Lehrstühle namhafter Universitäten und Berichte von Kontroversen aus den Wissenschaften.
Von der Geburt der Literatur aus dem Geist der Sekundärliteratur
Im Lauf des 18. Jahrhunderts gewinnen in den führenden literarischen Zeitschriften Besprechungen von Texten eines allgemeineren Interesses Gewicht: Zu berichten ist nicht nur aus der "Literatur" im eigentlichen Wortsinn, französisch den "lettres", sondern daneben aus den "belles lettres". Die Besprechungen finden die Gunst des breiteren Publikums und mehren sich im 18. Jahrhundert. Im Deutschen firmieren die "belles lettres" (die dem heutigen Buchmarkt als Belletristik fortleben) zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter der Wortfügung "galante Wissenschaften". Im Lauf des 18. Jahrhunderts erscheint die Fügung "schöne Wissenschaften" neutraler. Sie weicht schließlich der Fügung "schöne Literatur".
Auf dem Weg von den "galanten Wissenschaften" zur "schönen Literatur" gewinnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Dramen und Gedichte und, mit zeitlicher Verzögerung, Romane der Nationen besonderen Rang. Die Entwicklung bewegt insbesondere die deutschen literarischen Journale, die mit dem Feld der schönen Literatur einen spezifisch nationalen Diskussionsgegenstand aufbauen.
Die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts muß endlich dem Umstand Rechnung tragen, dass die Diskussion von Literatur nun fast ausschließlich um Dramen, Romane und Gedichte der einzelnen Nationen kreist; das Wort "Literatur" wird neu definiert:
- Im "weiten Sinn" als der Bereich aller sprachlichen Überlieferung
- Im "engen Sinn" als der Bereich der Werke, die als künstlerische Leistungen Besprechungen verdienen
Die Definition im "weiten Sinne" erlaubt es den Wissenschaften, weiterhin in "Literaturverzeichnissen" ihre eigenen Arbeiten zu listen. Die Definition im "engen Sinn" ist dagegen gezielt zirkulär-arbiträr. Ihr Ergebnis ist unter anderem die Kanondebatte, in der darum gestritten wird, welche Werke der Nation die besondere Würdigung bis in den nationalen Schulunterricht hinein verdienen sollen (Dramen, Romane und Gedichte, zuvor eine weitgehend skandalöse Produktion, verdrängen im 19. Jahrhundert im säkularen Schulunterricht Texte der Religion aus der Unterweisung). Sie ist wissenschaftlich, insofern als man versucht, die Texte, die man für Literatur erachten will, mittels wissenschaftlicher Analyse in ihrem besonderen Wert zu erfassen. In historicher Perspektive zieht sie zum einen Expertise aus der ehemaligen Diskussion von Poesie: aus der Debatte poetischer Kunst wird die Debatte "literarischer Qualitäten". Zum anderen schöpft sie historisch aus der Interpretation von Fiktionen, die mit Pierre Daniel Huets Tractat über den Ursprung der Romane (1670) ihren ersten Testfall fand.
Das seit dem 19. Jahrhundert fest etablierte arbiträr-zirkuläre Definitionsverfahren, in dem man jeweils aus der Gegenwart heraus festlegt, welche Texte Literatur sind, und sodann untersucht, warum es diese mehr als andere verdienen, für Literatur erachtet zu werden, ist auf Widerspruch hin angelegt: Es zielt auf Einsprüche von Interessengruppen ab, die Literatur ihrer Wahl zu kurz kommen sehen oder Diskussionen vermissen, die sie selbst über die Literatur geführt wissen möchten. Die Frage "Was ist Literatur?" ist seit dem 19. Jahrhundert keine nebensächliche mehr: in ihr geht es um Einfluss auf die wichtigste staatlich geschützte gesellschaftsweite ausgetragene Diskussion von Werten und Leistungen der Nation. Seit die Literatur auf das Feld der Dramen, Romane und Gedichte gebracht ist, bietet sie aktuellen Debatten Freiräume, die kein Debattenfeld zuvor bot.
Die im Moment verfügbaren Literaturgeschichten sind durchweg im zirkulär-arbiträren Modus verfaßt. Sie stellen Texte der Vergangenheit zur jeweiligen Literatur einer Nation zusammen, und liefern Entwicklungslinien, die die gegenwärtige Literatur mit einer möglichst zwingenden Vergangenheit ausstatten.
Historisch kritischer beurteilt entspricht dem, was unsere momentanen Literaturgeschichten als "Literatur des Mittelalters", des "Barock" oder der "Aufklärung" vorstellen, durchweg kein Feld, das man im jeweiligen Zeitabschnitt unter irgend einem Wort hätte zusammensehen, geschweige denn in die heute etablierten Entwicklungslinien hätte bringen können.
Fragen einer historisch-deskriptiven Literaturgeschichte sind:
- Wieso entstand im 17. und 18. Jahrhundert mit den "belles lettres" ein neues Feld von besprechbaren Büchern - und wieso wandte sie die Literaturbesprechung diesem Feld zu?
- Wieso wurden im 18. und 19. Jahrhundert Romane, Dramen und Gedichte die wichtigsten Gegenstände Literaturbesprechung?
- Was waren Dramen, Romane und Gedichte, bevor sie Literatur wurden? Welche Rolle spielten sie im öffentlichen Leben und im privaten Gebrauch bevor man sie öffentlich diskutierte?
- Welchen Einfluss nahm die Literaturbesprechung im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts auf die fortlaufende Produktion von Romanen, Dramen und Gedichten?
- Welche Rolle spielt der Austausch über Literatur, seitdem er ein Austausch über Dramen, Romane und Gedichte ist?
- Welchen Austausch verdrängte unser heutiger Austausch über Literatur?
Fragen all dies einer noch nicht geschriebenen Literaturgeschichte.
Literatur zum Literaturbegiff
Zirkulär-arbiträre Definitionen
- René Wellek: What Is Literature?, in: What Is Literature?, ed. P. Hernadi (London, 1978), p.16-23.
- René Wellek: Eintrag "Literature and its Cognates", in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, 1-4, ed. Philip P. Wiener (New York, 1973), 3: p.81-89.
- Wolf-Dieter Lange: Form und Bewusstsein. Zu Genese und Wandlung des literarischen Ausdrucks, in: Meyers kleines Lexikon Literatur (Mannheim, 1986)
Historisch-deskriptive Definitionen
- Roland Barthes: Histoire ou Litérature? in R. Barthes, Sur Racine (Paris, 1963), p.155, erstveröffentlicht in Annales, 3 (1960).
- Jürgen Fohrmann: Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanis-mus und Deutschem Kaiserreich (Stuttgart, 1989).
- Rainer Rosenberg: Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 77 (1990), 36-65.
- Richard Terry: The Eighteenth-Century Invention of English Literature. A Truism Revisited, Journal for Eigtheenth Century Studies, 19.1 (1996).
- Olaf Simons: Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde (Amsterdam, 2001).
Siehe auch
Weblinks
- The Literary Encyclopedia
- http://carpe.com/literaturwelt/
- http://www.webcritics.de
- http://beste-texte.com Die Literaturdatenbank enthält die grösste Sammlung an lebenspraktischen literarischen Kurztexten
- http://www.vordenker.de/weigoni/mpaed.htm - verweist auf literaturpädagogische Arbeiten.
- http://www.vordenker.de/kollegen/kollegen.htm dokumentiert ein Projekt zum 30. Jahrestag des Verbands Deutscher Schriftsteller.
- http://www.abebooks.de/docs/ReadingRoom/BesteBuecher/besteBuecher.shtml
- http://focus.msn.de/D/DF/DFX/DFX04/dfx04.htm
- http://www.glanzundelend.de
- http://www.nemesisarchiv.de.vu Sozialistische Unterhaltungsliteratur
- http://www.buchtips.net