Die Burg Chauvigny ist eine Burgruine in der französischen Stadt Chauvigny nur wenige Kilometer entfernt von Poitiers.
Steil in den Himmel ragt in Chauvigny eine Kulissenwand von gleich fünf Burgen. Hier residierten die Bischöfe und Barone von Poitiers.
An der Südspitze des steilen Kalkfelsens erhebt sich die zerklüftete Ruine der Burg der Bischöfe von Poitiers, Château Baronnial genannt. Aus der Frühzeit der Anlage, aus dem 11. Jahrhundert stammt der Donjon. Im13. Jahrhundert entstand dann zusätzlich die bischöfliche Burg. Der ganze Komplex war ursprünglich von einer nur in Resten erhaltenen Stadtmauer umgeben, so dass sich Chauvigny mit Recht rühmen konnte, eine der solidesten Befestigungsanlagen im französischen Königreich zu besitzen.
St-Pierre
Berühmt ist Chauvigny in der Kunstgeschichte wegen der Kapitelle im Chor seiner romanischen Kirche St-Pierre, der im ausgehenden 11. Jahrhundert begonnen und im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts vollendet wurde. Die Kirche hat einen aufwändig gestalteten Chorbereich mit weit ausladendem Querhaus, dem Vierungsturm, dem Chorumgang und drei Chorkapellen. Das ist noch kein Kapellenkranz wie später in der Gotik, sondern eine Frühform. Dieser mächtige Chorbereich von Chauvigny ist nicht ganz freiwillig entstanden. Die Kirche liegt an einem Hang und musste aus Gründen der Stabilität den abschüssigen Chorbereich besonders massiv ausbauen.
Der Innenraum von St-Pierre fällt zunächst durch eine lichte, einfache Farbigkeit in den Tönen Rot und Weiß auf, in denen auch die berühmten Kapitelle gefasst sind. Es handelt sich bei der Bauform dieser Kirche um eine dreischiffige sog. Pseudobasilika, also eine Basilika, deren Mittelschiff keine Fensterzone besitzt und somit dem Charakter einer Halle nahe steht. Diese Form ist typisch für die Grafschaft Poitou und gehört zur poitevinischen Bauschule.
Kapitelle
Die großflächig in Rot und Weiß gestrichenen Kapitelle stammen aus der Zeit um 1100. Der gesamte Innenraum wurde 1856 neu ausgemalt und dabei auch die Kapitelle, die vorher angeblich in Grau, Weiß und Schwarz gehalten waren (Minne-Sève, S. 64).
Die Säulen des Chorumgangs tragen relativ niedrig angebrachte Kapitelle. Sie haben alle eine sehr eingängige, teilweise schlichte Erzählweise. Ihre Ikonographie ist nicht streng einheitlich, wenn auch die meisten Darstellungen Szenen aus dem Leben Jesu zeigen. Typisch ist eher die Ausbreitung von Szenen aus diversen Zusammenhängen, in denen die ganz allgemeine Gegenüberstellung von Gut und Böse im Vordergrund steht. Etliche Kapitelle tragen Inschriften, die Auskunft über den Bildinhalt geben.
Die Themen auf diesen Kapitellen sind eines der interessantesten und vielschichtigsten Elemente der mittelalterlichen Kunst. Raymond Oursel schreibt dazu: „Diese Welt tierischer Ungeheuer, in deren Betrachtung sich die romanische Seele erging, war ihrerseits weit mehr als ein Reservoir von Formen und dekorativen Themen: sie war die Kodifizierung einer schrecklichen, heimgesuchten Welt und ihrer dämonischen Urgründe. In einem infernalischen Reigen finden sich alle nur denkbaren Ungeheuer - aus Alpträumen emporgestiegene Monstren, Greife, östlicher Phantasie entsprungene Fabelwesen, Paviane, großohrige Zwerge: eine merkwürdige Welt des Entsetzens und zügelloser Phantasie. Ängstlich trat der Mensch diesen entfesselten Mächten gegenüber, die ihn umgaben und erschreckten; im Haus Gottes hallte der Lärm des unheimlichen Kampfes zwischen den Mächten des Lichtes und den Mächten der Finsternis wider [...]
Der Mensch erscheint auf diesen Plastiken [...] mit der Waffe in der Hand einem Gegner gegenüber im erbarmungslosen Kampf Mann gegen Mann. Denn die Erinnerung an die Barbareneinfälle ist noch sehr lebendig; die Grenzen des christlichen Abendlandes sind stets bedroht, und Wolfsrudel und andere Raubtiere durchstreifen das von Hungersnöten und Seuchen heimgesuchte Europa [...] Luzifer als das höchste Böse wurde infolge der panischen Angst, die man ihm gegenüber hegte, nur selten dargestellt, aber um so zahlreicher sind die Abbildungen seiner verdammten Kinder.“ (Oursel, S. 181/182)
Und eines dieser verdammten Kinder sieht man auf einem Kapitell im Vorchorbereich mit einer anmutigen Nixe und zwei Schwänen: Die Nixe in dieser für die damalige Zeit provokanten Nacktheit dürfte ein Symbol der Sünde sein. Die Schwäne, denen sie die Hälse zuzudrücken versucht, gelten als Zeichen der Geduld oder der christlichen Entsagung, also dem positiven Gegenteil der nixenhaften Sinnlichkeit. Der Schwan gilt auch als Symbol der Reinheit (s. Richard Wagners „Lohengrin“) und war in dieser Hinsicht auch Emblem einer französischen Königin. (LCI IV, S. 134) Von daher lässt sich dieser Szene eine ziemlich eindeutige Thematik zuschreiben.
Kapitell I
Beim 1. der berühmten acht Chorkapitelle ist sich die Forschung nicht ganz einig, was genau gemeint ist: entweder Adler, die die Seelen emportragen zum Himmel, also ein positives Symbol, oder Adler, die Menschen verschlingen als Strafe für ein sündiges Leben - also ein negatives Symbol.
Kapitell II
Das Kapitell II zeigt auf der einen Seite die Verkündigung an die Hirten. Der Text, der über dieser Szene steht, lautet zunächst auf dem Nimbus, dem Heiligenschein der Zentralfigur: GABRIEL ANGELUS - also der Engel Gabriel; dann über den Flügeln: DIXIT GLORIA IN EXCELSIS DEO, also sinngemäß: er verkündet die Herrlichkeit des Herrn. Über den Seitenfiguren steht nur die schlichte Bezeichnung PASTORES, also Hirten, oder PASTOR BONUS, der gute Hirte.
Aber an der rechts anschließenden Seite des Kapitells deutet sich schon ein ganz anderes Thema an. Das ist die babylonische Hure aus der Apokalypse, die BABILONIA MAGNA MERETRIX, wie es im Text über ihr heißt, deren lange Haare das Laster der ungezügelten Sinnlichkeit andeuten, die generell gerne als weiblich dargestellt wird - wie schon bei der Nixe. Sie hält in ihren Händen kleine Gefäße mit Elexieren zur Steigerung der Lust, Liebestränke also, wie sie zu nahezu allen Zeiten der menschlichen Kultur benutzt wurden.
Die Szene noch weiter rechts ist die Seelenwägung des Erzengels Michael, wie es auf dem Heiligenschein wieder heißt („MICHAEL ARCANGELO“), der die rechte Hand zum Schwur erhoben hat, und mit der linken die Waage hält. An dieser Seelenwaage des Jüngsten Gerichts – das Motiv kommt aus dem ägyptischen Kulturkreis - zerrt ein kleiner Teufel, der verzweifelt versucht, das Gewicht der Seele des unschuldigen, betenden Kindes auf der linken Seite des Engels nach unten zu ziehen, - erfolglos natürlich. Ganz rechts und wieder zur Anfangsseite zurückkehrend ist das verdammte Babylon dargestellt, BABILONIA DESERTA, wie auf der oberen Tafel geschrieben steht.
Kapitell III
Das 3. Kapitell zeigt eine der typischen mittelalterlichen Dämoniedarstellungen, wie sie vor allem in Zusammenhang mit dem Thema des Jüngsten Gerichtes vorkommen. Ein Drache, dessen zwei Leiber sich in einem menschlichen Kopf vereinen, ist in der mittelalterlichen Mythologie ein Todessymbol. Hier verschlingt er einen in sein Schicksal ergebenen gläubigen Christen, - mit anderen Worten: entgegen dieser düsteren Darstellung hat der Betreffende keinen Anlass zur Sorge.
Die anderen Seiten desselben Kapitells zeigen ähnliche Szenen. Hier scheint sich der Todgeweihte auffallend wenig aus seinem Schicksal zu machen, er streckt quasi seinem Schicksal die Zunge heraus. Dieses Zungenmotiv erscheint auch auf der Szene an der Ecke des Kapitells.
Kapitell IV
Dieses Kapitell zeigt auf einer Seite die Anbetung der Könige. Diese Szene ist in der Kunstgeschichte deshalb berühmt, weil die Inschrift über der Maria lautet: GOFRIDUS ME FECIT, d.h. Gofried hat mich gemacht, so als ob das Kapitell selber spricht. Der Bildhauer hat hier also seinen Namen – oder den des Auftraggebers (Toman, S. 257) - mit verewigt, ein für die damalige Zeit um 1100 ungewöhnlicher Vorgang. Im Mittelalter war es nicht üblich, dass die Künstler ihre Werke irgendwie signierten, schon gar nicht im Chor einer Kirche.
Das hing auch damit zusammen, dass die Kunst damals einen wesentlich geringeren Stellenwert hatte als heute. Hier haben wir also ein erstaunliches Kennzeichen eines keimenden Selbstbewusstseins vor uns in einer Zeit, da der Bildhauer nichts weiter war als ein Handwerker. Dieser Meister Gofridus hat das ganz offensichtlich anders gesehen und sich und seiner Zunft an diesem geheiligten Ort ein frühes Denkmal gesetzt.
Kapitell V
Löwen, aus deren Schwanzenden menschliche Hände wachsen; zwei Masken.
Kapitell VI
Das bekannteste Kapitell von Chauvigny ist das sechste, und seine Deutung ist besonders kompliziert. Die folgende Deutung stammt aus dem Buch von Ingeborg Tetzlaff ‚Romanische Kapitelle in Frankreich’ von 1979. Die Forschungsgeschichte zu diesem Thema ist in letzter Zeit sehr in Bewegung gekommen und es ist nicht ausgeschlossen, dass mittlerweile zu diesem Kapitell eine andere Deutung vorliegt.
Das Kapitell zeigt eine fantastische Menschengestalt mit zwei Körpern, die in einem gemeinsamen Kopf zusammenwachsen, daneben verschiedene Monstren. Gemeint ist – angeblich - hier das Thema: der Widerstreit in der menschlichen Seele. Man sagt ja heute noch bei intensiven widersprüchlichen Gefühlen: man könnte sich „in der Mitte zerreißen“.
Die Achse, an der die beiden Körperhälften zusammenwachsen, hat - für sich gesehen - die abstrakte Form eines Baumes, wenn man genau hinsieht. Das ist der Lebensbaum, dessen Zweige sich als Rippen auf den beiden Brustseiten zeigen.
Das Erstaunliche ist nun, wie dieser sich tänzerisch bewegende Doppelmensch von Ungeheuern umringt ist, wie er fast spielerisch in jeder Hand die Hinterläufe eines von ihnen festhält, die ihn ihrerseits in seine Arme zu beißen trachten. Er beherrscht sie also, indem er sie so festhält.
Außerdem versetzt er scheinbar nebenbei mit dem – von vorne gesehen - äußersten linken seiner vier Füße einer riesiger bärtigen Harpyie einen abwehrenden Tritt. Eine Harpyie ist in der griechischen Mythologie ein Sturmdämon in Gestalt eines Mädchens mit Vogelflügeln, oder auch ein Jungfrauenadler, ein Wappentier, das den Oberkörper einer Frau hat. Währenddessen ist der linke Fuß der Doppelfigur dem anderen löwenartigen Untier rechts schon entkommen.
Worum geht es hier – nach Tetzlaff? Dieser Mensch ist der Überwinder seiner Zwiespältigkeit: Er beherrscht sie, obwohl er sich ihrer noch bewusst ist. Wie kommt man zu dieser zunächst fremdartig scheinenden Deutung?
Die linke Körperhälfte, von vorne aus rechts, ist der `geistige Teil´ dieses Wesens; das deutet sich mit den drei betonten Gewandfalten an, die auf die Dreieinigkeit hinweisen. Mit den fünf danebenliegenden Gewandfalten weist er auf `die vollkommene Zahl des Mikrokosmos Mensch´ hin und damit auf Christus selbst, denn Fünf ist die Zahl der Sinne (Auge, Nase, Mund, Ohr, Tastsinn) und auch der Wunden Christi. Und mit den senkrechten Falten rechts und links dieser beiden Gruppen weist er aufwärts. Für unser heutiges Empfingen wirken solche Zahlensymbolismen häufig sehr gekünstelt und unglaubwürdig, aber man hat zur damaligen Zeit tatsächlich mit solchen Mitteln gearbeitet. Sonst wäre es nicht nötig gewesen, in diesem mittleren Bereich des Rockes zwei ganz unterschiedliche Faltenformen nebeneinander zu setzen. In der Gotik, die nicht mit solchen Zahlensymbolen in der Kleidung arbeitet, wäre dieser Bereich in einer in sich stimmigen Stilistik einheitlich gestaltet worden. Die schlichten Gewandfalten haben also - jede Gruppe für sich - einen starken symbolischen Bezug, was ihre Form und was ihre jeweilige Zahl angeht.
Aber auch die rechte Hälfte, von uns aus links, sein `irdischer Teil´, strebt dem Lebensbaum in der Leibesmitte zu. Er überwindet dabei das Tierische (nicht zufällig ist auch sie bekleidet), wie die schwungvolle Aufwärtsbewegung der Rockfalten anzeigt und ebenso der Fuß, der das Ungeheuer zurückstößt. In diesem Kapitell ist auf beschränktem Raum mit für uns heute schwer nachvollziehbaren Mitteln die ganze Zwiespältigkeit menschlicher Existenz in künstlerische Form gebracht worden - und auch der Sieg über sie (Tetzlaff, S. 94). Auf solche umwegigen Symboldeutungen muss man sich einlassen, wenn man diese mittelalterlichen Szenen verstehen will. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass damals im 12. Jh. solche Deutungen ebenfalls nicht selbstverständlich waren, sondern auch vermittelt wurden, beispielsweise von einem Geistlichen in einer Predigt. In letzter Zeit ist diese Zahlenmystik bei uns allerdings in gewisser Weise wieder populär geworden durch die Kriminalromane von Dan Brown.
Kapitell VII
Das Kapitell VII zeigt Drachenpaare mit menschlichen Köpfen, deren Hinterteile an den Ecken zusammenstoßen und zusätzlich miteinander verbunden sind durch etwas, was man eine gespaltene Zunge nennen könnte, die aus dem Maul eines Dämonenkopfes herauskommt. Eine andere Deutung der Tierwesen ist, dass es sich um Sphingen mit Frauenköpfen handeln könnte oder um Vogelsirenen, also zur Sünde verführende Wesen, wie die Nixe am Anfang.
Kapitell VIII
Das letzte Kapitell zeigt den Teufel, der vor sich seinen Altar mit dem Todessymbol hält, einem schräg stehenden Kreuz mit Punkten in den Dreiecksflächen. Flankiert ist er von zwei Dämonen. Hier ist also der Herrscher des Bösen persönlich und leibhaftig dargestellt.
Literatur
- Daval, Jean-Luc (Hrsg.):Skulptur. Von der Antike bis zum Mittelalter. 8. Jahrhundert v. Chr. bis 15. Jahrhundert [1991]. Köln 1999, S. 325
- LCI: Lexikon der christlichen Ikonographie. Freiburg im Breisgau 1968 (1994)
- Minne-Sève, Viviane: Romanische Kathedralen und Kunstschätze in Frankreich. Eltville 1991
- Oursel, Raymond / Stierlin, Henri (Hrsg.): Romanik (= Architektur der Welt, Bd. 15), Fribourg, München 1964.
- Tetzlaff, Ingeborg: Romanische Kapitelle in Frankreich. Köln [1976] 3. Auflage 1979.
- Toman, Rolf (Hrsg.): Die Kunst der Romanik. Architektur - Skulptur - Malerei. Köln 1996