Bildungsreform
Von einer Bildungsreform spricht man im deutschen Sprachraum dann, wenn mehrere Sektoren des Bildungswesens nach einem übergreifenden Konzept umgestaltet werden.
Einzelne Neuerungen wie die flächendeckende Einführung von Horten, die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts in die Grundschulen, die Verkürzung der Gymnasialschulzeit, die Umstellung auf Zentralabitur oder den Umbau von Studiengängen im Rahmen des Bologna-Prozesses addieren sich zu keiner Bildungsreform, solange sie nicht aus einem einheitlichen Ansatz heraus begründet werden.
Deshalb gibt es im Bildungswesen eine nahezu permanente Reformdebatte, aber vielleicht nur einmal in einem Menschenalter eine Phase, in der eine breite Mehrheit der Fachleute, der öffentlichen Meinung und der entscheidungsbefugten Politiker einen Konsens über die einzuschlagende Richtung erreichen und eine als solche wahrnehmbare Bildungsreform durchsetzen.
Bildungsreformen im deutschsprachigen Raum
Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
Das Mittelalter war geprägt von christlicher Theologie, scholastischer Philosophie und dem Wissensmonopol der Geistlichkeit. Höhere Schulen waren die kirchliche Lateinschulen. Mit dem Aufkommen der Reformation änderte sich dies, Philipp Melanchthon setzte sich für eine umfassende Bildung breiter Bevölkerungsschichten ein, um die Bibel lesen zu können. Er förderte die humanistischen Schulen. Andere wichtige Reformer, etwa Johann Amos Comenius, forderten eine umfassende Allgemeinbildung für alle - einschließlich Armer, Bauern und Mädchen.
Im 18. Jahrhundert, 1763, führte Friedrich der Große in Preußen die Allgemeine Schulpflicht ein.
Humboldt'sche Bildungsreform um 1810
Bis zur Humboldt'schen Bildungsreform war das Bildungswesen in die Elementarschule für breite Bevölkerungsschichten, an denen die Lehrkräfte oft keinerlei Ausbildung für den Lehrberuf besaßen, nicht selten alte Soldaten, und die höheren Schulen, an denen universitär gebildete Lehrkräfte oder Geistliche unterrichteten, aufgeteilt. Erste Ansätze zu einer mittleren Realien-Schule existierten ebenfalls. Eine geregelte Ausbildung der Schülerinnen und Schüler hingegen gab es nicht. Der Zugang zu Universitäten und zur Offizierslaufbahn war über finanzielle Möglichkeiten und das Adelsprivileg geregelt.
Kern der Bildungsreform war das humanistische Gymnasium. Im Kern des Curriculums standen die Sprachen der klassischen Antike Latein und Altgriechisch sowie das Grundwissen über Geschichte und Philosophie des klassischen Altertums einschließlich der Mathematik. Weiterhin waren auch christliche Wertvorstellungen tief im Gymnasium des protestantischen Preußens verankert. Naturwissenschaften hingegen spielten eher eine periphere Rolle, gleich der Bedeutung von Kunst, Musik und Sport, wobei die künstlerisch-ästhetische Erziehung, ebenso wie sportliche Betätigung, durchaus die gesamtheitliche Bildung abrunden sollten. Die grundlegende Bildung des Menschen sollte eine rein idealistische Erziehung sein, unabhängig von Fragen der Verwertbarkeit dieses Wissens. Humboldt strebt eine humanistische Bildung für Kinder aller Klassen an, erreichte mit der Reform der Höheren Schulen und der Universitäten, die er staatlich in ihrer Existenz garantierte, jedoch weisungsunabhängig machte, nur die Oberschicht. Vieles blieb allerdings reine Planung.
Nach Humboldt bildete sich das Dreigliedrige Schulwesen heraus: Volksschule, Realschule, Höhere Schule. Die Volksschule vermittelte die grundlegenden Kenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde und christliche Wertvorstellungen und dauerte acht Jahre. Die Realienschule vermittelte Realien, d.h. naturwissenschaftliche Grundkenntnisse und ggf. eine oder zwei lebende Sprachen. Sie diente der Ausbildung einer Mittelschicht der Angestellten und kleineren Beamten und dauerte mindestens neun Jahre. Das Einjährige (zehntes Schuljahr) wurde Voraussetzung für die Zulassung zur Offizierslaufbahn, das Adelsprivileg wurde aufgehoben. Oberrealschulen bereiteten auf das Studium an Bergakademien und Ingenieurschulen vor. Das klassische Gymnasium hingegen war einer schmalen Elite vorbehalten - gegen Humboldts ursprüngliche Intention - und bereitete auf das Universitätsstudium vor. Neben dem Humanistischen Gymnasium bildete sich später noch das Realgymnasium, das auf Altgriechisch verzichtete und stattdessen Naturwissenschaften oder eine lebende Sprache bot.
Reformpädagogik um 1900/1930
Unter der Bezeichnung Reformpädagogik werden verschiedene Ansätze zur Reform von Schule, Unterricht und allgemeiner Erziehung zusammengefasst, die sich Ende des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegen Lebensfremdheit und Autoritarismus der vorherrschenden "Paukschulen" wandten. In Deutschland gab es eine starke gegenseitige Beeinflussung mit der Jugendbewegung. Einige Reformpädagogen verbanden eine liberale Grundhaltung mit starkem sozialem Engagement.
Wichtige Prinzipien waren die Selbsttätigkeit der Schüler, das freie Gespräch, Erlebnispädagogik, Schulgemeindepädagogik, praktische Tätigkeiten oder Lernen durch Handeln. Reformpädagogen traten mit dem Konzept der Arbeitspädagogik auch auf der Reichsschulkonferenz zu Beginn der Weimarer Republik auf.
Bildungsreform um 1968
Aufgrund des Sputnik-Schocks wurden in den USA seit Ende der 1950er bzw. Beginn der 1960er Jahre Versuche einer Bildungsexpansion unternommen. Georg Pflicht sprach in diesem Zusammenhang von einer Bildungskatastrophe.
Da in der Bundesrepublik gerade einmal 8% eines Altersjahrganges studierten, der Großteil der Bevölkerung jedoch gerade einmal Volksschulbildung besaß, gab es Diskussionen über eine Expansion im Bildungswesen. Insbesondere das Buch "Die deutsche Bildungskatastrophe" von Georg Picht aus dem Jahr 1964 erreichte publizistische und politische Diskussion dieses Themas.
Es folgten u.a. das Hamburger Abkommen zur Reform der Unteren Schulform und Vereinheitlichung der Schulsysteme der Länder, der Hochschulbau als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern und damit Hochschulneugründungen wie der Ruhr-Universität Bochum.
Die Einführung einer allgemeinen Förderung durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz für Schüler der Gymnasialen Oberstufe und Studenten sowie die Abschaffung von Studiengebühren ermöglichten breiteren Bevölkerungsschichten den Hochschulzugang.
Eine weitere Öffnung erfolgte durch die Verwissenschaftlichung des Schulunterrichtes und die Oberstufenreform. Das Kurssystem verbesserte die Studienvorbereitende Wirkung des Abiturs.
Der Öffnungsbeschluss für die Hochschulen erfolgte 1977.
Literatur
- Ludwig von Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989
- Heinrich-Böll-Stiftung und Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Selbstständig lernen. Bildung stärkt Zivilgesellschaft. Sechs Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Beltz Verlag, 1. Auflage, Weinheim 2004, ISBN 3-407-25354-0
- PDF (260KB) Dokument der GEW – vor allem Seite 4
- Aus Politik und Zeitgeschichte: Themenheft Bildungsreformen, APuZ 12/2005, ISSN 0479-611X, pdf-Dokument, 664 kB