Der König in Thule ist ein Gedicht Johann Wolfgang von Goethes aus dem Jahr 1774.
Entstehung
Als Vorstufe dieses Gedichts gilt das im Juli 1774 auf einer Lahnreise entstandene Gedicht „Geistesgruß". Unter dem Einfluss Herders wurde als Schauplatz das sagenumwobene Thule gewählt, nach antiker Vorstellung die nördlichste Insel, die von griechischen Seefahrern erreicht wurde.
Johann Wolfgang von Goethe: „Geistesgruß“
- Hoch auf dem alten Turme steht
- Des Helden edler Geist,
- Der, wie das Schiff vorübergeht,
- Es wohl zu fahren heißt.
- „Sieh, diese Senne war so stark,
- Dies Herz so fest und wild,
- Die Knochen voll von Rittermark,
- Der Becher angefüllt;
- Mein halbes Leben stürmt ich fort,
- Verdehnt‘ die Hälft in Ruh,
- Und du, du Menschenschifflein dort,
- Fahr immer, immer zu!“
[verfasst am 18. Juli 1774 im Anblick der Burg Lahneck]
Interpretation
Das Gedicht „Geistesgruß“ von Johann Wolfgang von Goethe lässt sich in drei Abschnitte gliedern. Die erste Strophe führt den Leser in die Thematik der Verbindung zwischen Mensch und Liebe ein. In der Gestalt eines Geistes wird das Exempel eines Menschen dargestellt, der in seiner Höhe auf das Leben hinunterblickt. Das vorüberfahrende Schiff symbolisiert in diesem Fall die Liebe, welche er „wohl zu fahren heißt“ , was bedeutet, dass die Liebe positiv auf den Menschen einwirken soll.
In der zweiten Strophe spricht der Geist zum Leser. Er verdeutlicht die starke Verbindung zwischen Mensch und Liebe in seinem Zitat „ Sieh, diese Senne war so stark“, wobei das Wort „Senne“ wohl am besten mit dem heutigen „Sehne“, also Symbol für die Verbindung, gleichzusetzen ist. Die „Senne“ unterstreicht die Treue der Liebe zum Menschen. Doch um diese Verbindung erwiedern zu können, braucht der Mensch Mut, hier verdeutlicht durch das „Rittermark“. Der Becher im letzten Vers der zweiten Strophe spiegelt das Leben wieder, frei nach der Lebensweisheit einen Becher entweder halbvoll oder halbleer sehen zu können.
Die finale Passage reflektiert das Leben des menschlichen Geistes, in der er zu der Erkenntnis kommt, dass man nicht immer fortlaufen kann, sondern zur Ruhe kommen muss, um der Liebe eine Chance zu geben, welche ewig weiterbestehen soll.
Vergleich zu „Ein König in Thule“
Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Gedichte sehr unterschiedlich, doch bei näherer Betrachtung fallen einige Gemeinsamkeiten auf. Beispielsweise das Versmaß ist gleich aufgebaut, jeweils vierversige Strophen im Reimschema a-b-a-b. Nicht nur dort, sondern auch im Inhalt zeigen sich Parallelen. So findet sich im „Geistesgruß“ dieselbe Symbolik, wie im „Ein König in Thule“. J. W. von Goethe benutzt in seinen zwei Gedichten ähnliche Charaktere, ausgedrückt durch den „edlen Geist“, sowie den „König“, die ihr Leben widerspiegeln. Ebenso stellen „Becher“ („Ein König in Thule“) und „Schiff“ („Geistesgruß“) Metaphern der Liebe dar. Gleichfalls symbolisiert der „Becher“ die Treue, die im „Geistesgruß“ als die „Senne“ gezeigt wird. Auch die Ritter („Ein König in Thule“) sind in Goethes „Geistesgruß“ durch das „Rittermark“ wieder aufgenommen. Ein letzter zu vergleichender Punkt ist die Wassermetaphorik, die in beiden Gedichten eine große Rolle spielt. Die Hauptintention beider lyrischer Werke stellt der Appell an die immer fortbestehende Liebe dar.
Inhalt
Das Gedicht umfasst folgende Verse:
Es war ein König in Thule, Gar treu bis an das Grab, Dem sterbend seine Buhle einen goldnen Becher gab.
Es ging ihm nichts darüber, Er leert' ihn jeden Schmaus; Die Augen gingen ihm über, So oft er trank daraus.
Und als er kam zu sterben, Zählt' er seine Städt' im Reich, Gönnt' alles seinem Erben, Den Becher nicht zugleich.
Er saß bei'm Königsmahle, Die Ritter um ihn her, Auf hohem Väter-Saale, Dort auf dem Schloß am Meer.
Dort Stand der alte Zecher, Trank letzte Lebensgluth, Und warf den heiligen Becher Hinunter in die Fluth.
Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief in's Meer, die Augen thäten ihm sinken, Trank nie einen Tropfen mehr.
Die sechs Strophen gliedern sich in zwei Gruppen:
- Vorgeschichte - Bericht (Strophen 1 bis 3)
- Opferszene - szenische Ausmalung (Strophen 4 bis 6)
Der goldene Becher ist sichtbarer Ausdruck der inneren Verbundenheit, Symbol der Treue und des Lebensgenusses.
Form
Die Wort- und Bildwahl führt mit Ausdrücken wie „gar treu“, „Buhle“ in altertümliche Ferne. Strophenbau, Metrum und Ton weisen auf das Volkslied hin.
Vergleich
Faust Urfaust
Es war ein König in Thule Es war ein König in Thule, Gar treu bis an das Grab, Einen goldnen Becher hätt Dem sterbend seine Buhle Empfangen von seiner Buhle Einen goldnene Becher gab. Auf ihrem Todesbett.
Es ging ihm nichts darüber, Der Becher war ihm lieber, Es leert‘ ihn jeden Schmaus; Trank daraus bei jedem Schmaus; Die Augen gingen ihm über, Die Augen gingen ihm über, So oft er trank daraus. So oft er trank daraus.
Und als er kam zu sterben, Und als es kam zu sterben, ... ...
Darstellung der Innenwelt auf Darstellung der Außenwelt auf sachlicher, materieller Ebene. lyrischer und emotionaler Ebene. Alte Sprache vereindringlicht mystische Funktion der Textstelle. -> altertümliche Atmosphäre wird geschaffen Ältere Fassung, aber modernere Sprache.
Betonung der Motive: Liebe, Treue und Tod Betonung der Dingwelt, Becher trägt größte Bedeutung Persönlich (vgl. Personalpronomen) Unpersönlich (vgl. Personalpronomen)
Die letzten Strophen sind identisch und geben einen genaueren Einblick in die bereits angedeutete Atmosphäre. Da nur die ersten zwei Strophen die essentiellen Bestandteile für das Verständnis des Liedes darstellen.
Bezüge zu anderen Textstellen im Faust
- "Es ist so schwül, so dumpfig hie / Und ist doch eben so warm nicht drauß'. / Es wird mir so, ich weiß nicht wie - / Ich wollt' , die Mutter käm' nach Haus. / Mir läuft ein Schauer über'n ganzen Leib - / Bin doch ein thöricht furchtsam Weib." (Abend: Vers 2753-2758) --> Lied als Beruhigung
- "Gerettet ist das edle Glied / Der Geist der Welt vom Bösen, / "Wer immer strebend sich bemüht / den können wir erlösen. " / Und hat an ihm die Liebe gar / Von oben Theil genommen, / Begegnet ihm die seelige Schaar / Mit herzlichem Willkommen." (Bergschluchten: Vers 11934-11941) --> Vergleich zu "Der König in Thule"
- "Es war einmal ein König, / Der hatt' einen großen Floh, / Den liebt' er gar nicht wenig, / Als wie seinen eigenen Sohn. / Da rief er seinen Schneider, / Der Schneider kam heran: / Da groß, miß dem Junker Kleider, / Und miß ihm Hosen an!" (Auerbachs Keller: Vers 2211-2218) --> Vergleich zu "Der König in Thule"
- "Wenn ich so saß bei einem Gelag, / Wo mancher sich berühmen mag, / Und die Gesellen mit den Flor / Der Mägdlein laut gepriesen vor, / Mit vollem Glas das Lob verschwemmt" ff. (Nacht: Vers 3620-3775) --> Vergleich Familientreue
- "Hat er so aller Treu', so aller Lieb' vergessen, / Der Plackerei bei Nacht und Tag! / Nicht doch, er hat euch herzlich dran gedacht. / Er sprach: Als ich nun weg von Malta ging, / da betet' ich für Frau und Kinder brünstig; / Uns war denn auch der Himmel günstig, / Das unser Schiff wenn ein türkisch Fahrzeug fing, / Das einen Schatz des großen Sutans führte. / Da ward der Tapferkeit ihr Lohn, / Und ich empfing' denn auch, wie sich gebührte, / Mein wohlgemess'nes Theil davon." ff. /(Der Nachbarin Haus: Vers 2968-3024) --> Vergleich Treue
- "Ich grüße dich, du einzige Phiole! / Die ich mit Andacht nun herunterhole, / In dir verehr' ich Menschenwitz und Kunst. / Du Inbegriff der holden Schlummersäfte, / Der Auszug aller tödtlichen feinen Kräfte" (Nacht: Vers 690-694) --> Vergleich Phiole <-> Becher
Textart: Ballade
Die Ballade gilt weithin als eine Art Tanzlied, das von Tanzenden gesungen wird. Diese Art der Interpretation ist durchaus auf die Textstelle: “Der König in Thule“ aus Goethes „Faust“ anwendbar, da Gretchen, die diese Ballade vorträgt, im „Tanz der Liebe“ zu Faust zu sehen ist. Weiterhin wird die Textsorte „Ballade“, als „volksmäßiges und besonders leicht singbares Erzähllied“ bezeichnet, was auch wieder sehr genau auf diese Textstelle zutrifft, da Gretchen die Volkstümlichkeit bzw. „untere Schicht“ im Faust repräsentiert und ihren Platz als solche im Faust hat. Vielfach steht die Ballade auch für ein „dämonisch-spukhaftes und meist tragisches Geschehen aus Geschichte, Sage oder Mythos“. Diese Vostellung ist auch sehr treffend, da der Ballade im Faust ein Auftritt Mephistopheles‘ vorausgeht, der hier das personifizierte Böse - in diabolischer Form - darstellt. Auch war bzw. ist die Ballade eine „Umformung früherer Heldenlieder“,was auch wieder Parallelen zu Faust eröffnet. Goethe stellt Faust als Helden dar, der droht, den rechtschaffenen Weg zu verlassen, schließlich jedoch nicht vom Bösen beeinflusst werden kann und wieder auf die rechte Bahn zurückkommt.
Vgl.: Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 2001. S. 73-75.
Rezeption
Diese Ballade hat trotz ihres altertümlichen Gewands volkstümliche Beliebtheit erlangte und wurde von folgenden Komponisten vertont:
- Freiherr von Seckendorff (1782)
- Reichardt (1809),
- Carl Friedrich Zelter (1812),
- Franz Schubert (1816),
- Friedrich Silcher (1823);
- Hector Berlioz,
- Heinrich Marschner,
- Franz Liszt,
- Robert Schumann,
- Charles François Gounod,
- Hans von Bülow
Weblinks
Wikisource: Allgemeines Deutsches Kommersbuch:217 – Quellen und Volltexte