Lernen durch Lehren

handlungsorientierte Unterrichtsmethode
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 27. Mai 2007 um 08:53 Uhr durch Jeanpol (Diskussion | Beiträge) (Lernen durch Lehren als Gesamtkonzept). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Lernen durch Lehren ist eine Unterrichtsmethode, bei der Schüler oder Studenten den Unterricht mit Hilfe des Lehrers selbst vorbereiten und durchführen. Jean-Pol Martin hat die Methode zu Beginn der achtziger Jahre aufgegriffen und durch theoretische Untermauerung (humanistische Psychologie, Kognitionspsychologie) zu einem didaktischen Konzept ausgearbeitet[1].

Datei:Ldl-wortschatz-2.jpg
Schülerin im LdL-Unterricht: Wortschatz-Präsentation

Einordnung

Lernen durch Lehren darf nicht mit Referaten oder Präsentationen verwechselt werden: Es setzt auch eine didaktische Tätigkeit von Schülern voraus (Einbauen von Partnerarbeit und schüleraktivierenden Techniken). Auch mit dem Helfersystem (peer-teaching, Tutoring) ist die Methode nicht identisch: Während beim Helfersystem die Verantwortung ganz auf die Schüler delegiert wird, wird bei Lernen durch Lehren der Lehrprozess vom Lehrer intensiv überwacht und unterstützt. Die Übernahme der Lehreraufgaben durch Schüler kann einzelne Unterrichtssequenzen betreffen oder auch längere Einheiten. Bei einigen Lehrern übernehmen die Schüler sogar den gesamten Unterricht von der ersten Stunde an bis zum Ende des Schuljahres.

Geschichte

Schon im Altertum formulierte Seneca in seinen Briefen an Lucilius den Gedanken, dass man beim Lehren selbst lernt (epistulae morales I, 7, 8): docendo discimus (lat.: "durch Lehren lernen wir"). Versuche, Schüler als Lehrer einzusetzen, sind daher aus unterschiedlichen Gründen, sei es aus ökonomischen oder didaktischen, historisch immer wieder zu beobachten. Da die Idee naheliegend ist, wird Lernen durch Lehren immer wieder "neu erfunden", wobei die jeweiligen "Neuerfinder" die Tradition nur selten aufarbeiten. Dennoch wurde in Deutschland dieser Gedanke noch nie so intensiv diskutiert und umgesetzt wie seit 1982, dem Zeitpunkt an dem Jean-Pol Martin seinen ersten Beitrag zu diesem Thema lieferte [2].

Einsatz aus ökonomischen Gründen

Um den Lehrermangel zu beheben (und nicht aus pädagogischen Überlegungen), wurden bereits im 18. Jahrhundert Schüler zum Unterrichten eingesetzt. 1795 beschrieb der Schotte Andrew Bell [3] das Prinzip des gegenseitigen Unterrichtens, das er in Madras beobachtet und selbst angewandt hatte. Joseph Lancaster griff das Konzept auf und setzte es in seinen Schulen um. Angewandt wurde die Methode ferner ab 1815 in Frankreich in den "écoles mutuelles", um der ansteigenden Schülerpopulation Herr zu werden. Nach der Revolution von 1830 wuchs die Zahl der "écoles mutuelles" auf 2000 an, um kurz danach aufgrund von politischen Entscheidungen zu schrumpfen bis hin zur Marginalisierung. Die von den unterrichtenden Schülern angewandte Lehrmethode beruhte ausschließlich auf Disziplinierung ("Drill"). Das Ziel war nicht, dass die Tutoren durch Unterrichten besser lernen, sondern dass durch die Einbeziehung von Tutoren mehr Schüler unterrichtet werden konnten. Beobachter bemängelten das niedrige Leistungsniveau in den Lancaster-Schulen[4], die mehr auf Quantität als auf Qualität Wert legten. Insofern können diese Schulen zwar von der Organisation her als Vorläufer von Lernen durch Lehren betrachtet werden, pädagogisch aber laufen sie diesem Konzept diametral entgegen.

Einsatz aus pädagogisch-didaktischen Gründen

Mit der Zielsetzung einer Verbesserung des Lernprozesses und auf dem Hintergrund der Reformpädagogik (Georg Kerschensteiners Arbeitsschule 1914)[5] wurde das Verfahren erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch eingesetzt.

Punktuelle Beschreibungen und Versuche

Eine genauere Beschäftigung mit der Methode Lernen durch Lehren erfolgte ab den 70er Jahren, allerdings meist in Form von punktuellen Beschreibungen und Untersuchungen. Dies gilt zum Beispiel für die in den USA erschienene Monographie von Gartner 1971,[6] und auch für das Buch von Krüger 1975.[7] Dies gilt ebenfalls für Wolfgang Steinig 1985,[8] für Udo Kettwig 1986,[9] für Theodor F. Klassen 1988[10] und für die einzelnen Aufsätze in Ursula Drews (Hrsg.): Themenheft: Schüler als Lehrende, 1997.[11] Dies gilt schließlich auch für A. Renkl, der einen Teilaspekt von Lernen durch Lehren unter Laborbedingungen erforschte.[12]

Lernen durch Lehren als Gesamtkonzept

Das umfassendste Konzept wurde in Deutschland ab 1982 von Jean-Pol Martin vorgeschlagen.[13] Martin hatte das Konzept im Französischunterricht systematisch entwickelt, theoretisch untermauert (humanistische Psychologie und Kognitionspsychologie) und in zahlreichen Publikationen dokumentiert.[14] In der Praxis wurde das Verfahren unter dem Kürzel LdL mit Hilfe eines 1987 von Martin gegründeten Kontaktnetzes verbreitet, das mehr als tausend Lehrer umfasst.[15] Die beteiligten Pädagogen erprobten die Methode in allen Fächern, dokumentierten ihren Unterricht und stellten LdL in Lehrerfortbildungen vor. Seit 2001 erlebt LdL einen Aufschwung im Zusammenhang mit den in allen Bundesländern eingeleiteten Schulreformen. (vgl. insbesondere den Bayerischen Modellversuch MODUS21) Inzwischen hat „Lernen durch Lehren“ auch Einzug in die Erwachsenenbildung und die Hochschullehre gefunden. (siehe unter anderem Joachim Grzega)

Lernen durch Lehren nach Martin (LdL)

 
Jean-Pol Martin

Das Konzept "Lernen durch Lehren" nach Martin (LdL) wurde im Französischunterricht entwickelt und enthält eine pädagogisch-anthropologische sowie eine fremdsprachendidaktische Komponente.[16]

Die pädagogisch-anthropologische Komponente

LdL ist im wesentlichen der humanistischen Psychologie verpflichtet. Die pädagogisch-anthropologische Komponente bezieht sich auf die Bedürfnispyramide von Maslow. Die Aufgabe, anderen einen Wissensstoff zu vermitteln, soll die Bedürfnisse nach Sicherheit (Aufbau des Selbstbewusstseins), nach sozialem Anschluss und sozialer Anerkennung sowie nach Selbstverwirklichung und Sinn (Transzendenz) befriedigen. Während im lehrerzentrierten Unterricht in der Regel eine rezeptive Aufnahme von bereits linear geordneten Lerninhalten stattfindet (Linearität a priori), wird bei LdL die Konstruktion von Wissen durch die Lerner angestrebt. Ausgehend von im Unterricht bereitgestellten, aber noch nicht geordneten Informationen, stehen die Lerner bei LdL vor der Aufgabe, diese Informationen durch Bewerten, Gewichten und Hierarchisieren zu Wissen umzuformen (Linearität a posteriori). Dieser Prozess kann nur auf der Grundlage intensiver Kommunikation erfolgen. Hierzu wird metaphorisch auf die Struktur von neuronalen Netzen verwiesen, in der durch intensive multipolare Interaktionen Problemlösungen emergieren. So betrachtet soll die Gruppe als Ganzes lernen, indem stabile Interaktionsstrukturen zwischen den Schülern entstehen, wie dies beim Lernen im Gehirn erfolgt, wenn stabile synaptische Verbindungen zwischen den Neuronen aufgebaut werden.

Die fremdsprachendidaktische Komponente

Sprachdidaktischer Aspekt: Die traditionelle Didaktik sieht einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen den drei klassischen Lern-Paradigmen Habitualisierung (behavioristische Komponente), Stoffbezogenheit (kognitivistische Komponente) und authentischer Interaktion (kommunikative Komponente):

1). Der kognitive Ansatz geht davon aus, dass man sich intensiv mit den Strukturen z.B. einer Sprache (Grammatik, Wortschatz) befassen muss, um sie zu lernen. Dann bliebe allerdings keine Zeit mehr, um zu sprechen und authentisch zu kommunizieren;
2). Der habitualisierende Ansatz (Bildung von Reflexen) geht davon aus, dass man nur dann z.B. eine Sprache erlernt, wenn man ständig nachahmt und wiederholt (man glaubt, dass nur so Reflexbildung entsteht). Zur Grammatik und zur echten Kommunikation bliebe dann keine Zeit mehr;
3). Der kommunikative Ansatz geht davon aus, dass man vorwiegend durch die Mitteilung echter Botschaften lernt. Formale Strukturen (etwa Grammatik, Syntax) sind hier zweitrangig und daher wird zu ihrer Erlernung im Unterricht weniger Zeit aufgewendet (hohe Fehlertoleranz).

LdL möchte die Sequentialität aufbrechen und die drei Ansätze parallelisieren: Die Schüler müssen a) die Inhalte kognitiv durchdringen, b) miteinander intensiv sprechen, um den anderen den Stoff zu vermitteln und c) dadurch bestimmte Sprachstrukturen immer wieder anwenden. Diese drei Schritte greifen dabei ineinander, da sie im Rahmen der Lernmethode iterativ und über Rückkopplungen gesteuert immer wieder von neuem vorgenommen werden müssen.

Inhaltlicher Aspekt: In der Lehrbuchphase präsentieren die Schüler die Inhalte des Lehrwerkes. Wenn die Lehrbuchphase abgeschlossen ist, liegt es in der Logik des Ansatzes, dass die Schüler selbst im Rahmen von Projekten neues Wissen erarbeiten und im Klassenverband weitergeben. In dieser Phase (11.Klasse bis Abitur) hängt die Motivation der Schüler stark von der Qualität der Inhalte ab. Die Schüler sollen spüren, dass sie bei deren Behandlung auf die Zukunft vorbereitet werden (transzendentaler Bezug: Bedürfnis nach Sinn).

Praktische Anwendungen

Die Praxis zu Lernen durch Lehren wird stark durch den Ansatz von Martin geprägt, der in der praktischen Anwendung auch seinen Schwerpunkt hat. Von den Anhängern des Lernen durch Lehren Ansatzes nach Martin (LdL) wird die Methode ausschließlich als unterrichtsgestaltende Methode innerhalb eines Klassenverbandes benutzt. Vor jeder Lektion teilt der Lehrer den Stoff in bearbeitbare Teilabschnitte ein. Es werden Lernergruppen (maximal drei Schüler) gebildet und jede Gruppe bekommt einen abgegrenzten Stoffabschnitt sowie die Aufgabe, diese Inhalte der Gesamtgruppe zu vermitteln. Die Schüler bereiten den Stoff didaktisch auf (spannende Impulse, Abwechslung in den Sozialformen usw.). Bei dieser Vorbereitung, die im Unterricht stattfindet, steht der Lehrer den einzelnen Lernergruppen zur Seite und gibt Impulse und Ratschläge. Grundsätzlich neigen Lehrer dazu, die didaktischen Fähigkeiten von Lernern stark zu unterschätzen. Nach einer Eingewöhnungsphase zeigen Schüler meist ein beachtliches pädagogisches Potenzial. Im Sinne optimaler Didaktik verlangt LdL, dass die selbstgestalteten Lehreinheiten nicht als ein durch Lerner gehaltener Frontalunterricht oder ein Unterricht durch Vortrag von Referaten missverstanden werden. Die unterrichtenden Schüler sollen sich ständig mit geeigneten Mitteln versichern, dass jede Information von den Adressaten verstanden wird (kurz nachfragen, zusammenfassen lassen, kurze Partnerarbeit einflechten). Hier muss der Lehrer intervenieren, wenn er feststellt, dass die Kommunikation nicht gelingt oder dass die von den Lernern eingesetzten Motivationstechniken nicht greifen.

Konkrete Schritte: Prinzip der Ressourcenorientierung - die Klasse als neuronales Netz

Martin hat erste Versuche unternommen, das Modell des Gehirns - insbesondere die Funktionsweise von neuronalen Netzen - auf den Unterricht zu übertragen [17]. Die Konsequenzen für den Ablauf der Unterrichtsphasen, sowie die Unterschiede, die LdL von anderen Methoden abgrenzen, werden in dieser Übersicht zusammengefasst:

Unterrichtsphase Erwartetes Schülerverhalten Lehrerverhalten Unterschied zu anderen Methoden
Vorbereitung und Nachbereitung zu Hause Alle Schüler arbeiten konsequent zu Hause, denn die Qualität des Unterrichtsdiskurses (kollektives Denken, Emergenz) hängt von der Vorbereitung der Schüler ("Neurone") ab. Wer nicht vorbereitet ist oder häufig fehlt, kann im Unterricht auf keine Impulse reagieren und selbst keine Impulse "abfeuern" Der Lehrer ("Frontalcortex") muss den Stoff sehr gut beherrschen, damit er jederzeit ergänzend und impulsgebend intervenieren kann, um die Qualität des Diskurses zu erhöhen Bei LdL wird die Unterrichtszeit nicht in erster Linie für die Vermittlung von Stoff genutzt, sondern für die Interaktionen in Partnerarbeit und im Plenum (kollektive Reflexion). Der Schwerpunkt im Unterricht liegt auf dem Mündlichen. Die häusliche Arbeit dient der Vorbereitung auf diese Interaktionen
Gesamter Unterrichtsdiskurs Die Schüler sitzen im Kreis. Jeder Schüler hört konzentriert seinen Mitschülern zu und stellt Fragen, wenn etwas in der Darstellung nicht klar ist Der Lehrer sorgt für absolute Ruhe und Konzentration auf die Schüleräußerungen, sorgt dafür, dass jeder Schüler ungestört seine Gedanken zu Ende aussprechen kann und die Klasse auf seine Beiträge eingeht. Der Lehrer muss sich stets bewusst sein, dass, bevor wertvolle Gedankengänge in der Gruppe "emergieren", eine ganze Reihe von Interaktionen zwischen den Schülern im Vorfeld notwendig ist (Inkubation), die der Lehrer nicht beschleunigen oder unterbrechen soll Bei LdL muss absolute Ruhe herrschen, damit die Schüleräußerungen von allen verfolgt werden. Während die Schüler interagieren, hält sich der Lehrer stark zurück.
Einstieg: Stoffsammlung in Partnerarbeit: Beispiel "Don Juan von Molière" Ressourcenorientierung: die Schüler, die den Unterricht leiten, stellen kurz das neue Thema vor, und lassen die Mitschüler in Partnerarbeit sammeln, was sie bereits zu diesem Thema wissen (z.B. Kenntnisse über Don Giovanni von Mozart) Der Lehrer sorgt dafür, dass die Partner ihre Gedanken austauschen Bei LdL wird vor Einführung des neuen Stoffes der Wissensstand der einzelnen Schüler in Kleingruppen zur Kenntnis genommen.
Erste Vertiefung: Stoffsammlung im Plenum Unter Moderation der leitenden Schüler wird in der Klasse solange interagiert, bis alle themenbezogenen Fragen gestellt und geklärt wurden (die Schüler interagieren wie Neurone in neuronalen Netzen und es "emergieren" Gedanken und Problemlösungen) Der Lehrer sorgt dafür, dass jeder Schüler intervenieren kann, fragt nach, wenn etwas noch nicht klar ist und von der Klasse durch Interaktionen geklärt werden soll bis die "Emergenz" eine entsprechende Qualität erreicht hat (vgl. Kollektive Intelligenz) Das Vorwissen der Einzelnen wird im Plenum ausgetauscht und angeglichen, bevor der neue Stoff eingespeist wird.
Einführung des neuen Stoffes im Plenum ("Molières Komik am Beispiel von Don Juan") Die leitenden Schüler führen neues Wissen im Plenum ein in kleine Portionen aufgeteilt (z.B. entsprechende Szene aus Don Juan) und mit ständiger Rückfrage, damit sicher ist, dass alles verstanden wird Der Lehrer beobachtet die Kommunikation und interveniert, wenn Unklarheiten auftreten. Er fordert immer wieder zur Klärung undeutlicher Inhalte oder Gedanken auf Bei LdL erfolgt das Einspeisen des neuen Stoffes in kleinen Portionen, die Schritt für Schritt verarbeitet werden
Zweite Vertiefung: Spielen von Einzelszenen Unter Anleitung der verantwortlichen Schüler werden in Partnerarbeit relevante Passagen gespielt und eingeübt (z.B. wie Don Juan Bauernmädchen verführt) Der Lehrer bringt neue Ideen ein, sorgt dafür, dass die schauspielerischen Darstellungen ansprechend gestaltet und von allen anderen konzentriert verfolgt werden Bei LdL versteht sich der Lehrer als Regisseur und er scheut sich nicht, zu unterbrechen, wenn Darbietungen vor der Klasse nicht ansprechend/deutlich genug sind (Werkstattatmosphäre)
Dritte Vertiefung: schriftlicher Hausaufsatz (Textaufgabe, Interpretation einer Stelle, beispielsweise Don Juans Auseinandersetzung mit seinem Vater) Alle Schüler arbeiten konsequent zu Hause Der Lehrer sammelt alle Hausaufgaben ein und korrigiert sie sehr genau In jüngeren Jahrgangsstufen wird der LdL-Unterricht während der Stunden selbst vorbereitet. Mit zunehmendem Niveau (Oberstufe) verlagert sich die Vorbereitung immer stärker auf die häusliche Arbeit damit ein noch größerer Anteil der Unterrichtszeit für Interaktionen (kollektive Reflexion) zur Verfügung steht.

Paradigmenwechsel im Unterricht

Auf diese Weise wird dem Paradigmenwechsel Rechnung getragen, der die ganze Gesellschaft erfasst und durch folgende Begriffe geprägt wird (hier konkret auf LdL bezogen):
Das Arrangement im Klassenzimmer orientiert sich an der Gehirnstruktur. Zwischen den Lernern, die metaphorisch als Neurone eingesetzt werden, entsteht durch intensive Interaktionen eine Vernetzung mit entsprechenden Netzwerkeffekte (Reaktionsschwelle, Selbstreferenzialität, Resonanz, Redundanz). Im Rahmen dieser Interaktionen werden Informationen zu Wissen veredelt, indem permanent relevante aus irrelevanten Informationen selektiert und zur nächsthöheren Instanz zur Bearbeitung weitergeleitet werden. Wie im Gehirn entstehen aus diesen Interaktionen Emergenzen, es wird Wissen kollektiv konstruiert. Während im instruktionistischen Modell man es mit Linearität a priori zu tun hat, entsteht bei LdL Linearität a posteriori. Oberstes Prinzip ist die Ressourcenorientierung, denn die Informationen, die zur Wissenskonstruktion benötigt werden, stammen entweder aus den Lernern selbst, oder aus der Umwelt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Klassenraumdiskurs in großer Konzentration erfolgt, damit alle Informationen erkannt und verarbeitet werden (Aufmerksamkeitsökonomie, Reaktionsschwelle).

Im Zuge der Globalisierung wird klar, dass die Welt eine Einheit ist und alle Regionen in Interdependenz stehen. Es ist eine Notwendigkeit, dass diese Interdependenz nicht nur kognitiv, sondern auch emotional wahrgenommen wird. Nur so kann genug Motivation mobilisiert werden, damit die in diversen Regionen auftretenden Probleme erkannt und entsprechende Lösungen erarbeiten werden. Dies bedeutet, dass im Schulsystem so früh wie möglich Kontextsensibilität bei den Lernenden entwickelt wird. LdL sensibilisiert die Lernenden für Vorgänge, die im Klassenzimmer ablaufen. Es fördert Netzsensibilität. Diese Kompetenz wirkt sich besonders positiv aus, wenn über den Klassenraum hinaus die Welt insgesamt in den Blick genommen wird. Die Einzelkomponenten der Netzsensibilität lassen sich folgendermaßen aufgliedern [18]:

  1. Die Erkenntnis, dass man als Einzelner Träger von Ressourcen ist.
  2. Die Erkenntnis, dass man das eigene Ressourcenpotenzial aktiv vermehren soll, damit man die eigene Attraktivität in der Gruppe erhöht.
  3. Die Erkenntnis, dass man das eigene Ressourcenpotenzial durch Kommunikation erhöhen kann.
  4. Die Erkenntnis, dass Kommunikation dann entsteht, wenn der eine weiß, was der andere nicht weiß.
  5. Die Erkenntnis, dass durch Kommunikation und Weitergabe von Wissen das eigene Wissen vermehrt wird.
  6. Die Fähigkeit, Potenziale von anderen Gruppenmitgliedern zu erkennen, zu erschließen und für die Gruppe fruchtbar zu machen.
  7. Die Fähigkeit, Kommunikation innerhalb einer Gruppe einzuleiten und aufrecht zu erhalten.
  8. Die Fähigkeit, die Transformation von Information zu Wissen in der Gruppe anzuleiten.
  9. Die Fähigkeit, für die Gruppe relevante externe Ressourcen aktiv zu suchen.
  10. Die Fähigkeit, Handlungsbereitschaft zu erkennen und zu mobilisieren.
  11. Die Fähigkeit, Kommunikation nach außen einzuleiten und aufrecht zu erhalten.

Anwendung auf breiterer Ebene

Die meisten Lehrer verwenden die Methode nicht flächendeckend, sondern phasenweise und/oder nur in einigen, besonders geeigneten Gruppen und berichten über folgende Vor- bzw. Nachteile:

Die von Anwendern genannten Vorteile:

  • Der Stoff wird intensiver erarbeitet und die Schüler sind wesentlich aktiver
  • Die Schüler erwerben zusätzlich zum Fachwissen weitere Schlüsselqualifikationen:
    • Teamfähigkeit
    • Planungsfähigkeit
    • Zuverlässigkeit
    • Präsentation und Moderation
    • Selbstbewusstsein
    • Netzsensibilität

Die von Anwendern genannten Nachteile

  • Höherer Zeitaufwand bei der Einführung der Methode
  • Höherer Arbeitsaufwand bei Schülern und Lehrern/Dozenten
  • Gefahr der Eintönigkeit, wenn der Lehrer keine didaktischen Impulse liefert

Die LdL-Rezeption

 
Joachim Grzega

In der Praxis und in der Lehrerausbildung wird Martins Werk breit rezipiert: Seit 1985 wurden laufend Referendararbeiten in allen Fächern über LdL verfasst. Dies gilt auch für die Schulbehörden, die sich sowohl mit der Praxis als auch mit der Theorie von LdL befasst haben (vgl. Margret Ruep 1999 [19]).
In der Fachdidaktik wird LdL wenn auch mit zeitlicher Verzögerung ebenfalls aufgenommen. So begründet Eynar Leupold in seinem 2002 erschienenen Standardwerk zur Französischdidaktik den Erfolg des LdL-Konzeptes folgendermaßen: "(...) die Lehrerinnen und Lehrer merken, dass ihre traditionelle Weise des Unterrichtens zu Monotonie, Unruhe und nicht immer befriedigendem Lernerfolg führt. Bei der Suche nach einem alternativen schlüssigen Methodenkonzept sind sie auf Martin gestoßen, dessen Konzept den Vorteil hat, nicht zu "alternativ" zu sein und ohne besondere Ausbildung umzusetzen ist[20]". Für Nieweler, den Herausgeber des anderen gegenwärtig maßgeblichen Handbuchs zur Französischdidaktik (2006) ist LdL "eine radikale Form der Schüler- und Handlungsorientierung"[21].

Weiterentwicklung des LdL-Konzeptes

Hochschuldidaktik: Als Methode für den Hochschulunterricht hält LdL Einzug auf dem Hintergrund der Bachelorisierung aller Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses. Hauptakteur für die Verbreitung und Weiterentwicklung der LdL-Methode im Hochschulbereich ist in Deutschland Joachim Grzega[22]. In Japan wird die Methode Lernen durch Lehren für den universitären Unterricht durch Guido Oebel (vgl. Literatur) verbreitet und in Russland durch Alina Rachimova [23].

Hauptartikel: Lernen durch Lehren (Hochschule)

Lernen durch Lehren außerhalb des LdL-Kontextes

Pädagogische Psychologie

Im Bereich der Pädagogischen Psychologie hat sich A. Renkl mit Lernen durch Lehren befasst und sich dabei bewusst nicht auf Martin gestützt. In seiner 1997 erschienenen Habilitationsschrift (siehe Bibliographie) geht er zwar noch kurz auf die Arbeit Martins ein, in dem 2006 veröffentlichten Beitrag im Handwörterbuch der Pädagogischen Psychologie zitiert er dagegen nur noch die englischsprachige Literatur[24]. Abschließend kommt Renkl zu folgendem Fazit: "In der Literatur finden sich zum Teil sehr euphorische Urteile über Lernen durch Lehren (...). Vor dem Hintergrund empirischer Befundlage sind solche Aussagen jedoch mit Vorsicht zu bewerten. Lernen durch Lehren kann, muss aber nicht zu gutem Lernerfolg führen." Und weiter: "Künftige Forschung sollte deshalb vor allem auf die praktisch wie theoretisch äußerst bedeutsame Frage abzielen, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit Lernen durch Lehren zu guten Lernresultaten führt."

Quellen

  1. vgl. auch Lernen durch Lehren (Theorie)
  2. Jean-Pol Martin. Bedingungen für einen sozialintegrativen Fremdsprachenunterricht. In: Der Fremdsprachliche Unterricht, 1/1982: 61-64.
  3. Andrew Bell: Expériences sur l'éducation faite à l'école des garçons à Madras, 1798
  4. "However, despite initial successes, the Lancasterian schools came under a considerable amount of criticism. The standards which they achieved were often poor and the discipline to which children were subjected was harsh, even by contemporary standards." In: http://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Lancaster
  5. Georg Kerschensteiner (1914): Deutsche Schulerziehung in Krieg und Frieden, Leipzig, 1914
  6. Alan Gartner et al.: Children teach children. Learning by teaching, Harper & Row, New York 1971
  7. Rudolf Krüger: Projekt „Lernen durch Lehren“. Schüler als Tutoren von Mitschülern, Klinkhardt, Bad Heilbronn 1975
  8. Wolfgang Steinig: Schüler machen Fremdsprachenunterricht, Tübingen: Narr, 1985
  9. Udo Kettwig: Lernen durch Lehren, ein Plädoyer für lehrendes Lernen. in: Die deutsche Schule, Nr. 4 1986, 474-485
  10. Theodor F. Klassen: Lernen durch Lehren, das Beispiel der Jenaplanschule Ulmbach, Zeitschrift Pädagogik, Nr. 11 1988, S. 26–29
  11. Ursula Drews (Hrsg.): Themenheft: Schüler als Lehrende. PÄDAGOGIK. 11/49/1997. Beltz-Verlag, Weinheim
  12. Alexander Renkl: Lernen durch Lehren. Zentrale Wirkmechanismen beim kooperativen Lernen. Deutscher Universitätsverlag: Wiesbaden, 1997.
  13. Die Initialzündung lieferte das Buch von Ludger Schiffler: Interaktiver Fremdsprachenunterricht, Stuttgart: Klett, 1980
  14. Jean-Pol Martin:Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes, Dissertation. Tübingen: Narr. 1985 Jean-Pol Martin: Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 4/1986. S. 395–403 (PDF). Jean-Pol Martin: Schüler in komplexen Lernumwelten. Vorschlag eines kognitionspsychologisch fundierten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 3/88. S. 294–302 PDF. Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Habilitation. Tübingen: Narr 1994. Jean-Pol Martin: Das Projekt „Lernen durch Lehren“ – eine vorläufige Bilanz. in: Henrici/Zöfgen (Hrsg.): Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL). Themenschwerpunkt: Innovativ-alternative Methoden. 25. Jahrgang (1996). Tübingen: Narr, S. 70–86 (PDF; 0,2 MB), Jean-Pol Martin (2002a): Weltverbesserungskompetenz als Lernziel? in: Pädagogisches Handeln – Wissenschaft und Praxis im Dialog, 6. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 71–76 (PDF), Jean-Pol Martin (2002b): Lernen durch Lehren (LdL). in: Die Schulleitung – Zeitschrift für pädagogische Führung und Fortbildung in Bayern, 4/2002, S. 3–9 (PDF; 70 KB)
  15. Jean-Pol Martin (1989): Kontaktnetz: ein Fortbildungskonzept, in: Eberhard Kleinschmidt, E. (Hrsg.), Fremdsprachenunterricht zwischen Fremdsprachenpolitik und Praxis: Festschrift für Herbert Christ zum 60. Geburtstag, Tübingen. 389–400 (PDF 62 KB)
  16. Forschungsmethodologisch lässt sich Martins Zugang in die Aktionsforschung einordnen (vgl: Jean-Pol Martin (1998): Das Projekt 'Lernen durch Lehren' - fachdidaktische Forschung im Spannungsfeld von Theorie und selbsterlebter Praxis. In: Liedtke, M. (Hg.): Gymnasium: neue Formen des Unterrichts und der Erziehung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, S.151-166.
  17. Jean-Pol Martin (2004) in: Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen. Eine Dokumentation von Reinhard Kahl und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. ISBN: 3-407-85830-2 (BELTZ), DVD 3
  18. Jean-Pol Martin (2007): Wissen gemeinsam konstruieren: weltweit. In: Lernen und Lehren - Zeitschrfit für Schule und Innovation in Baden-Württemberg. 33(1): S.29. Neckar-Verlag Villingen-Schwenningen.
  19. Margret Ruep(1999): Schule als Lernende Organisation - ein lebendiger Organismus, in: Margret Ruep (Hg.)(1999): Innere Schulentwicklung - Theoretische Grundlagen und praktische Beispiele. Donauwörth: Auer Verlag, S.17-81, insbesondere 32ff.
  20. Eynar Leupold (2002): Französisch Unterrichten. Grundlagen. Methoden. Anregungen. Seelze-Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung. S. 139
  21. Andreas Nieweler (Hrsg.)(2006): Fachdidaktik Französisch - Tradition|Innovation|Praxis. Stuttgart: Klett, 2006. S.318
  22. Joachim Grzega: LdL in technischen und anderen Fächern der Fachhochschulen: Zutaten und Rezeptvorschläge. In: Didaktiknachrichten (DiNa)(im Druck)
  23. Alina Rachimova (2007): Multimedia in der Ausbildung. Master Lain: Kasan. 2007
  24. Alexander Renkl: Lernen durch Lehren, in: Detlef Rost (Hrsg.)(2006): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 3.Aufl. Weinheim: Beltz Verlag. 2006. S.416-420

Literatur

  • Alan Gartner et al.: Children teach children. Learning by teaching. Harper & Row: New York, 1971.
  • Rudolf Krüger: Projekt „Lernen durch Lehren“. Schüler als Tutoren von Mitschülern. Klinkhardt: Bad Heilbronn, 1975.
  • Jean-Pol Martin: Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes. Dissertation. Narr, Tübingen 1985. ISBN 3-87808-435-8
  • Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Habilitation. Tübingen: Narr, 1994.ISBN 3-8233-4373-4
  • Guido Oebel: Lernen durch Lehren (LdL) im DaF-Unterricht. Eine „echte" Alternative zum traditionellen Frontalunterricht. In: Petra Balmus/Guido Oebel/Rudolf Reinelt (Hg.)Herausforderung und Chance. Krisenbewältigung im Fach Deutsch als Fremdsprache in Japan. 2005· ISBN 978-3-89129-404-8
  • Alexander Renkl: Lernen durch Lehren. Zentrale Wirkmechanismen beim kooperativen Lernen. Deutscher Universitätsverlag: Wiesbaden, 1997.
  • Christine Schelhaas: Lernen durch Lehren - für einen produktionsorientierten Fremdsprachenunterricht. Ein praktischer Leitfaden mit zahlreichen Unterrichtsideen und reichhaltiger Materialauswahl. Marburg: Tectum Verlag. 2003 (2.Aufl.) ISBN 3-89608-765-7

Siehe auch

Vorlesungen über LdL

Geschichte

Lernen durch Lehren nach Martin (LdL)

Lernen durch Lehren außerhalb des LdL-Kontextes