Die wissenschaftliche Forschung zur Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur datiert traditionell den deutlich größten Anteil der Bücherverluste in die Zeitspanne von den Barbareneinfällen bis zur karolingischen Renaissance. Neuere Forschungen zur quantitativen Überlieferungsgeschichte deuten darauf hin, dass innerhalb dieser Zeitspanne der entscheidende Wandel bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt, nämlich in der Spätantike, vollzogen worden sein könnte. Während die Textkritik innerhalb der klassischen Philologie sich immer nur einzelner Titel annahm, konnten unterdessen auf andere Weise genügend Überlieferungslinien rekonstruiert werden, um eine Überlieferungsgeschichte der gesamten heute verfügbaren antiken Literatur zu skizzieren. Wesentlich dafür waren Erkenntnisse aus verschiedensten Gebieten wie Archäologie, Papyrologie, Paläographie, Codiologie und begleitende technische Fortschritte wie etwa Ultraviolett- und Infrarotfotografie.
Neben einer quantitativen Darstellung diskutiert der Artikel die Bedeutung heidnisch-christlicher Religionskämpfe für den in absoluten Zahlen erheblichen Verlust an überliefertem Schrifttum. Der derzeit in der Forschung überwiegend vertretenen Verrottungs-/Umschreibungsthese wird dabei die Annahme einer möglicherweise bewusst und in größerem Umfang durchgeführten Zerstörung von Bibliotheken und Buchbeständen im Zuge der Christianisierung entgegengesetzt (Vernichtungs-/Duldungsthese). Vergleichende Forschungsmodelle können diese Annahme verständlicher machen beziehungsweise besser erklären.
Der Bestand der Antike und der Überlieferung
Durch die Überlieferung in Bibliotheken, also vor den Papyrusfunden ab 1900, waren von der griechischen Literatur vor dem Jahr 500 etwa 2000 Autorennamen bekannt, aber nur von 253 Autoren waren zumindest Teile ihrer Schriften erhalten. Für die römische Literatur waren es 772 Autorennamen, aber nur von 144 waren Schriften erhalten geblieben.[1] Dies führte zur häufig gebrachten Schätzung, wonach weniger als 10 % der antiken Literatur überliefert wurde.[2] Die fast 3000 Autorennamen stellen aber nur eine Mindestzahl dar. Es handelt sich nur um Autoren, die in überlieferten Texten erwähnt werden. Die überlieferten Texte sind jedoch recht selektiv und wurden zu einem großen Teil von christlichen Autoren ausgewählt, die in der Antike eine kleine Minderheit darstellten.
Eine Abschätzung des antiken Bestandes an Titeln und Büchern ist nur indirekt über die Bibliotheksgeschichte möglich. Die bekannteste Bibliothek der Antike, die Bibliothek von Alexandria, wuchs von 235 v. Chr. bis 47 v. Chr. von 490.000 auf 700.000 Rollen, größtenteils in griechisch.[3] Eine Rolle entsprach etwa auch einem Titel (siehe Glossar). Die Titelproduktion der griechischen Welt betrug daher mindestens 1100 pro Jahr. Extrapoliert auf das Jahr 350[4] ergäbe das einen Bestand von über einer Million Titel.[5]
Der Umfang des lateinischen Schrifttums lässt sich nicht genau bestimmen, könnte aber ebenso groß gewesen sein. Bedenkt man, dass eher triviale Werke aus den Provinzen wahrscheinlich keinen Eingang in die großen Bibliotheken hielten,[6] so kann man den Gesamtbestand der Antike auf mehrere Millionen Titel schätzen. Unter der Annahme einer durchschnittlichen Verbreitung von 10–100 Exemplaren sind dies um 100 Millionen Rollen oder, neutral umschrieben, Bücher (siehe Glossar). Von diesen Millionen Büchern aus der Zeit vor 350 ist kein einziges in einer Bibliothek überliefert worden. Alle Quellen aus heidnischer Zeit, also etwa vor 350, wurden nur als christliche Editionen (kompiliert um 400) überliefert.
Die Anzahl der überlieferten antiken Texte (ohne Funde) wurde bisher noch nicht genau bestimmt. Die Größenordnung dürfte bei etwa 3000 liegen, 1000 davon in Latein. Der größte Teil davon liegt nur in Bruchstücken vor. Das gesamte überlieferte heidnische Textvolumen umfasst, zumindest in Latein, wahrscheinlich weniger als in 100 Codices passen würde. Der Bruch im Bestand liegt in der Größenordnung von einem Faktor 1000. Mit anderen Worten, nur 0,1 % oder eines von 1000 Büchern überlebte. Diese Zahl ergibt sich, wenn man den geschätzten Gesamtbestand an Titeln von einigen Millionen den einigen 1000 überlieferten Texten gegenüberstellt; oder – völlig unabhängig davon – die letzte antike Bibliothek (Konstantinopel, 476 mit 120.000 Codices) mit der ersten mittelalterlichen (Cassiodor, 576 mit ca. 100 Codices) vergleicht.[7]
Wahrscheinlich fast alle uns überlieferten Bücher enthielten eine christliche Subskription. Dies war ein kurzer Vortext, der beschrieb, wann das Buch kopiert wurde und wer es auf seine Richtigkeit überprüft hatte. Solche Subskriptionen waren auch in heidnischer Zeit zumindest bei wertvollen Büchern üblich. Sie bestätigten die Fehlerfreiheit der Abschrift. Aus einem Brief des Bischofs Synesius von Cyrene (um 400) geht aber hervor, dass es zu seiner Zeit eine Klasse von Büchern gab, die als „unüberarbeitete Kopien“ galten. Sie zu besitzen war eine erhebliche Beschuldigung.[8] Dies deutet darauf hin, dass die christliche Subskription nicht nur Schreibfehler, sondern auch inhaltliche Veränderungen betroffen haben könnten. Es handelte sich dabei wohl um Veränderungen, die für die christliche Ideologie um 400 im Kampf gegen des Heidentum oder andere Fraktionen von Relevanz sein mussten. Rein formelle Dinge, wie Schriftart oder gar ein Bilderverbot, können für diese Zeit ausgeschlossen werden.
Wann ging das Gros antiker Literatur verloren?
Der Brand einer Bibliothek
Die Antike besaß eine große Zahl an Bibliotheken. Öffentliche Stadtbibliotheken und private mit 20.000 bis 50.000 Rollen sind bekannt. Es gab sie nicht nur in Rom (29 öffentliche um 350), sondern auch in den Provinzen. Bei Caesars Besuch in Alexandria verbrannte nicht die große Bibliothek, sondern ein Lagerhaus am Hafen mit 40.000 Rollen, wahrscheinlich eine Jahresproduktion [9] die für den Export bestimmt war. [10] Die Bibliothek von Alexandria umfasste in hellenistischer Zeit mehr als 490.000 Rollen, [11] diejenige in Pergamon 200.000 Rollen. Spätestens in der Kaiserzeit dürften einige Städte dieses Niveau erreicht haben, weil eine Bibliothek ein Statussymbol war.
Über die Bestandszahlen der großen Bibliotheken Roms sind keine Angaben überliefert. Archäologisch kann über die Größe von Wandnischen für Bücherschränke bei der Palatina unter der Ulpia Trajana auf mindestens 100.000 Rollen geschlossen werden. Wahrscheinlich befanden sich darin aber nur die kostbarsten Rollen. Auch die Bibliothek von Pergamon hatte fast alle ihre Bestände in Depoträumen. Von der Größe der Gebäude hätten die Hauptbibliotheken Roms, wie auch in Alexandria und Athen, jeweils Platz für Millionen Rollen gehabt. Bei einer solchen geografischen Verteilung des antiken Wissens konnten einzelne Ereignisse wie der Verlust einer Bibliothek für die Überlieferung kein wesentliches Problem darstellen.
Die Umschreibungs-/Verrottungs-These
Eine lange verbreitete Ansicht der Forschung ist, dass um 400 eine Umschreibung von Papyrus-Rollen auf Pergament-Codices stattgefunden habe. In der christlich dominierten Zeit oder sogar schon früher habe die Gesellschaft dann das Interesse an den heidnischen Rollen verloren. Sie seien daher nicht weiter kopiert worden und im Laufe des Mittelalters in Bibliotheken verrottet, während die haltbareren Pergament-Codices überdauerten.
Diese Vermutung wird besonders von Papyrologen bezweifelt. Papyrus steht in Haltbarkeit dem Pergament nicht nach. Roberts und Skeat, die das Thema selbst untersuchten, erklären dies 1983 in „The Birth of the Codex“ sehr deutlich. [12] Um 200 war es kein Problem, in einer Bibliothek in Rom eine 300 Jahre alte Papyrusrolle zu lesen. [13] Das Material hätte also über 400 Jahre aushalten müssen. Aber nach 800 haben die vielen antiken Rollen sicher nicht mehr existiert. Aus den Katalogen und der Kopiertätigkeit dieser Zeit können wir dies sicher schließen. Man konnte ab 800 nur noch auf Codices zurückgreifen die nach 400 geschrieben waren.
Außerdem enthält der C.L.A. mindestens 7 Papyrus-Codices, die in Bibliotheken aus der Zeit zwischen 433 und 600 bis heute zumindest in Teilen überlebten. Einer, C.L.A. #1507, um 550, liegt in Wien und hat noch 103 Seiten. Wenn diese 1500 Jahre überdauern konnten, hätten die vielen anderen mindestens 400 Jahre halten müssen. Der Verlust kann also nicht durch die Haltbarkeit von Papyrus, Rollen oder Codices erklärt werden.
Es sieht außerdem danach aus, als seien nach 400 plötzlich viel weniger Bücher und diese nur noch in Form von Codices produziert worden. Die in Oxyrhynchos gefundenen Buchrollen (ca. 34% der gesamten Papyri, 66% waren Urkunden) [14] zeigen eine rege Buchproduktion im 2. und 3. Jh, (655 und 489 Stück) und einen massiven Einbruch im 4. und 5. Jh. (119 und 92 Stück) sowie nur noch eine geringe Produktion danach (41, 5 und 2 Stück nach dem 7. Jh., als auch die Stadt verschwand).
Ein ähnliches Bild liefert der C.L.A. für Europa. Danach wurden von 400 bis 700 in Europa (außer Italien) nur etwa 150 Codices produziert. Davon entfallen auch noch 100 nur auf Frankreich. Das bestätigt auch die weitere Paläografie nach dem Zeitraum des C.L.A. Die Bestände der großen Klosterbibliotheken um 900 (Lorsch, Bobbio, Reichenau, alle um 700 Codices) stammen fast alle aus der Zeit nach 750 und zeigen damit die so genannte Karolingische Renaissance. Für die meisten antiken Bücher stammen die ältesten heute erhaltenen Kopien aus dieser Zeit. Wahrscheinlich kopierte man damals Bücher aus dem 5. Jh. die heute nicht mehr erhalten sind. Der C.L.A. kennt für die Zeit bis 800 nur 56 überlieferte klassische Bücher, davon 31 nur aus dem 5. Jh.
Was zunächst als Phase der Umschreibung von Rolle auf Codex erschien, lässt sich aufgrund dieser Ergebnisse als das Resultat einer extrem reduzierten Buchproduktion deuten. Erreichte sie vor 300 wahrscheinlich die Größenordnung von 100.000 pro Jahr, so lag sie nach 400 bei unter 10 pro Jahr. Dieser Wert gilt für den lateinischen Bereich auf Basis des C.L.A. Der C.L.A. zeigt eine Überlieferung von 1 bis 2 pro Jahr für 400 bis 700. Um auf eine Produktionsrate von 10 zu kommen, wäre ein unwahrscheinlich hoher Verlustfaktor von 5 bis 10 notwendig. Aufgrund dieser geringen Produktion war für den billigen Papyrus kein Bedarf mehr, man zog das bisher edlere, aber nun leichter verfügbare Pergament vor. Papyrus wurde nur noch in Ausnahmefällen für Bücher oder Urkunden verwendet und war im lateinischen Bereich ab etwa 600 kaum noch verfügbar.
Ein neuer Ansatz: Die "Vernichtungs- und Duldungsphase" (ca. 350-800)
Innerhalb der Überlieferungsgeschichte ist der Zeitraum von 350–800 der entscheidende. Die Diskussion hierüber ist jedoch kontrovers.
Im Hochmittelalter meinte man, Papst Gregor der Große (540-604) habe die große Palatina Bibliothek in Rom verbrennen lassen. [15] Bei heutigem Forschungsstand ist ausgeschlossen, dass Papst Gregor dies getan haben könnte. Denn der Verlust muss bereits vor seinem Pontifikat stattgefunden haben. Ob es einer seiner Vorgänger im 5. Jh. war, bleibt Spekulation. Die Palatina Bibliothek, von Augustus gegründet und wahrscheinlich die größte Roms, verschwand aus der Geschichte ohne jeden Hinweis auf ihr Schicksal. Mit dem Abschluss des C.L.A. in den 1970ern wurde diese Erkenntnis noch weiter gefestigt.
In der neueren Zeit wurde die Umschreibungs-/Verrottungsthese entwickelt. Demnach seien die antiken Bücher vergangen, aber nicht aktiv vernichtet worden. [16] Diese jüngeren Arbeiten betreiben jedoch keine Quantifizierung. So ist der neueren Literatur nicht zu entnehmen, wie groß der Verlust überhaupt war. Die Gesamtdarstellung der Überlieferungsgeschichte von Reynolds und Wilson („Scribes and Scholars“) etwa gibt keine Angaben zur Größe der Bibliotheken Cassiodors und Isidors. Es werden heute verlorene Schriften erwähnt, die um 600 noch zitiert worden seien, ohne zu erörtern, ob diese nur aus den Originalwerken exzerpiert worden sein könnten.[17] Alternative Erklärungsmodelle zur Umschreibungs/Verrottungsthese sind bislang vernachlässigt worden.[18]
Die Eingrenzung des Zeitraums: vor 500
Wie bereits erwähnt waren die antiken Bücher ab 800 sicher nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich waren sie aber auch schon ab 500 nicht mehr da. Cassiodor lebte von ca. 490 bis 583 in Italien. Er war zunächst Senator und Sekretär des Ostgotenkönigs Theoderich. Während des Kriegs mit Ostrom (Gotenkrieg) zog er sich nach seinem Aufenthalt in Konstantinopel [19] um 540 auf seine privaten Ländereien nach Süditalien zurück und gründete das Kloster Vivarium. Er sprach Latein, Griechisch und Gotisch, sammelte Bücher und übersetzte auch welche von Griechisch nach Latein. Sein erklärtes Ziel war die Rettung der klassischen Bildung, und er erklärte als erster das Kopieren von Büchern zur Pflicht für Mönche.
Aufgrund seiner wohlhabenden Position und seiner weiten Kontakte, auch in den griechischen Bereich, war er in einer außergewöhnlich guten Position, die wichtigsten zu seiner Zeit im Mittelmeerraum noch verfügbaren Bücher auch zu bekommen. [20] In seinen eigenen Texten beschreibt er seine Bibliothek, einzelne Bücher und gibt Zitate aus ihm wahrscheinlich vorliegenden Werken. Aufgrund dieser Angaben haben zunächst A. Franz und später R.A.B. Mynors „a provisional indication of the contents of the library at Vivarium“ („einen vorläufigen Überblick über den Bestand der Bibliothek von Vivarium“) erstellt. [21] Das Ergebnis war, dass Cassiodor nicht wesentlich mehr antike Texte kannte als wir heute. Er hatte die einzige größere Bibliothek des 6. Jahrhunderts, über deren Inhalt etwas bekannt ist. Sie verfügte etwa über 100 Codices.
Ähnlich war die Situation bei Bischof Isidor von Sevilla, der von ca. 560 bis 636 in Spanien lebte. Er hatte die einzige Bibliothek des 7. Jh., über deren Inhalt etwas bekannt ist. Paul Lehmann unternahm eine entsprechende Untersuchung von Isidors Schriften. Er kam zum Ergebnis, dass Isidor wahrscheinlich auf mindestens drei Büchern Cassiodors aufbaute. Lehmann: „Die meisten Schriften, die Isidor mit Titel und Verfasser angibt, hat er wahrscheinlich nie gelesen.“ [22] Isidor konnte nur 154 Titel zitieren. [23] Seine Bibliothek war wahrscheinlich deutlich kleiner als die von Cassiodor. Die großen Bibliotheken dürften also vor 500 verschwunden sein. Was blieb, waren kleine Klosterbibliotheken von um 20 Büchern. [24] Wie das sehr faktenreiche Standardwerk „Geschichte der Bibliotheken“ 1955 schrieb, musste der Verlust vor 500 stattgefunden haben: „Bereits zu Beginn des 6.Jahrhunderts war der große Verlust an antiken Texten eingetreten, und der Vorrat der Schriftsteller, die Cassiodor und Isidor zur Hand waren, überschreitet nicht erheblich den Kreis des auch uns Bekannten.“[25]
Die Eingrenzung des Zeitraums: 350 bis 400
Betrachtet man die Zeitspanne von 300 bis 800, so gab es immer wieder Ereignisse, bei denen einzelne Bibliotheken zerstört worden sein könnten. Es gab jedoch nur einen kurzen Zeitraum, von etwa 380 bis 400, in dem die Existenz aller Bibliotheken des römischen Reichs gleichzeitig bedroht war. Nur von einer einzigen großen Bibliothek wissen wir, dass sie diese Zeit überstanden hat: Die Palastbibliothek von Constantinopel wurde erst 476 mit 120.000 Codices durch ein Feuer zerstört. Die nächste bekannte Bibliothek ist erst wieder 100 Jahre später die von Cassiodor mit etwa 100 Codices.
Die Zeit um 391 wird teils als ein Höhepunkt im gewaltsamen Vorgehen des nun den Staat dominierenden Christentums gegen das Heidentum und seine gesamte Kultur beschrieben. Im Jahre 391 erließ Kaiser Theodosius I. ein Gesetz, wonach alle heidnischen Tempel zu schließen seien. Im Begriff der damaligen Zeit waren heidnische Tempel aber die meisten nicht-kirchlichen Kulturgebäude, etwa eine den Göttern geweihte Bibliothek oder auch das Museum, ein Tempel der Muse. In diesem Kontext wurde Theodosius' Edikt von manchen Forschern als Versuch interpretiert, auch alle heidnischen Bibliotheken zu vernichten. [26] Die moderne Forschung relativiert den Umfang der „Heidenverfolgungen" unter Theodosius und später. Unter Honorius gab es einen Erlass zum Schutz heidnischer Statuen aufgrund ihrer Bedeutung für die Kunst. Die Zahl der Heiden war noch im 5. und 6. Jh. hoch. Gewaltakte gegen heidnische Gebäude sind literarisch und archäologisch reich belegt.[27]
Wir wissen von der Bibliothek im Serapeum, das die Stadtbibliothek von Alexandria darstellte [28], dass sie 391 von Christen zerstört wurde. Von dem Museum von Alexandria, das die berühmte große Bibliothek enthielt und als Gebäude bis etwa 380 belegt ist, [29] gibt es nach 400 keine Spur mehr. Bereits im 5. Jh. wird das Gelände als Ödnis beschrieben. Johannes Philoponos erwähnt um 520 die „große Bibliothek“, die einstmals der Stolz Alexandrias war. [30] Erst Ausgrabungen 2003 fanden Fundamente.
Es gibt einzelne literarische Hinweise auf Textzensur. Ammianus Marcellinus (ca. 330 bis ca 395), die wichtigste Quelle für diesen Zeitraum, erwähnt die Verfolgung und Hinrichtung offenbar gebildeter Leute, denen der Besitz von Büchern mit verbotenem Inhalt vorgeworfen wurde. Ihre Codices und Rollen wurden in großer Zahl öffentlich verbrannt. Bei den Büchern soll es sich angeblich um „Zaubertexte“ gehandelt haben. Ammianus meinte aber, es seien vor allem Werke der „artes liberales“, der klassischen antiken Wissenschaften gewesen. Infolge des Terrors hätten, nach Ammianus, in den östlichen Provinzen „aus Furcht vor ähnlichen Schicksalen die Besitzer ihre ganzen Bibliotheken verbrannt“. [31]
Hierzu sei auch an eine andere Stelle bei Ammianus erinnert. Er kritisiert die oberflächliche Unterhaltungslust der römischen Oberschicht und fügt dabei ein: „die Bibliotheken waren geschlossen für immer, wie Grüfte.“ [32] Dies wurde im 19. und dem größten Teil des 20. Jh. von den meisten Gelehrten so interpretiert, als seien die großen öffentlichen Bibliotheken Roms geschlossen. In jüngster Zeit vermuten manche, es könne sich nur auf die Hausbibliotheken und die Vergnügungen des römischen Adels beziehen. [33]
Etwas später, um 415, besuchte der christliche Gelehrte Orosius Alexandria. Er beschreibt, er habe dort selbst in einigen Tempeln leere Bücherregale gesehen. Diese seien „ angeblich von unseren Zeitgenossen in unserer Gegenwart ausgeplündert worden.“ [34] Auch in Rom scheinen ab 400 die großen Bibliotheken geschlossen oder leer gewesen zu sein. Selbst unter der Annahme, die Gebäude der Trajansbibliothek hätten 455 noch gestanden, [35] gibt es keinen Hinweis, wonach sie oder andere dort noch geöffnet waren oder noch Bücher enthielten.
Die Notitia Dignitatum, ein Katalog der offiziellen Verwaltungsposten im Römischen Reich um 400, zeigte keinen Hinweis, dass noch irgendwer für Bibliotheken zuständig war. Aus anderen Dokumenten und Grabinschriften wissen wir aber, dass die Verantwortung für eine oder mehrere Bibliotheken vor 300 als wichtiges und ehrenvolles Amt betrachtet wurde. Hätte es nach 400 noch die großen Bibliotheken gegeben, so wäre ihre Verwaltung von extremer Bedeutung gewesen. Denn der Verwalter hätte bestimmt, welche Bücher nach der Christianisierung noch verfügbar sein dürfen und welche nicht. Durch Schließung der großen Bibliotheken wäre dieses Problem zu umgehen gewesen. Da ihr Inhalt zu über 99% aus heidnischen Büchern bestand, könnten Bibliotheken von christlichen Autoritäten nicht erwünscht gewesen sein.
Der deutlichste literarische Beleg für christliche Textzensur stammt aus der Zeit um 400 von Johannes Chrysostomos (349–407), der Bischof von Konstantinopel war, aktiv in der Bekämpfung des Heidentums und einer der bedeutendsten christlichen Gelehrten seiner Zeit. In einer apologetischen Schrift gegen die Heiden schreibt er, dass seit dem gewonnenen Kampf des Christentums die Philosophen und Redner der Heiden nur noch lächerlich gewesen seien wie dumme Kinder und niemand mehr hätten überzeugen können: „Ihre Schriften wurden so gering geschätzt, das ihre Bücher schon vor langer Zeit verschwanden, die meisten wurden bei ihrem ersten Erscheinen zerstört. Wenn man überhaupt noch etwas von ihnen erhalten findet, so findet man es aufbewahrt bei Christen.“ [36]
Heiden und Christen im Reich lebten allerdings noch lange Zeit großenteil konfliktlos zusammen, wobei sich verschiedentlich erhebliche Spannungen ergaben, die teils in Gewaltakte umschlugen. Gerade in neuester Zeit ist das gewaltsame Vorgehen der Christen wieder betont worden.[37] Die offizielle Religionspolitik hing vom jeweils herrschenden Kaiser ab, religiöse Konflikte waren aber oft sozial motiviert oder wurden von christlichen institutionellen oder spirituellen Autoritäten geschürt. Im Jahre 382 gab es noch acht namentlich bekannte heidnische Ponifices Maximi. [38]Der Umfang der Konversion in der Aristokratie ist zuletzt von M. Salzman aufgrund des literarischen Befundes zusammengestellt worden.[39] (prominente heidnische Konsuln im Jahr 391: Symmachus und Tatian). Heidnische Schulen in Athen und Alexandrien existierten bis ins 6. Jh., verloren jedoch nach und nach an Einfluss oder passten sich der christlichen Umwelt an.[40] Die Platonische Akademie in Athen, oft als „Hort paganer Traditionen“ bezeichnet, wurde von Justinian I. 529 geschlossen.
Der archäologische Kontext
Ammianus’ und Chrysostomos’ Schilderungen könnten übertrieben sein. Um 380 schilderte Libanios, der freilich als Heide ebenfalls nicht unbefangen war, in einem Brief an Kaiser Theodosius I. systematische Zerstörungen einer Vielzahl heidnischer Tempel durch „Banden schwarz gekleideter Mönche“.[41]
Sauer findet zerstörte heidnische Tempel für diese Zeit vor allem im Westen. Dies liegt aber nur daran, dass hier (vor allem in Deutschland) die Ausgrabungen zahlreicher und sorgfältiger waren. Letzteres war entscheidend, um aus Beifunden wie Münzen den ungefähren Zeitraum der Zerstörung der Tempel zu ermitteln. Sauer legte dar, dass die Zerstörungen seiner Meinung nach exzessiv waren und das ganze Reich umfassten:
„Auf der Basis schriftlicher und archäologischer Hinweise kann es keinen Zweifel geben, dass die Christianisierung des römischen Kaiserreichs und des frühmittelalterlichen Europa einherging mit der Zerstörung von Werken der Kunst in einem Ausmaß, wie man es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor sah.“ [42] In jüngerer Zeit wurde auch im arabischen Raum die Büchervernichtung während der Spätantike mit den Grundlagen des Christentums in Verbindung gebracht.[43] Zerstörungen dieser Art wurden wohl teils von grausamen Hinrichtungen begleitet. Es gibt direkte archäologische Zeugnisse dieses Vorgehens gegen Heiden. In einem mit Felsen verschlossenen und zugeschütteten Mithrastempel fand man das Skelett eines schmächtigen Mannes mit hinter dem Rücken gefesselten Händen. Er war offenbar in dem unterirdischen Raum lebendig begraben worden.[44] In einem anderen Mithrastempel fand man das Skelett eines gepfählten Mannes, der offenbar zum Sterben in den Raum gelegt wurde, ehe man ihn zuschüttete.[45]
Der Umfang an religiös motivierter Gewalt wird indes relativiert durch eindeutige Belege darüber, dass anders als die „radikalen Christen“, die heidnische Bildung insgesamt ablehnten, viele tolerante Christen heidnische Kultur und Glauben in Einklang bringen wollten.[46] Nicht nur Christen wandten extreme Gewalt an: In Alexandria kam es 391 zu Straßenkämpfen, als Christen von Heiden gekreuzigt wurden, und in Apameia in Syrien wurde der Ortsbischof Markellos von Heiden verbrannt.[47] Wenn Johannes Chrysostomos Gewaltakte gegen Heiden nicht erwähnte, so spielt wohl auch der Umstand eine Rolle, dass er das damalige Christentum als friedfertige Bewegung präsentieren wollte – zumindest für die Nachwelt. In der seit damals gepflegten christlichen Geschichtsschreibung werden ausschließlich christliche Märtyrer als Opfer heidnischen Terrors stilisiert, was propagandistisch motiviert gewesen sein mag. Neuere Survey- und Datenbankfoeschungen zum Umfang von Tempelzerstörungen bestätigen grundsätzlich das Bild einer nachhaltigen Zerstörung heidnischer Gebäude, wenngleich nicht als Konsequenz einer systematischen Verfolgung, so doch in der Summe der allerorts auftretenden lokalen Religionskämpfe.[48]
Die Rolle der „Zauberbücher“
Die antike Literatur war wahrscheinlich auch in kleinen und kleinsten privaten Bibliotheken verbreitet. Der Verlust der großen Bibliotheken konnte daher wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte des Bestandes betreffen. Der vollständige Verlust der Millionen vor ca. 350 erstellten Bücher muss ein längerer Prozess gewesen sein, wobei traditionell Zerstörungen im Zuge der Barbareninvasionen die Hauptverantwortung zugewiesen wird. In der antiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung wird eine systematische Vernichtung von Literatur durch Christen nicht explizit erwähnt. Allerdings ist bekannt, dass so genannte „Zauberbücher“ verfolgt wurden. Diese Literaturgattung war zu Beginn des ersten Jahrtausends eher selten (siehe Häufigkeit von Zauberbüchern). Sie wurde seit der offiziellen Anerkennung des Christentums im 4. Jh. deutlich häufiger zum Ziel von Verfolgungen.
Eine umfangreiche Schrift mit christlich apologetischer Tendenz[49] Arbeit von Speyer widmete sich 1981 dem Thema der antiken Büchervernichtung.[50] Zum Thema „Die Vernichtung der heidnischen Literatur“ fand Speyer Hinweise auf die Vernichtung christenfeindlicher Schriften, von heidnischen Ritualbüchern, von lasziver Literatur (Erotik, Pornographie) und von Zauberbüchern. Demnach sind Schriften der klassischen Wissenschaften nie gezielt vernichtet worden.[51] Verfolgung von Zauberschriften, wahrscheinlich Fluch- und Schadsprüche/Rituale, gab es schon zu heidnischer Zeit. Gebildete, wie Plinius der Ältere, hielten Zauberei schlicht für Betrug.[52]
Im Volksglauben war Magie aber immer mehr oder weniger vorhanden. In christlicher Zeit, ab ca. 350, scheint die Verfolgung von Zauberbüchern erheblich zugenommen zu haben. Da Ammian über die Verbrennung von Büchern der klassischen Wissenschaften im Rahmen von Zauberbücher-Verfolgungen berichtet, ist es möglich, dass auch andernorts heidnische Literatur in diesem Zusammenhang vernichtet wurde.
Ob ein Buch Magie oder Wissenschaft enthielt, war nur durch sein Lesen erkennbar. Selbst dann bedurfte es noch einiger Bildung, den Unterschied in jedem Fall zu erkennen, und nicht jeder Christ, der in Büchervernichtungen involviert war, dürfte über eine hinreichende Bildung verfügt haben. Ein heidnisches Buch konnte als Zauberbuch erkannt werden, wenn es einem berühmten Heiden oder einer Gottheit gewidmet ist oder nur einen inzwischen als Magier angesehenen Wissenschaftler zitierte. Eusebius wirft den heidnischen Gegenkaisern des Konstantin I. magische Praktiken vor, was vermutlich propagandistisch motiviert war. Der Vorwuf der Magie war sehr weit gefasst und könnte auch teilweise gegen heidnische Literatur verwendet worden sein.
Die Verbrennung von Zauberbüchern durch Christen geht nach Speyer auf eine Passage in der Apostelgeschichte zurück. [53] Dabei wird erzählt, wie Paulus Dämonen austrieb, um Kranke zu heilen. Er war dabei erfolgreicher als die „Söhne eines jüdischen Hohenpriesters Skeva“, die als „umherziehende jüdische Beschwörer“ bezeichnet werden. [54] Nach dem Triumph von Paulus in der Stadt: „Viele aber von denen, die gläubig geworden waren, kamen und bekannten und verkündeten ihre Taten. Viele aber von denen, welche vorwitzige Künste getrieben hatten, trugen die Bücher zusammen und verbrannten sie vor allen; und sie berechneten den Wert derselben und fanden ihn zu fünfzigtausend Stück Silber.“ (Apg, 19,18-19). In dieser Passage kann man nur aus dem Kontext vermuten, dass Bücher mit Zaubersprüchen gemeint sind. [55] Die laut der Überlieferung große Menge der hier vernichteten Bücher macht entweder die Passage unglaubwürdig oder erlaubt den Schluss, dass es sich keineswegs nur um Zauberbücher im heutigen Sinne gehandelt hat. Von besonderer Relevanz ist nun, dass es außer dieser Bibelstelle erst wieder ab dem 4. Jh. Nachweise für die Verbrennung von „Zauberbüchern“ im Rahmen christlicher Bekehrung gibt.
Von ca. 350 bis ins Mittelalter hinein gibt es einige Schilderungen, dass der Besitz von „Zauberbüchern“ lebensgefährlich war, sie gezielt gesucht und vernichtet wurden. Es gibt zumindest einen Beleg für eine Tötung ihres Besitzers in der Zeit um 350-400:
„In dieser Zeit wurde mit größter Strenge gegen die Besitzer von Zauberbüchern vorgegangen. Von Johannes Chrysostomos erfahren wir, dass Soldaten seine Heimatstadt Antiochien am Orontes genau nach magischen Schriften durchsuchten. Als er selbst zu dieser Zeit mit seinem Freund am Orontes entlangging, sahen sie einen Gegenstand auf dem Fluss schwimmen. Sie zogen ihn heraus und erkannten, dass sie ein verbotenes Zauberbuch in Händen hielten. Im selben Augenblick zeigten sich in ihrer Nähe Soldaten. Doch es gelang ihnen noch, das Buch unbemerkt im Gewand zu verstecken und es wenig später wieder in den Fluss zu werfen. So entgingen sie der Lebensgefahr. Wie Chrysostomos weiter berichtet, hatte ein Besitzer eines Zauberbuches dieses aus Angst vor den Verfolgern in den Fluss geworfen. Er wurde dabei beobachtet, der Zauberei überführt und mit dem Tode bestraft.“[56]
Außer Ammianus gibt es offenbar noch weitere Quellen, wonach zu dieser Zeit zum Auffinden heidnischer Bücher auch Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden. [57] Etwa 100 Jahre später (487 bis 492) gibt es weitere Berichte von Hausdurchsuchungen. Studenten in Beirut fanden bei einem „Johannes mit dem Beinamen 'Walker' aus dem ägyptischen Theben“ Zauberbücher. Er hatte sie dann selbst verbrannt und wurde gezwungen, die Namen von anderen Besitzern anzugeben. Daraufhin begannen die Studenten „unterstützt vom Bischof und der weltlichen Obrigkeit“, eine größere Suchaktion. Sie fanden bei anderen Studenten und einigen namhaften Personen derartige Bücher und verbrannten sie vor der Kirche. [58] Hinrichtungen der Besitzer werden nun nicht mehr erwähnt.
Im Jahre 526 ließ Kaiser Justinian die Akademie von Athen schließen. Im Jahre 546 erließ er ein Lehrverbot für Heiden und ließ heidnische „Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen“ verfolgen und 562 „heidnische Bücher“ öffentlich verbrennen. [59] Die Reihenfolge dieser Ereignisse könnte darauf hindeuten, dass die heidnischen Bücher in der Folge der Verfolgung von Heiden gefunden wurden. Gezieltes Suchen nach heidnischer Literatur würde erklären, warum Chrysostomos um 400 heidnische Bücher am ehesten im Besitz von Christen vermutete.
Die Verbindung zwischen den klassischen Wissenschaften und den Zauberbüchern lässt sich möglicherweise weiter wahrscheinlich machen. So werden in einem Gesetz der Spätantike seit 409 „Mathematiker“ verpflichtet, „ihre Bücher vor den Augen der Bischöfe zu verbrennen, andernfalls seien sie aus Rom und allen Gemeinden zu vertreiben.“ [60] Üblicherweise wurden Mathematiker in der Spätantike mit Astrologen gleichgesetzt. Dies erscheint aber nicht zwingend. Unter Mathematik verstand die Antike wesentliche Teile der klassischen Wissenschaften. Nur im einfachen Sprachgebrauch wurden darunter Astrologen (Sterndeuter) verstanden. [61]
Der Kontext der Spätantike
Für die Annahme eines erheblichen Bücherverlustes in der Spätantike sprechen noch weitere Hinweise. Die antike Welt hatte wahrscheinlich einen relativ hohen Alphabetisierungsgrad. Plinius schrieb seine Enzyklopädie ausdrücklich für Bauern. Papyrusfunde aus Ägypten bestätigen, dass auch arme Bauern in den Provinzen offenbar lesen und schreiben konnten. Ein Grabstein, gefunden in Bayern, gesetzt von einem Sklaven für einen Sklaven, deutet sogar auf Alphabetisierung ländlicher Sklaven in den Provinzen. Für städtische Sklaven war dies schon länger belegt. Johannes Chrysostomos schrieb eine Schrift gegen die Heiden, wobei er als Zielgruppe ebenfalls die Unterschicht benannte, wahrscheinlich war dieser Text allerdings zum mündlichen Vortrag, etwa im Gottesdienst gedacht.
Seit dem späten 4. Jh. wurden Heiden zunehmend aus dem Bildungsbetrieb zurückgedrängt, wobei allerdings einzelne prestigereiche Schulen, die in heidnischer Tradition wurzelten, weiter existierten. Julian Apostata hatte 362 durch das Rhetorenedikt noch versucht, die Christen vom Lehrbetrieb faktisch auszuschließen. Dieser staatliche Eingriff schlug später auf die Heiden zurück. Dies könnte Auswirkungen auf die Überlieferung der antiken Literatur gehabt haben. Augustinus von Hippo (354-430), der bedeutendste Kirchenvater der Spätantike, argumentierte zwar für den Erhalt des heidnischen Schrifttums. Aber im Prinzip nur verschlossen in einer Bibliothek, denn er wollte es weder verbreitet noch gelehrt sehen. Er sprach sich gegen die Lehre der ars grammatica und alles, was dazu gehört, aus. Nur kirchliche Schriften seien zu benutzen.[62] Der Bildungstand und Grad der Alphabetisierung dürfte sich allerdings in der Spätantike im Vergleich zu vorchristlichen Epochen des Römischen Reiches nicht deutlich unterschieden haben.
Papst Gregor der Große (540-604) nahm eine deutlich negative Haltung zur antiken Bildung ein. Er vermied strikt antike Zitate, tadelte empört einen Bischof, der Grammatik unterrichtete, und ließ schließlich sogar per Gesetz verbieten, dass Bischöfe solchen Unterricht erteilten. [63] Ebenso Isidor von Sevilla, der in seinen Regeln für das Mönchstum warnte, nur sehr gefestigten Schülern dürfe erlaubt sein, heidnische Schriften zu lesen, wahrscheinlich ein Grund, warum er diese Texte zusammenfasste. Hagendahl: Man fühlt sich nach Cassiodor, sagt Manitius, „in eine andere Welt versetzt: Mystik, Aberglaube und Wundersucht überwuchern jetzt die früher oft so logische und sachgemäße Darstellung“. [64] Allerdings wird der Umgang mit heidnischer Literatur von christlichen Literaten kontrovers beurteilt. Seit dem 4. Jahrhundert gab es eine deutliche Tendenz, klassisch-heidnische Schriften in das christliche Weltbild zu integrieren, soweit es mit diesem nicht völlig unvereinbar war. Dies bezog sich hauptsächlich auf Autoren, die bereits in der Antike eine herausragende Bedeutung besaßen und im Idealfall als Vordenker für das Christentum interpretiert werden konnten (etwa Cicero und Seneca).
Als Folge der Zurückdrängung von Heiden sowie der Barbareneinfälle und des damit verbundenen Verlustes städtischer Strukturen konnte vermutlich auch der Klerus den Alphabetisierungsgrad nicht halten. Cassiodor kämpfte mit der geringen Alphabetisierung seiner Mönche. Lowe: „Von den Regeln der Orthographie und Grammatik, die er niederlegte, kann man ermessen, wie tief die Gelehrsamkeit zu seiner Zeit bereits abgesunken war.“ [65] Zur Zeit Isidors wurde ein Gesetz erlassen, das Analphabeten vom Amt des Bischofs ausschloss - das höchste Amt, das die Kirche damals zu vergeben hatte.
Nicht wenige Klosterinsassen des Mittelalters waren zumindest auf dem Kontinent ebenfalls Analphabeten. Selbst manche Schreiber von Codices malten nur das textliche Bild der Vorlage ab.[66] Dies hatte aber auch den Vorteil, dass die Kopien dieser Zeit sehr originalgetreu sind – man wagte nicht, die Vorlage zu „verbessern“. Die frühmittelalterlichen Bibliotheken hielten auch nicht den Vergleich mit ihren antiken Vorbildern stand. Dennoch ist es vor allem der Kopiertätigkeit der Mönche zu verdanken, dass ein nicht noch größerer Teil der antiken (in diesem Fall lateinischen) Literatur verloren gegangen ist.[67]
Aus dem 16. und 17. Jahrhundert zurückrechnend kommt man für den Beginn des Spätmittelalters (um 1250) auf einen Alphabetisierungsgrad in Kontinentaleuropa von etwa 1 %. Grob geschätzt bedeutet dies, die 90 % Landbevölkerung sind völlige Analphabeten, von den 10 % Stadtbevölkerung sind es dann wiederum nur 10 %, die lesen und schreiben können (in Skandinavien war dies die Saga-Zeit mit sehr hohem Alphabetisierungsgrad). Das Mittelalter zeigte von 700 bis 1500 aber Hinweise für eine ständige Zunahme der Schriftlichkeit.
Der Bücherverlust im Kontext christlich-heidnischer Religionskämpfe
Siehe auch: Spätantike und Ende der Antike
Die wissenschaftliche Diskussion über die Gründe für den Untergang des Weströmischen Reiches (denn Byzanz bestand noch bis 1453 fort) wird seit über 200 Jahren geführt, ohne dass ein Konsens in Sicht ist. Während für den Untergang des Reichs Barbareneinfälle eine Rolle spielten, hat der Untergang der antiken Literatur und damit der antiken Kultur möglicherweise auch interne Ursachen gehabt. Der Verlust an Literatur war die wohl nachhaltigste Folge des Unterganges, wobei der Anteil aktiver Vernichtung durch Christen im Zuge religiöser Auseinandersetzung in der bisherigen Forschung zu wenig beachtet wurde.[68] Im Folgenden wird diskutiert, welche Motive die Christen im Kontext der Spätantike bewogen haben könnten, heidnische Literatur zu vernichten.
Folge des Religionskampfes
Auch wenn die Märtyrergeschichten übertrieben erscheinen, kann kaum ein Zweifel bestehen, dass der römische Staat das frühe Christentum möglichst einzudämmen versuchte. Einzelne Kaiser des 3. und 4. Jh.s setzten dabei alle Mittel ein, die dem Staat zur Verfügung standen. Die Christen bedienten sich dieser Mittel später selbst zur Vernichtung des Heidentums. Für die meisten dieser Maßnahmen der Christen lässt sich ein früheres Beispiel aus der Christenverfolgung finden.[69] Büchervernichtungen könnten dabei ein Ziel oder beiläufiger Effekt gewesen sein. Bereits in der frühen Kaiserzeit gibt es Beispiele von Textzensur (etwa Cremutius Cordus).
Verteidigung des Glaubens gegen weltliches Wissen
Der Verlust antiker Bücher bedeutete auch den Verlust an weltlichem Wissen. Dies war in der Spätantike sicher so umfangreich und kompliziert, dass eine mündliche Überlieferung nicht mehr möglich war. Insofern wissenschaftliches Wissen mit heidnischen Namen und Anschauungen verbunden war, stand es in Konkurrenz zum Christentum. Dies galt auch für tägliche Dinge, wie Krankenheilung, [70] aber auch den Verlauf komplexer militärischer Operationen. [71]
Am bedrohlichsten für den christlichen Glauben könnten Werke der heidnischen Unterhaltung gewesen sein. Viele Klassiker stellten eine Welt mit Figuren dar, in die sich der Leser ohne Probleme hineinversetzen oder mit denen er sich identifizieren konnte. Auch konnte der Leser daraus Wissen über die Welt erfahren, das er selbst anwenden konnte. Die kirchlichen Schriften hingegen belehrten nur über den Glauben und versprachen nur bedingt Hilfe, da ein Versagen der Hilfe immer als Prüfung oder Mahnung des mangelnden Glaubens interpretiert werden konnte. Wahrscheinlich am gefährlichsten waren die pornografischen Texte der Antike. In der heidnisch-römischen Kultur waren pornografische Darstellungen aller Art im gesamten Alltag verbreitet. [72]
Ein diesbezüglicher Jugendschutz fehlte völlig. Dieser Bedrohung konnte die Kirche außer einem Verbot praktisch nichts entgegensetzen. Es ist daher kein Zufall, wenn bereits um 200 Kirchenvater Tertullian nicht nur die heidnischen Philosophen (die Wissenschaftler der Antike) sondern auch die Schauspieler verdammt und zur Hölle wünschte. [73] Isidor warnt später ausdrücklich vor den heidnischen Dichtern [74] und stellt Schauspieler auf die gleiche Stufe mit Prostituierten, Verbrechern und Räubern. [75] Ähnliche Einstellungen zu Schauspielern finden sich schon bei Autoren der heidnischen Antike. Mit der Christianisierung wurden ursprünglich heidnische Veranstaltungen, wie etwa die Gladiatorenspiele, aber auch Sport- und Kunstfeste (Agone) verboten bzw. ihnen Geldmittel entzogen.
Endzeiterwartungen
Der Untergang Roms, die Eroberung des Reichs durch Barbaren wurde von manchen Zeitgenossen als apokalyptisch, wie ein Weltuntergang empfunden. Es gibt keinen Hinweis, dass dieses Ereignis (oder noch schlimmere im 6. Jh.) als Rache an Rom für die Hinrichtung von Jesus Christus oder ähnlichem interpretiert wurde. Die heutige Interpretation der Bibel war im wesentlichen auch die damalige und ließ dies nicht zu.
Relevanter ist allerdings der Endzeitgedanke des NT, der dem des AT durchaus ähnelt. Im AT musste der jüdische Staat erst in höchste Not geraten, ehe Gott seine Himmlischen Heerscharen schickte, um das Reich Gottes auf Erden zu errichten.[76] Auch im NT muss sich erst eine große Katastrophe ereignen, bevor das Paradies auf Erden kommt und die Geschichte der Menschheit sich erfüllt. So lautet die Prophezeiung in der Apokalypse des Johnannes. Der Glaube an das nahe bevorstehende katastrophale Ende der Welt durchzieht das ganze Mittelalter.
Unwahrscheinlich ist, dass für einzelne Personen der Spätantike dies eine Motivation gewesen sein könnte, Literatur zu vernichten. Es bestand die Möglichkeit zum Trost in der Misere, wenn späteren Generationen dafür ein viel besseres Leben sicher ist.[77] In allen Glaubeninterpretationen des Christentums ist es aber strikt verboten, durch irgendwelche Taten Gott direkt zum Handeln zu provozieren. Ebenso verboten sind alle vermeidbaren Handlungen, die andere Christen in Gefahr bringen. Diesem Ethos zufolge ist es unwahrscheinlich, dass Endzeiterwartungen Christen zu Büchervernichtungen motiviert haben könnten.
Glossar - Quantitativ
Das Buch
Der Begriff „Buch“ ist in der Überlieferung nicht immer eindeutig. Erst aus dem Kontext kann man schließen oder vermuten, ob eine Rolle oder ein Codex gemeint ist. Allgemein gilt ein Buch als ein Titel und ein Band. Dies ist heute üblich, galt aber nicht für den Codex vor 1500. Ein physisches Buch wird im Deutschen als Band bezeichnet, dies muss aber nicht für das englische „Volume“ gelten.
Die Rolle
Die Rolle war in der Antike ein Buch mit literarischem Inhalt (im Gegensatz zu Urkunde oder Brief) aus Papyrus und meist einseitig beschrieben. In etwa kann man eine Rolle mit einem Titel gleichsetzen (s.u.). Am wichtigsten für statistische Angaben sind die Rollen von Oxyrhynchos. Die Buchrollen unter den Funden von Oxyrhynchos stammen vom 1. bis zum 7. Jahrhundert. Der Datensatz betrifft daher fast nur das 1. bis 4. Jh. Er reicht nicht vor das 1. Jh., da die lokalen Bedingungen, wahrscheinlich die in Tiefe zunehmende Bodenfeuchte, das tiefere, ältere Material, vernichtet haben.
Nach den Daten von W.A. Johnson (1992) betrug die durchschnittliche Länge 10.3 m. Dies ist jedoch eine Hochrechnung von Fragmenten, beeinflusst auch durch einige vermutlich große Rollen (19 bis 29 m) Herodot, Plato und Thucydides. Die Existenz solch großer Rollen scheint andernorts belegt. Axon erwähnt eine 120 feet (40 m) lange Homer-Rolle, geschrieben mit Goldbuchstaben, als Bestand der Palastbibliothek von Konstantinopel um 400.[78] Vermutlich war es ein immer ausgebreitet präsentiertes Ausstellungsstück aus einer heidnischen Schule oder Bibliothek.
Hagedorn schätzt die durchschnittliche Rolle auf 3 bis 4 m, glaubt aber, „Rollen von 10 m Länge dürften keine Seltenheit gewesen sein.“ Pöhlmann kommt von Literaturrecherchen auf einen Wert von 6 bis 11 m. [79] Vielleicht kann man von einer durchschnittlichen Länge der Buchrolle von 6 bis 8 m ausgehen. Besonders relevant ist dieser Wert aber nur zur Berechnung der Bestände von Schränken in Wandnischen, wenn nur noch diese Gemäuerüberreste von einer antiken Bibliothek vorhanden sind.
Wichtiger ist die durchschnittliche Anzahl der Buchstaben pro Rolle. Sie betrug bei Johnsons Datensatz von Oxyrhynchos 83.300 pro Rolle. Werte von 150.000 scheinen für 10 bis 12 m lange Rollen großer Werke, etwa Herodot, noch üblich gewesen zu sein. Die durchschnittliche Buchstabenbreite betrug 3,3 mm, konnte aber auch von 5 bis unter 2 mm reichen. Die Anzahl der Buchstaben pro Rolle ist daher unabhängig von der durchschnittlichen Größe der Rolle.
Axon stellte eine Statistik von 14 Werken von 7 überlieferten berühmten lateinischen Autoren auf. Sie sind zwar nur als Codex überliefert, da sich aber die Werke in Rollen („Bücher“, „Volumes“) unterteilten, kann man gut auf die Anzahl der Rollen schließen. Es waren insgesamt 141 Rollen mit zusammen 7.755.903 Buchstaben. Axon erhielt so einen Durchschnittswert von 53.860 Buchstaben pro Rolle. Die Vermutung liegt nahe, dass die Römer, wohlhabender und praktischer veranlagt als die Ägypter, etwas kleinere Rollen bevorzugt haben. Im folgenden wird der Wert von Oxyrhynchos mit 83.300 Buchstaben pro Rolle verwendet, da er auf einem größeren Datensatz beruht.
Der Codex
Der Codex, der unseren heutigen Büchern ähnelt, war bereits im 1. Jh. in Rom auch für triviale Literatur üblich. [80] Meist aus Pergament war der Codex mitunter handlicher, aber immer teurer als die Papyrus-Rolle. Codices mit Papyrusseiten waren ebenfalls üblich. Die meisten antiken Codices sind durch Funde aus Ägypten bekannt und enthielten vom Umfang her etwa 4 Papyrus-Rollen. Allerdings änderte sich die Größe des Codex in drastischer Weise in der Spätantike.
Bis zum 3. Jh. ist kein Codex bekannt, der mehr als 300 Seiten (150 Blätter) gehabt hätte, die meisten hatten weniger. Aus dem 5. Jh sind dann Codices überliefert, die mindestens 638, 1460, 1600 und 1640 Seiten hatten. Ulpians 35 Rollen „Ars Edictum“ fanden sich zu der Zeit in 3 Codices zu je 14, 11 und 7 Rollen. Gregor der Große erwähnt, er habe in 6 Codices den Text von 35 Rollen untergebracht. [81] Roberts und Skeat rechnen bis Ende der Spätantike mit durchschnittlich 6 Rollen pro Codex. [82] Die großen Codices der Spätantike waren aber unhandliche, überformatige Monstren von 10 bis 20 kg Gewicht. Ein Wert von 4 Rollen pro Codex passt weitaus besser zum lateinisch-mittelalterlichen Codex, der um 800 auch etwa diese Textmenge (4 x 83.300) und Titelzahl umfasste. Gegen Ende des Mittelalters könnte sich beim Übergang vom Pergament zum billigeren Papier die Titelzahl weiter verringert haben. Mit der Verbreitung des Buchdrucks war dann nur noch ein Titel üblich. Der Begriff Codex sollte eher handschriftlichen Büchern vorbehalten sein. Es gab sie noch bis ins 18. Jh., da das Kopieren einzelner Bücher deutlich billiger war, als eine Auflage im Druck.
Titelzahl bei Rolle und Codex
In der Antike sehr verbreitete große Werke enthielten einige Rollen pro Titel. Die lateinische Aufstellung Axons (s.o.), die er für repräsentativ hält, kam bei 14 Titeln (Werken) auf durchschnittlich 10 Rollen pro Titel. Allerdings bezieht sich dieser Wert nur auf überlieferte Bücher. Aus der Antike selbst gibt es für die Zeit um 235 v. Chr. eine deutliche Aussage. Demnach enthielt die Bibliothek von Alexandria damals von 490.000 Rollen 400.000 (80%) mit „gemischtem Inhalt“. [83] Damit könnten nicht nur mehrere Titel sondern sogar mehrere Autoren pro Rolle gemeint sein. Mehrere Titel auf einer Rolle könnte auch auf ungewöhnlich große Rollen in der Anfangszeit der Bibliothek hindeuten. Unsere Daten zur Größe der Rollen stammen vor allem aus der wirtschaftlich besseren, pragmatischeren römisch-kaiserzeitlichen Periode. Sieht man die Rollengröße der alten griechischen Klassiker (Homer, Herodot, usw.) im Verhältnis zu den Werten von Oxyrhynchos oder der Lateiner-Statistik von Axon, so zeigt dies eine Verringerung der durchschnittliche Größe der Rolle. Dies würde dann eher auf nur einen Titel pro Rolle führen.
Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen dem antiken Wert von einer Rolle pro Titel zu dem überlieferten Bestand von im Mittel 10 Rollen pro Titel erklären? Es könnte mit der Überlieferung durch große spätantike Codices zu tun haben. Die Editionen um 400 werden die berühmtesten (erlaubten) Werke ihrer Zeit enthalten haben. Dies waren dann vor allem große Werke von Plinius, Livius und Aulus Gellius mit 37, 35 und 20 Rollen. Die 3 Titel von Tacitus, die je eine Rolle umfassen, wurden wohl nur überliefert weil sie mit den Annales (12 Rollen) und Historia (5) in einem Codex zusammengefasst waren. Bei einer personenbezogenen Titelauswahl mit Neigung zu den berühmtesten und damit meist größten Werken ist beim so erhaltenen Corpus ein deutliches Anwachen der Rollenzahl pro Titel zu erwarten.
Interessant ist dazu die Feststellung von J. O. Ward. Demnach war das im Mittelalter zirkulierende Medium nicht der Codex, der heute in der Bibliothek steht, sondern das „Booklet“. Es war vom Umfang her nicht größer als 1 bis 2 Rollen. Mehrere Booklets wurden dann im Mittelalter, meist sogar später, zu Codices zusammengebunden. [84] Da ein zirkulierendes Booklet mindestens einen Titel umfassen musste, scheint die typische Titelgröße auch im Mittelalter bei 1 bis 2 Rollen gelegen zu haben. Die Größe eines durchschnittlichen Werkes, eines Titels, vor der Zeit des Buchdrucks, war daher eher im Bereich eines größeren Zeitschriftenartikels und nicht dem eines heutigen Buches. Die Gleichsetzung eines Titels mit einer Rolle dürfte für die Antike zumindest die Größenordnung sicher treffen.
Häufigkeit von Zauberbüchern
Unter einem Zauberbuch versteht man heute ein Grimoire. Sie enthalten angeblich geheimes Wissen über Magie, Dämonen und Hexerei. Typisch sind Sammlungen von Zaubersprüchen, Anleitungen für Rituale oder zur Herstellung von nicht funktionierenden Wundermitteln.[85]
Von solchen Büchern streng zu trennen sind Notizen, die im Rahmen von Ritualen geschrieben wurden. Sie enthalten Bittgesuche an Götter, Beschwörungen oder Verfluchungen. Solche Notizen auf Blei, Stein, Holz oder Papyrus sind zu Hunderten gefunden worden. Ebenfalls nicht unter Zauberbücher fallen einzelne kurze magische Texte wie Rezepte zu jeweils einem Ritual.
Aus dem Vorhandensein von Zauberbüchern in der Überlieferung oder in einzelnen Papyrusfunden lässt sich wenig über die Häufigkeit aussagen.[86]
Die Papyrusfunde von Oxyrhynchus sind aber aus einer Zeit, in der es kaum oder keine Verfolgung von Zauberbüchern gab. Da sie aus einer Müllhalde stammen, zeigen sie wahrscheinlich einen Querschnitt der damals gebrauchten Bücher, wobei allerdings Verwaltungstexte überrepräsentiert sein könnten. Der Themenvergleich mit den Titeln des Varro (s. o.) unterstützt diese Vermutung.
Die Studie von Julian Krüger[87] über die Literaturrezeption in Oxyrhynchos präsentiert auf Seite 227 bis 245 Inhaltsangaben zu 1485 Papyrustexten.[88]
Davon sind nur 14 mit Zauberei verbunden:
- PSI 1290 "Initiationritus zu Mysterien"
- P.Oxy. 1380 "Anrufung der Isis"
- P.Oxy. 1381 "Preisung des Imuthes-Asklepios"
- P.Oxy. 885 "Abhandlung über Divination" (Wahrsagen)
- P.Oxy. 2332 "Töpferorakel"
- P.Oxy. 886 "Magischer Text"
- P.Oxy. 887 "Magischer Text"
- P.Harr.55 "Magischer Text"
- P.Laur.123 "Magischer Text"
- P.Oxy. 658 "Heidnisches Opfer"
- P.Oxy. inv.50 4B 23/I(1-3)b "Liebeszauber"
- P.Oxy. 2753 "Magische Sprüche"
- PSI 29 "Magische Sprüche"
- P.Osl. 76 "Über Divination" (Wahrsagen)
Diese 14 wären nun weniger als 1 % der Gesamtmenge. Bei nährer Betrachtung dürften die meisten aber einfache Bitt- oder Beschwörungsnotizen sein. Selbst No. 1, 4, 5 und 14 scheinen höchstens Einzelthemen aber keine Sammlungen zu sein. Zählt man sie dennoch als Zauberbücher, so kommt man auf einen Anteil von 0,3 % an der Gesamtsammlung. Dies zeigt, dass der Anteil der Zauberbücher unter den Büchern der Antike sehr gering war. Wahrscheinlich eher eines von Tausend als eines von Hundert.
Literatur
- Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Bd. I und II. München 1997.
- William E. A. Axon: On the Extent of Ancient Libraries. In: Transactions of the Royal Society of Literature of the United Kingdom. Second Series, Vol. X., London 1874. S. 383-405.
- Robert Barnes: Cloistered Bookworms in the Chicken-Coop of the Muses. The Ancient Library of Alexandria. In: Roy MacLeod (Hrsg.): The Library of Alexandria. London 2000.
- Karl Christ und Anton Kern: Das Mittelalter. In Georg Leyh (Hrsg.): Handbuch der Bibliothekswissenschaft, Band 3,1, Geschichte der Bibliotheken, Bd. 1. Wiesbaden 1955.
- Mostafa El-Abbadi: Life and Fate of the ancient Library of Alexandria. 2ed. Paris 1992.
- Hans Gerstinger: Bestand und Ueberlieferung. Graz 1948.
- Angelika Haese: Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Wiesbaden 2002.
- Dieter Hagedorn: Papyrologie. In: H.-G. Nesselrath: Einleitung in die griechische Philologie. 1997.
- Michael H. Harris: A History of Libraries in the Western World. London 1995.
- George W. Houston: A Revisionary Note on Ammianus Marcellinus 14.6.18: When did the Public Libraries of Ancient Rome close?. In: Library Quarterly, Bd. 58 (1959), Nr. 2, S. 258-264.
- Wolfram Hoepfner: Antike Bibliotheken. Mainz 2002.
- Herbert Hunger: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. 1. Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen. Zürich 1961.
- Elmer D. Johnson: A History of Libraries in the Western World. London 1965.
- W.A. Johnson: The Literary Papyrus Roll. Yale 1992.
- Robert A. Kaster: Geschichte der Philologie in Rom. In: F. Graf, (Hg.): Einleitung in die lateinische Philologie. Stuttgart 1997.
- Manfred Landfester: Geschichte der antiken Texte. Werklexikon. Der Neue Pauly Supplemente 2. Stuttgart 2007.
- Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, I, München (1911)
- Fritz Milkau / Georg Leyh (Hrg.), Handbuch der Bibliothekswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden 1952-1961.
- Edward A. Parsons: The Alexandrian library. Glory of the Hellenic world. Its rise, antiquities, and destructions. 1952.
- Egert Pöhlmann: Einfuehrung in die Ueberlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur. 1994.
- Encyclopedia of Library History. 1994.
- L. D. Reynolds (Hrsg.): Texts and Transmission. Oxford 1983.
- L. D. Reynolds und N. G. Wilson: Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature. 3rd Ed. Oxford 1991.
- Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. Stuttgart 1981.
- J. O. Ward: Alexandria and its Medieaval Legacy. The Book, the Monk and the Rose. In Roy MacLeod (Hrsg.): The Library of Alexandria. London 2000.
Anmerkungen
- ↑ Hans Gerstinger, Bestand und Ueberlieferung, Graz 1948.
- ↑ Although much Greek literature has been preserved, the amount actually brought down to modern times is probably less than 10 % of all that was written (Elmer D. Johnson, A History of Libraries in the Western World, London 1965). Das gleiche Buch bekam von einem neuen Autor 30 Jahre später eine geradezu gefährliche Veränderung dieser Textstelle: „Why do we know so little about Greek libraries when such a relatively large amount of classic Greek literature has been preserved? It is estimated that perhaps ten percent of the major Greek classical writings have survived.“ (Harris, Michael H.: A History of Libraries in the Western World, London 1995, p. 51) Harris Schätzung bezieht sich nun nur noch auf die „major“ Schriften. Was er darunter versteht kann er beliebig auslegen, der Satz ist daher nicht zwingend falsch. Allerdings hat weder Harris in seinem Buch noch sonst ein heute Lebender die Möglichkeit zu beurteilen was es damals noch an bedeutenden Schriften gab. Der Satz ist daher völlig sinnfrei. Aber warum diese Verschlechterung des Buches? Im Kontext mit dem vorangegangen Satz müssen die meisten Leser den Eindruck bekommen als wären 10% der gesamten Literatur überliefert. Aufgrund der Brisanz der Verlustschätzung für die Überlieferungsgeschichte könnte diese Passage absichtlich irreführend formuliert worden sein. Eine andere Motivation ist zumindest nicht erkennbar.
- ↑ So die überlieferten Bestandszahlen beim Tod des Bibliotheksvorstehers Kallimachos (ca. 240-235 v. Chr. nach Parsons) bis zum Besuch Caesars in Edward A. Parsons, The Alexandrian library. Glory of the Hellenic world. Its rise, antiquities, and destructions, 1952.
- ↑ Die große Bibliothek existierte damals wahrscheinlich noch, von Caesar wurde sie jedenfalls nach heutigem Stand der Forschung nicht zerstört, vgl. Sylwia Kaminska in Wolfram Hoepfner, Antike Bibliotheken, Mainz 2002. Dem caesarkritische Geschichtsschreiber Cassius Dio zufolge vernichtete das Feuer nur Warenhäuser am Hafen, die Getreide und Bücher enthielten. Dies ist auch das Ergebnis der Analyse von Robert Barnes, Cloistered Bookworms in the Chicken-Coop of the Muses. The Ancient Library of Alexandria, in Roy MacLeod (Hrsg.), The Library of Alexandria, London 2000 und der umfangreichen Quellenkritik von Edward A. Parsons, The Alexandrian library. Glory of the Hellenic world. Its rise, antiquities, and destructions, 1952. Das Museion, das Gebäude der Bibliothek, ist bis um 380 nachgewiesen, so Mostafa El-Abbadi (siehe unten).
- ↑ So auch Parsons’ Schätzung. Der Kleine Pauly schätzt unter dem Stichwort Alexandria ohne Begründung nur 900.000.
- ↑ In der frühen Kaiserzeit war es für Autoren eine Ehre, in den großen Bibliotheken enthalten zu sein
- ↑ Zur Palastbibliothek von Konstantinopel siehe Pöhlmann, Einführung in die Überlieferungsgeschichte, 1994. Die Schätzung von 100 bei Cassiodor beruht auf der Titelliste von Franz und Mynors (siehe unten) sowie etwa 4 Titeln pro Codex, was eher typisch um 800 war. Die Codices im 5. Jahrhundert waren aber meist deutlich größer als um 800. Daher könnte der Verlustfaktor bei Titeln in diesem Beispiel sogar die 10.000 erreichen.
- ↑ Finally, it defends my library, also, which the same men accused, on the ground that it conceals unrevised copies. These spiteful fellows have not kept their hands even off things like these. (Brief 154 des Synesius von Cyrene an Hypatia, zitiert nach [1].
- ↑ Eine Rolle mit 83.300 Zeichen braucht bei 1 Zeichen pro Sekunde etwa 23 Stunden Schreibzeit. Zusammen mit der Herstellung der Papyrusrolle und einigen Zeichnungen ist das gut innerhalb 4 Arbeitstagen machbar. Mit 400 Personen (Alexandria hatte nach Diodor (17, 52) über 300.000 Einwohner, mit den Unfreien könnten es über 1 Million gewesen sein [Der Neue Pauly Bd. I Sp 464]) wäre ein Auftrag von 40.000 Rollen dann innerhalb 400 Tagen zu erledigen.
- ↑ Bucheditionen aus Alexandria wurden als besonders hochwertig betrachtet und stellten offenbar ein Handelsprodukt dar. Unter Kaiser Domitian (81-96) konnte der Verlust einer öffentlichen Bibliothek in Rom mit einer Lieferung aus Alexandria ausgeglichen werden. (Pöhlmann).
- ↑ Tzetzes, Prolegomena de comoedia Aristophanis 2,10.
- ↑ „The durability of both under normal condition is not open to doubt. Many instances of long life of writings on papyrus could be quoted, but this is no longer necessary, since the myth that papyrus is not a durable material has at last been authoritatively and, one would hope, finally refuted by Lewis („Über die Widerstandsfähigkeit beider Materialien unter normalen Bedingungn besteht kein Zweifel. Belege über die Langlebigkeit von Schrift auf Papyrus sind angeführ worden, doch sind diese gar nicht mehr notwendig, da der Mythos, dass Papyrus kein widerstandsfähiges Material sei, authoritativ und – zumindest sollte man dies hoffen – endgültig durch Lewis widerlegt worden ist.“; op. cit., S. 60-61). (Naphtali Lewis: Papyrus of Classical Antiquity. Oxford 1974.) Aus: Colin H. Roberts, T. C. Skeat: The Birth of the Codex. London (1983), S. 6 f.
- ↑ Galen (129-216) schrieb, dass er für seine Edition von Hippokrates 300 Jahre alte Rollen aus einer Bibliothek verwendete. (Pöhlmann (1994) S. 77).
- ↑ Julian Krüger: Oxyrhynchos in der Kaiserzeit. Frankfurt a.M. 1990.
- ↑ So Johannes von Salisbury (1120-1180) in „Policraticus“, (De nugis curialium et vestigiis philosophorum, 1. ii. c. 26).
- ↑ Pöhlmann (1994).
- ↑ Die Autoren erwähnen mehrere heute verlorene antike Schriften, die um 600 noch zitiert wurden und schließen daraus: „The bulk of Latin literature was still extant“ („Der Großteil lateinischer Literatur war noch vorhanden“, S. 81). Nicht berücksichtigt wird dabei die Möglichkeit, dass dies nur Zitate aus einem spätantiken Buch oder aus wenigen spätantiken Büchern sind - wie es Lehmann bei Isidor nachwies (s.u.). Aus der Existenz einiger älterer Bücher ist auch nicht auf die Fortexistenz des Gros des antiken Bestands zu schließen. Dass die Bibliotheken von Cassiodor und Isidor aber zu etwa 90% uns heute bekannte antike Werke umfasste, zeigt, dass der entscheidende Auswahlprozess auf 1 : 1000 bereits vorher geschehen war.
- ↑ Reynolds und Wilson vertreten ausschließlich die Umschreibungs- Verrottungsthese, ohne die Kritik daran zu erwähnen. Sie bezweifeln daher eine Verbreitung des Codex bereits im 1. Jahrhundert und halten die von Martial erwähnten Codex-Editionen der Klassiker für einen erfolglosen Versuch. Obwohl der archäologische Fund von Teilen eines Pergamentcodex aus Martials Zeit (De Bellis Macedonicis, P. Lit. Lond. 121, von unbekanntem Autor in Latein um AD 100) gerade auf eine frühe Verbreitung hindeutet - auch wenn der deutlich teurere Codex sicher weniger zahlreich war als die Rolle. Die Behauptung, der Codex „may have cost rather less to produce“ („dürfte in der Herstellung eher günstiger gewesen sein als die Papyrusrolle“, S. 35) ist nicht belegt. Papyrusseiten können mit dem aus Papyrus selbst gewonnenen Klebstoff zu beliebig langen Rollen verklebt werden. Wie die Funde von Oxyrhynchus zeigen, war dies sogar Teil der antiken Büroarbeit. Die Arbeit, einen Codex mit Holzdeckeln zu erstellen, ist erheblich umfangreicher. Die Erzeugung einer Pergamentseite aus Schafhaut erfordert viele langwierige Arbeitsschritte und ein vielfaches an technischem Aufwand und an Arbeitszeit gegenüber einer Papyrusseite. Mit Bezug auf Galen (s.u.) wird behauptet eine Papyrusrolle könne bis zu 300 Jahre alt werden (S. 34). Aber Galen erwähnte das Studium einer wahrscheinlich 300 Jahre alten Rolle nur um die Sorgfalt seiner Textedition zu belegen. Er hat das Alter des Papyrus nicht als etwas besonderes erwähnt. Daher kann aus seinem Zitat auch auf ein erreichbares Mindestalter für Rollen geschlossen werden. Die Annahme, die durchschnittliche Lebensdauer der Rollen sei geringer, ist nicht belegt.
- ↑ Kaster S. 15.
- ↑ Christ und Kern über Cassiodors Bibliothek: „In unermüdlichem Sammeln und Suchen, unterstützt durch das Abschreiben seiner Mönche, hat er sie vereinigt. Aus ganz Italien, aus Afrika und den verschiedensten Ländern waren die Codices gekommen; die reichen Mittel Cassiodors, der Ruf seines Namens hatte den Erwerb ermöglicht.“ Christ (1955) S. 287.
- ↑ R. A. B. Mynors: Cassiodori Senatoris Institutiones. Oxford 1937.
- ↑ Paul Lehmann: Erforschung des Mittelalters, Ausgewaehlte Abhandlungen und Aufsaetze, Bd. II, Stuttgart 1959.
- ↑ Encyclopedia of Library History. 1994.
- ↑ „The major libraries of antiquity had disappeared by c. 600 AD and early monastic libraries might have contained around 20 or so books.“ („Die bedeutenderen Bibliotheken der Antike verschwanden um 600 n. Chr., und frühe Klosterbibliotheken könnten um die 20 Bücher umfasst haben.“) Ward (2000) glaubt, auch ohne Verweis auf Cassiodor und Isidor den Verlust vor 500 belegen zu können.
- ↑ Christ/Kern, S. 243.
- ↑ Johnson (1965) S. 77; Wendel und Göber sehen diese Motivation auch auf lokaler Ebene: Handbuch der Bibliothekswissenschaft. Bd.1, S. 79.
- ↑ Vgl. Hartmut Leppin, Theodosius der Große, Darmstadt 2003, S. 169ff.
- ↑ So die Interpretation von Wendel und Göber (s.o.), zusätzlich gestützt durch die Aussage des Aphthonius von Antiochia, der sie Ende des 4. Jh. besuchte. Er beschrieb die Räume voll mit Büchern, die für jeden zugänglich seien und „die ganze Stadt anzogen um die Weisheiten zu verinnerlichen.“ (Aphthonius, Progymnasmata, 12).
- ↑ Mostafa El-Abbadi (1992): „Synesius of Cyrene, who studied under Hypathia at the end of the fourth century, saw the Mouseion and described the images of the philosophers in it. We have no later reference to its existence in the fifth century. As Theon, the distinguished mathematician and father of Hypathia, herself a renowned scholar, was the last recorded scholar-member (c. 380)“ („Synesius von Cyrene, der gegen Ende des 4. Jh.s unter Hypathia studierte, sah das Museion und beschrieb die Bilder der Philosophen darin. Wir haben keinen späteren Beleg über seinen Fortbestand im 5. Jh. Da Theon, der renommierte Mathematiker und Vater der Hypathia, die selbst ein anerkannte Wissenschaftlerin war, das letzte bezeugte bezeugte akademische Mitglied war (um 380).“) [33 Synesius, Calvitii Encomium, 6.], [34 Suidas, s.v. Theon].
- ↑ Geschichte der Bibliotheken: Bd. 1, Kapitel 2, S. 80.
- ↑ „Sodann wurden zahllose Bücher und viele Haufen von Schriftrollen zusammengetragen und vor den Augen der Richter verbrannt. Man hatte sie in Häusern wegen ihres angeblich verbotenen Inhalts ausfindig gemacht, und nun sollten sie dazu dienen, den üblen Eindruck der Hinrichtungen zu verwischen. Dabei handelte es sich größtenteils doch nur um Werke über die verschiedenen freien Wissenschaften und über Rechtsfragen.“ (Ammian 29,1,41). Nach den Hinrichtungen, die mit dem Besitz von „Zaubertexten“ begründet wurden: „So kam es denn in den östlichen Provinzen, dass aus Furcht vor ähnlichen Schicksalen die Besitzer ihre ganzen Bibliotheken verbrannten; denn ein solcher Schrecken hatte alle erfasst.“ (Ammian 29,2,4)
- ↑ Bibliothecis sepulcrorum ritu in perpetuum clausis: Ammianus Marcellinus 14.6.18.
- ↑ Am deutlichsten vertreten wird dies von Houston (1959). Houston nennt wesentliche Vorgänger mit anderer Meinung und begründet dann seine vor allem mit 2 Punkten: Es gebe keine weiteren Hinweise auf eine Schließung, und zumindest die Trajansbibliothek sei bis 455 nachweislich geöffnet gewesen. Das Edikt Kaiser Theodosius’ I. von 391 zum Schließen heidnischer Tempel und der Kampf des Christentums um die kulturelle Vorherrschaft mit der Zerstörung von Bibliotheken werden von ihm aber nicht erwähnt. Aber gerade dieser Hintergrund war bisher ein wesentlicher Grund, Ammians Text so zu interpretieren. Houston führt stattdessen an, ein Draconitus solle gegen Ende des 4. Jh. einen Text in der „scola“ des Trajanforums in Rom gelesen und editiert haben. Wenn dies vor 390 war, ist es nicht relevant. Selbst danach sollten Schulen am Trajansforum, was eine Art Geschäftszentrum Roms war, noch lange zu erwarten sein. Über die Existenz der Bibliothek sagt es nichts. Ein weiteres Argument Houstons ist aus Sidonius Apollinaris entnommen. Dieser schrieb, er habe 455 eine Statue verliehen bekommen. Sie sei auf dem Trajansforum „zwischen den Autoren der beiden Bibliotheken“ aufgestellt worden. Die Trajansbibliothek war in zwei Gebäude (latein/griechisch) verteilt und Statuen der Autoren standen davor. Da die Statuen noch standen, schließt Houston, auch die Bibliotheksgebäude mussten noch da gewesen sein - und sie müssten auch noch geöffnet gewesen sein! Woraus er dies schloss, schrieb Houston nicht.
- ↑ Paulus Orosius: Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht. Übers.: Adolf Lippold. Zürich 1986. Buch VI Kap. 15, 32.
- ↑ wegen Sidonius Apollinaris, s.o. Houston.
- ↑ Johannes Crysostomos: Liber in S. Babylam et Contra Gentes, 11: „The philosophers and talented orators had a great reputation with the public on account of their dignity and ability to speak. After the battle against us they became ridiculous and seemed no different from foolish children. From so many nations and peoples, they were not able to change anyone, wise ignorant, male, female, or even a small child. The estimation of what they wrote is so low that their books disappeared a long time ago, and mostly perished when they first appeared. If anything at all is found preserved, one finds it being preserved by Christians.“
- ↑ Michael Gaddis: There Is No Crime for Those Who Have Christ. Religious Violence in the Christian Roman Empire (Transformation of the Classical Heritage). Berkeley, CA 2006. Vgl. dazu etwa Arnaldo Momigliano (Hrsg.), The Conflict Between Paganism and Christianity in the Fourth Century, Clarendon Press, Oxford 1963.
- ↑ Herbert Bloch: Ein neues Zeugnis der letzten Erhebung des Heidentums. In: Richard Klein (Hrsg.): Das frühe Christentum im Römischen Staat. Darmstadt. 1982. S. 145. Der Heide Symmachus stand sich mit Papst Damasus und mit Bischof Ambrosius gut. Als der heidnische Aristokrat und der gelehrteste Anführer der Vertreter der heidnischen Kulte Praetextatus 384 starb, wollten die Vestalischen Jungfrauen ihm ein Denkmal setzen, und das ganze Volk Roms trauerte um seinen Tod, so dass die Spiele im Zirkus abgesagt wurden.
- ↑ Michele R. Salzman: The Making Of A Christian Aristocracy. Social And Religious Change In The Western Roman Empire. Cambridge, MA 2002.
- ↑ Edward J. Watts: City and School in Late Antique Athens and Alexandria. (The Transformation of the Classical Heritage), Berkeley, CA 2006.
- ↑ „...they assault the temple carrying wooden beams, stones and iron tools or even without these items with their hand and feet. Then they are an easy prey; even though they destroy the roofs, raze the walls to the ground, pull down the statues and tear down the altars, the priest have to keep silent or they have to die.“ („Sie demolieren die Temple mit Holzbalken, Steinen und Werkzeugen aus Eisen oder auch ohne diese Gegenstände mit Händen und Füßen. Dann werden sie zur leichten Beute; obwohl sie die Dächer zerstören, die Mauern zum Einsturz brigen, die Statuen niederwerfen und die Altäre niederreißen, haben die Priester zu schweigen oder sie müssen sterben.“) Libanius (speech 30,8) nach Sauer: The Archaeology of Religious Hatred. 2003, S. 159.
- ↑ „There can be no doubt on the basis of the written and archaeological evidence that the Christianisation of the Roman Empire and early medieval Europe involved the destruction of works of art on a scale never before seen in human history.“ Sauer, S. 157.
- ↑ Mostafa El-Abbadi (1992), S. 165.
- ↑ Es war das Mithraeum von Sarrebourg. Es zeigte starke Spuren von Ikonoklasmus. Ein Reliefbild wurde in über 300 Teile zerschlagen. Die jüngste gefundene Münze stammte aus dem Jahr 394. Die Hände des Mannes waren mit eisernen Handschellen hinter seinem Rücken gefesselt. Er hatte keine Grabbeigaben und kaum Kleidung. Es gab keinen bekannten Ritus, der bei einem Toten oder Verletzten eine solche Fesselung vorsah. Demnach wurde der Mann wahrscheinlich lebendig in der Gruft eingeschlossen und ist nach einigen Tagen darin verstorben. Beim nicht unbeträchtlichen Wert solcher Eisenteile in der Spätantike lässt dies auf Täter schließen, die keine materiellen Interessen hatten. Archäologische Diskussion des Falles bei Sauer über das Buch verteilt.
- ↑ Der Fund fand in der Schweiz, an der Via Mala statt.
- ↑ Vgl. Alexander Demandt, Geschichte der Spätantike, München 1998, S. 341–344.
- ↑ Leppin, Theodosius der Große, S. 169f., 173.
- ↑ Siehe Johannes Hahn: Gewalt und religiöser Konflikt. Die Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.). Akademie-Verlag, Berlin 2004 (Klio Beihefte, N.F., Bd. 8).
- ↑ Das Libanius-Zitat zum Kampf gegen Heiden wird nicht erwähnt. Chrysostomos' obiges Zitat ist nur als Referenz vermerkt, woraus nicht hervorgeht, dass nach dessen Aussage die Bücher der Heiden gleich nach ihrem Erscheinen vernichtet wurden. Speyer stellt moralisch zweifelhafte christliche Aktionen als Reaktion auf vorangegangene Aktionen der Heiden dar.
- ↑ Speyer, Wolfgang: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen, Stuttgart 1981
- ↑ Speyer erwähnt aber nicht, dass Chrysostomos von der Vernichtung der Bücher der heidnischen Philosophen und Redner (beide Teile der klassischen Wissenschaften) schreibt.
- ↑ Plinius der Ältere schrieb in seinem 30. Buch der „Naturgeschichte“ auch eine kurze Geschichte der Magie. Darin polemisierte er von Anfang an gegen den „leeren und unsinigen Glauben an die Magie“. Er nennt sie darin „fraudulentissima artium“, die „betrügerischste aller Künste“. (Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenzauber: die Magie in der griechisch-römischen Antike. München 1996. S. 48)
- ↑ Speyer, S. 130.
- ↑ Apg 19,13-14; Elberfelder Übersetzung, wie auch folgend.
- ↑ Bereits der jüdisch-hellenistische Verfasser des Pseudo-Phocylides aus dem 6. Jahrhundert hielt sie für Magier-Bücher.
- ↑ Speyer, S. 132.
- ↑ Speyer, S. 34, vermutet, dass es hierbei um „Ritualbücher“ ging.
- ↑ Lebensbeschreibung des Monophysiten Severos von Antiochien, verfasst von Zacharias Rhetor (gest. vor 553). Speyer, S. 132.
- ↑ Speyer, S. 136.
- ↑ Cod. Theod. 9,16, 12 (= Cod. Iust. 1,4,14): „mathematicos, nisi parati sint codicibus erroris proprii...“ Speyer S.170: „... Astrologen haben ihre Schriften vor den Augen der Bischöfe zu verbrennen, andernfalls seien sie aus Rom und allen Gemeinden zu vertreiben.“.
- ↑ Mathematik ist „die Gesamtheit des von der Philosophie geforderten Lernstoffs, also Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik(-theorie), ja noch in der Kaiserzeit fielen Grammatik (elem. Sprachlehre und Philologie) wie Rhetorik mit darunter... Im Latein nach Gell. 1,9,6 die arithm. und geometr. Operationen bedürfenden Wissenschaften, im vulg. Sprachgebrauch einfach die Nativitäts-Astrologie...“ Der Kleine Pauly, Bd. 3, S. 1078.
- ↑ Kaster S. 14 f.
- ↑ Corp. iur. can. 1,86,5 „Sacram scripturam, non grammaticam licet exponere episcopis.“ Herbert Hagendahl: Von Tertulian zu Cassiodor. Göteborg 1983. S. 113 f.
- ↑ Hagendahl S. 114. Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, I. München 1911. S. 94.
- ↑ E. A. Lowe: Handwriting. In: The Legacy of the Middle Ages. S. 203.
- ↑ Nach Hunger (1961) merkt man es daran, dass ganze Zeilen fehlten und vom Korrektor nachgetragen wurden.
- ↑ Vgl. etwa Friedrich Prinz, Von Konstantin zu Karl dem Großen, Düsseldorf und Zürich 2000, S. 534ff.
- ↑ Vgl. allerdings die Sicht von Hunger (1961) S. 362: "Schlimmer [als die Germanisierung] für die römische Kultur ist der endgültige Sieg des Christentums."
- ↑ Besonders Speyer verweist auf diese Paralellen. (Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. Stuttgart 1981.)
- ↑ Die obige Passage aus der Apostelgeschichte mit Paulus kann als ein solcher Vorgang interpretiert werden. Wundersame Krankenheilung wird auch von anderen Personen des NT und vielen Heiligen berichtet. Auf der anderen Seite zeigt zum Beispiel das Werk von Alexandros von Tralleis, dass noch im 6. Jahrhundert umfangreiche medizinische Literatur zur Verfügung stand.
- ↑ Noch Im 17. Jh. interpretierte man die Fähigkeiten eines siegreichen katholischen Heerführers als ein Geschenk Gottes, im Mittelalter der komplette Verlauf einer Schlacht öfters dem direkten Einwirken Gottes zugeschrieben, wobei grundsätzlich auch in der Antike militärische Siege auf das Wirken einer heidnischen Gottheit zurückgeführt wurde.
- ↑ Pornografische Bilder oder Statuen waren weitaus mehr verbreitet als es die meisten heutigen Sammlungen zeigen. Viel Material wurde in Sondersammlungen weggeschlossen oder im 19. Jh. sogar an der Fundstelle wieder verborgen. Auch pornografische Schriften machten wahrscheinlich einen deutlich größeren Anteil in der Antike aus als in der Überlieferung. In der Antike konnten pornografische Schriften aus öffentlichen Bibliotheken entliehen werden. Dies wurde sogar zur Förderung der Gesundheit ausdrücklich empfohlen.[Beleg?]
- ↑ Sauer S. 14. Tertullian: De spectaculis, 30.
- ↑ Christ und Kern (s.o.), S. 306.
- ↑ Hans-Joachim Diesner: Isidor von Sevilla und das westgotische Spanien. Berlin 1977, S. 38.
- ↑ Deutlicher als im AT sind diese Endzeiterwartungen in den Schriften von Qumran. Wahrscheinlich repräsentieren diese Schriften eher das Denken in Judäa im 1. Jh. als das AT. Nach der in den 1990er bekannt gewordenen Interpretation von Eisenman könnten diese Endzeitgedanken eine Motivation beim jüdischen Aufstand gegen Rom gewesen sein. Man wollte vielleicht sogar den Untergang des Staates provozieren damit die Prophezeiung sich erfüllen konnte.
- ↑ In der spätantiken Welt mit der noch aus dem Heidnischen kommenden Neigung, Zeichen zukünftiger Ereignisse zu sehen und Vorhersagen zu machen, könnte dies eine Überlegung gewesen sein. Sie entspricht allerdings nicht dem vorwiegenden Heilsversprechen des MA oder der Moderne. Denn dies ist über das Jüngste Gericht streng personalisiert.
- ↑ William E. A. Axon, S. 383-405.
- ↑ Pöhlmann, S. 124.
- ↑ Martial macht um 85 AD in zwei seiner Bücher, im Proömion und im 14. Buch der Epigramme, Werbung für Codex-Editionen von seinem Verleger Secundus und nennt auch gleich dessen Adresse. Er preist sie als handlicher, empfiehlt sie als Reiselektüre (Taschenbuch?), nennt sie aber auch umfangreicher, da sie das Gesamtwerk eines Autors enthalten können, Homers Odyssee oder Ilias in je einem Codex. Secundus Codex-Angebot enthielt außer den berühmten griechischen und lateinischen Klassikern auch Werke von Martial.
- ↑ Colin H. Roberts, T. C. Skeat: The Birth of the Codex. London 1983, S. 48.
- ↑ s.o., S. 76.
- ↑ Aus der illuminierten Handschrift von Tzetzes, reproduziert und analysiert bei Parsons (1952).
- ↑ Ward, S. 165.
- ↑ Sie funktionierten sicher nicht, da sie sonst in einem Medizin- oder Ingenieursbuch gestanden hätten. Man hätte sie dann nicht in einem Zauberbuch als "geheimes Wissen" verkaufen können. Dies ist der besondere Unterschied zwischen einem Zauberbuch der frühen römischen Kaiserzeit und etwa einem 1000 Jahre älteren. In solch frührerer Zeit könnte tatsächlich relevantes Wissen, etwa in Medizin, als Herrschaftswissen zur Legitimierung einer Priesterkaste, geheim gehalten worden sein.
- ↑ Sie könnten als Belegmaterial der spätantiken Verfolgung gehäuft vorkommen. Oder wegen der Strafbarkeit ab 400 n. Chr. eben kaum überliefert worden sein. Ähnlich für Funde: Wurden sie gehäuft vergraben wegen der Strafbarkeit oder waren sie deshalb kaum vorhanden? Eine statistische Aussage wäre erst möglich wenn man die Entstehungszeit und Verlustzeit mit der Gesamtzahl aller Papyrifunde korreliert. Graf bietet eine Übersicht zum Forschungsstand über Zauberpapyri. Da er solch quantitative Aussagen nicht erwähnt sind sie wahrscheinlich noch nicht erstellt worden. (Graf, Fritz: Gottesnähe und Schadenzauber: die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996,)
- ↑ Julian Krüger, Oxyrhynchos in der Kaiserzeit, 1990.
- ↑ Krüger S. 161: 891 Stücke einseitig mit Literatur beschrieben, 180 beidseitig mit Literatur und 234 mit Literatur auf der einen und Urkunden auf der anderen Seite. Das ergibt 891 + 180 * 2 + 234 = 1485 Textseiten mit Literatur.