Moses Joseph Roth (* 2. September 1894 in Brody bei Lemberg; † 27. Mai 1939 in Paris) war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist.
Leben
Herkunft
Joseph Roth hat seine Herkunft zum Gegenstand vielfacher Verschleierungen und Mystifikationen gemacht. Vor allem die Person seines Vaters erschien in mehrfachen schillernden Umgestaltungen: Er sei der uneheliche Sohn eines österreichischen Offiziers, eines polnischen Grafen, eines Wiener Munitionsfabrikanten. All diesen Erzählungen war gemeinsam der frühe Verlust des Vaters. Dementsprechend zieht sich der Vaterverlust, und in übertragener Form der Verlust des Vaterlandes, nämlich der österreichischen Monarchie, als ein roter Faden durch Roths Werk.
Tatsächlich wurde Roth in der galizischen Kleinstadt Brody geboren, einem stark jüdisch geprägten Schtetl in der Nähe von Lemberg (ukrainisch Lwiw), das damals noch zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte. Brody war Grenzstadt zum russischen Wolhynien. Roth behauptete später, in Szwaby (Schwaby), einem kleinen Dorf in der Nähe von Brody geboren worden zu sein, dessen Einwohner mehrheitlich deutschstämmig waren (Schwaben, daher der Name), im Gegensatz zur jüdischen Bevölkerungsmehrheit in Brody.
Seine Mutter Maria Grübel stammte aus einer in Brody ansässigen Familie jüdischer Kaufleute, sein Großvater handelte mit Tuch, seine fünf Onkel mit Hopfen. Der Vater Nachum Roth stammte aus orthodox-chassidischem Umfeld. Bei der Heirat 1892 war er Getreidehändler im Auftrag einer Hamburger Firma. Als von ihm in Kattowitz eingelagerte Waren veruntreut wurden, musste er zur Regelung der Angelegenheit nach Hamburg reisen. Auf der Rückreise wurde er durch sein Verhalten im Zug auffällig, daher zunächst in eine Anstalt für Geisteskranke eingewiesen, schließlich seinen westgalizischen Verwandten übergeben, die ihn der Obhut eines russisch-polnischen Wunderrabbis übergaben, an dessen Hof er Jahre später von einem der Onkel Roths ausfindig gemacht wurde, der den Vater als sehr schön, unaufhörlich lachend und völlig unzurechnungsfähig beschrieb.
Kindheit und Jugend in Brody
Roth berichtete später stets von einer von Armut und Dürftigkeit geprägten Kindheit und Jugend. Demgegenüber weisen Photographien aus der Zeit und die Berichte seiner Verwandten auf zwar nicht wohlhabende, aber durchaus bürgerliche Lebensumstände hin: seine Mutter hatte ein Dienstmädchen, er erhielt Violinunterricht und besuchte das Gymnasium.
In anderer als materieller Hinsicht war die Lage seiner Mutter allerdings tatsächlich prekär: sie war keine Witwe, da ihr Mann noch lebte bzw. als vermisst galt, durch die Abwesenheit des Mannes war sie aber auch keine vollwertige Ehefrau, und sie konnte sich nicht scheiden lassen, da dies einen Scheidebrief (Gett) ihres Mannes erfordert hätte, dazu hätte dieser aber bei Sinnen sein müssen. Zudem galt im orthodoxen Judentum Galiziens der Wahnsinn als ein Fluch Gottes, der auf der ganzen Familie lag und die Heiratsaussichten der Kinder deutlich verschlechterte, weshalb in der Familie über das Schicksal des Vaters geschwiegen wurde und man lieber das Gerücht hinnahm, Nachum Roth hätte sich erhängt.
Die Mutter lebte zurückgezogen und versorgte bis zu dessen Tod im Jahr 1907 den Haushalt des Großvaters. Sie konzentriert sich einzig auf die Erziehung des Sohnes, der daher abgeschlossen und behütet aufwuchs. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn scheint in den späteren Jahren schwierig gewesen zu sein. 1922 erkrankte die Mutter an Gebärmutterhalskrebs und wurde in Lemberg operiert, wo der Sohn sie kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal sah.
Ab 1901 (also mit sieben Jahren) besuchte Roth die Baron-Hirsch-Schule in Brody. Die Baron-Hirsch-Schulen waren von dem jüdischen Eisenbahnmagnaten und Philanthropen Maurice de Hirsch gegründete Handelsschulen, die sich anders als die Cheder genannten orthodoxen Traditionsschulen nicht auf den religiösen Unterricht beschränkten, sondern an denen über Hebräisch und Thorastudium hinaus auch Deutsch, Polnisch und praktische Fächer unterrichtet wurden. Die Unterrichtssprache war Deutsch.
Von 1905 bis 1913 besuchte Roth das Kronprinz Rudolf Gymnasium in Brody. Es ist nicht ganz klar, ob das Schulgeld von 15 Gulden pro Semester (damals eine erhebliche Summe) von seinem Vormund und Onkel Siegmund Grübel bezahlt, oder ob es ihm per Stipendium erlassen wurde. Roth war ein guter Schüler: als einziger jüdischer Schüler seines Jahrgangs erhielt er im Abitur das Prädikat sub auspiciis imperatoris. Auf seine Mitschüler wirkte er zurückhaltend bis arrogant, ein Eindruck, den er auch später bei seinen Kommilitonen an der Wiener Universität hinterließ. In diese Zeit fallen seine ersten schriftstellerischen Arbeiten (Gedichte).
Studium in Lemberg und Wien
Nach seinem Abitur im Mai 1913 übersiedelte Roth nach Lemberg, wo er sich an der Universität immatrikulierte. Unterkunft fand er bei seinem Onkel Siegmund Grübel, doch scheint es zwischen dem nüchternen Kaufmann und dem angehenden Dichter bald zu Spannungen gekommen zu sein. Eine mütterliche Freundin für viele Jahre fand er in der damals 59jährigen Helene von Szajnoda-Schenk, einer gebrechlichen, aber geistig sehr lebhaften und hochgebildeten Dame, die im Haus des Onkels eine Wohnung gemietet hatte. Auch mit seinen Cousinen Resia und Paula verband ihn bald eine Freundschaft.
Die Atmosphäre Lembergs war überhaupt geprägt von sich verschärfenden Spannungen, nicht nur zwischen den Nationalitäten (an der Universität kam es damals zu Kämpfen zwischen polnischen und ruthenischen Studenten), auch innerhalb des Judentums gärte die Auseinandersetzung zwischen Chassidismus, Haskala (Aufklärung) und der immer stärker werdenden zionistischen Bewegung. In Brody war Roths Jahrgang der letzte mit Deutsch als Unterrichtssprache gewesen und an der Universität Lemberg war seit 1871 Polnisch die Unterrichtssprache. Dass Roth seine literarische Heimat offenbar in der deutschen Literatur sah, mochte einer der Gründe gewesen sein, Lemberg zu verlassen und sich für das Sommersemester 1914 an der Wiener Universität zu immatrikulieren. Inwieweit Roth tatsächlich in Lemberg studiert hatte, ist nicht klar. Er hat sich jedenfalls schon im Herbst 1913 zeitweise in Wien aufgehalten, wo er vom 2.-9. September 1913 am XI. Zionisten-Kongress teilnahm.
In Wien nahm sich Roth zunächst ein kleines Zimmer in der Leopoldstadt, im folgenden Semester bezog er zusammen mit seiner Mutter, die vor den Wirren des ausbrechenden Krieges nach Wien geflohen war, eine kleine Wohnung im XX. Bezirk (Wallensteinstr. 14/16). Roth und seine Mutter, zur denen später auch noch die Tante Rebekka (Riebke) zog, lebten in dieser ersten Zeit in recht dürftigen Umständen: Roth war ohne Einkünfte, seine Mutter bezog die geringe Flüchtlingshilfe und die Zuwendungen des Onkels Siegmund konnten während der russischen Okkupation Galiziens wohl nur sporadisch erfolgen.
Roth schien dennoch optimistisch und begann mit Elan das Studium der Germanistik. Er legte Wert auf Erfolg in den Prüfungen und darauf, von den Professoren zur Kenntnis genommen zu werden. Im nachhinein urteilte er freilich negativ über Studenten und Kommilitonen - wie so viele junge Schriftsteller, die an der Universität Dichtung suchten und Germanistik fanden. Eine Ausnahme bildete Walther Brecht, der Ordinarius für neuere deutsche Literatur. Heinz Kindermann, der Assistent Brechts, wurde wohl zu einer Art von Rivale. In der 1916 erschienenen ersten Erzählung Der Vorzügsschüler war Kindermann Vorbild für die Hauptfigur Anton Wanzl, einen mit einigem Hass und einiger Kenntnis geschilderten Charakter.[1]
Bald besserte sich auch die materielle Situation. Stipendien und einige Hauslehrerstellen (u.a. bei der Gräfin Trautmannsdorff) erlaubten Roth die Anschaffung guter Anzüge. Mit Bügelfalte, Stock und Monokel beschreiben ihn Zeugen der Zeit als Abbild des Wiener „Gigerls“.
Erster Weltkrieg
Zum wegweisenden Erlebnis wurde für Roth der 1. Weltkrieg und der darauf folgende Zerfall Österreich-Ungarns. Im Gegensatz zu vielen anderen, die bei Kriegsausbruch von einer ihnen selbst im Nachhinein kaum mehr nachvollziehbaren nationalen Begeisterung erfasst wurden, vertrat zunächst pazifistische Position und reagiert mit einer Art erschrecktem Bedauern. Doch im Verlauf der Zeit erschien ihm – der als kriegsuntauglich eingestuft worden war – die eigene Haltung als beschämend und peinlich: Als der Krieg ausbrach, verlor ich meine Lektionen, allmählich, der Reihe nach. Die Rechtsanwälte rückten ein, die Frauen wurden übelgelaunt, patriotisch, zeigten eine deutliche Vorliebe für Verwundete. Ich meldete mich endlich freiwillig zum 21. Jägerbataillon.[2]
Am 31. Mai 1916 meldete Roth sich zum Militärdienst und begann am 28. August 1916 seine Ausbildung als Einjährig-Freiwilliger. Er und sein Freund Józef Wittlin optierten für das 21. Feldjäger-Bataillon, dessen Einjährigen-Schule sich im III. Wiener Bezirk befand (ursprünglich war geplant, das Studium in der Freizeit fortzusetzen). In die Zeit der Ausbildung fällt der Tod von Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916. Roth stand als ein Glied in der Kette von Soldaten entlang dem Weg des Beerdigungszuges: Die Erschütterung, die aus der Erkenntnis kam, daß ein historischer tag eben verging, begegnete die zwiespältige Trauer um den Untergang eines Vaterlandes, das selbst zur Opposition seine Söhne erzogen hatte.'[3] Der Tod des 86jährigen Kaisers erscheint als zentrale Metapher für den Untergang des Habsburgerreiches und den Verlust von Heimat und Vaterland mehrfach in Roths Werken, u.a. in den Romanen Radetzkymarsch und Kapuzinergruft.
Statt zusammen mit seinen Freunden bei den 21. Feldjägern dienen zu können, wurde Roth schon bald zur 32. Infanterietruppendivision nach Galizien versetzt. Im Jahr 1917 und offenbar bis Kriegsende war er dem Pressedienst im Raum Lemberg zugeteilt.
Nach Kriegsende musste Joseph Roth sein Studium abbrechen und sich auf den Erwerb des Lebensunterhalts konzentrieren. Bei der Rückkehr nach Wien fand er zunächst Unterkunft bei Leopold Weiß, dem Schwager seines Onkels Norbert Grübel. Kurzzeitig kehrte Roth nach Brody zurück, geriet aber auf dem Rückweg in die Auseinandersetzungen zwischen polnischen, tschechoslowakischen und ukrainischen Armeeteilen, aus denen er nur mit Mühe zurück nach Wien entkam.
Noch während seiner Militärzeit hatte er begonnen, Berichte und Feuilletons für die Zeitschriften Der Abend und Der Friede zu schreiben, und in Österreichs Illustrierter Zeitung waren Gedichte und Prosa von Roth erschienen. Ab April 1919 wurde er Redakteur bei Der Neue Tag, eine Tageszeitung, die auch Alfred Polgar, Anton Kuh und Egon Erwin Kisch zu ihren Mitarbeitern zählte. In diesem beruflichen Umfeld gehörte es fast zu den Dienstpflichten, Stammgast im Cafe Herrenhof zu sein, wo Roth im Herbst 1919 seine spätere Frau Friederike (Friedl) Reichler kennenlernte.
Journalist in Wien und Berlin
Ende April 1920 stellte der Neue Tag sein Erscheinen ein. Roth zog um nach Berlin. Dort hatte Roth zunächst Schwierigkeiten mit seiner Aufenthaltsgenehmigung, da die Unklarheiten und Fiktionen seiner Dokumente, in Österreich fast spielerisch entstanden, in Berlin auf einmal ernst genommen wurden.[4] Bald erschienen seine Beiträge in verschiedenen Zeitungen, darunter der Neuen Berliner Zeitung, ab Januar 1921 arbeitete er hauptsächlich für den Berliner Börsen-Courier.
Im Herbst 1922 kündigt er die Mitarbeit beim Börsen-Courier auf. Er schreibt: Ich kann wahrhaftig nicht mehr die Rücksichten auf ein bürgerliches Publikum teilen und dessen Sonntagsplauderer bleiben, wenn ich nicht täglich meinen Sozialismus verleugnen will. Vielleicht wäre ich trotzdem schwach genug gewesen, für ein reicheres Gehalt meine Überzeugung zurückzudrängen, oder für eine häufigere Anerkennung meiner Arbeit.[5] Roth zeichnete zwar Beiträge für den sozialistischen Vorwärts als Der rote Joseph, war aber sicherlich kein Sozialist, dessen Überzeugungen auf theoretischen Fundamenten ruhten. Vielmehr zeigt er sich in seinen Berichten und Feuilletons als genauer Beobachter, der aus den wahrgenommenen Lebensfragmenten und unmittelbaren Äußerungen menschlichen Unglücks weitreichende (und häufig weitblickende) Folgerungen betreffend sozialer Missstände und politischer Verhältnisse zieht. Was die Belastbarkeit seiner Überzeugungen angesichts finanzieller Lockungen anbelangt, so gab er dafür selbst ein (von Freunden und Kollegen heftig kritisiertes) Beispiel, als er sich 1929 von den Münchner Neuesten Nachrichten, einem nationalistischen Blatt, sehr viel bezahlen ließ, um sehr wenig zu schreiben[6].
Ab Januar 1923 arbeitete er als Feuilletonkorrespondent für die renommierte Frankfurter Zeitung, in der in den folgenden Jahren ein großer Teil seiner journalistischen Arbeiten erscheinen sollte. Aufgrund der durch die Inflation in Deutschland und Österreich abwechselnd relativ schlechteren wirtschaftlichen Lage pendelte Roth in dieser Zeit mehrfach zwischen Wien und Berlin und schrieb außer für die FZ auch Artikel für die Wiener Sonn- und Montagszeitung, Neues 8-Uhr-Blatt (Wien), Der Tag (Wien) und das Prager Tageblatt. Während dieser Zeit arbeitete er an seinem ersten Roman („Das Spinnennetz“), der im Herbst 1923 in der Wiener Arbeiterzeitung erstabgedruckt wurde.
Sein Verhältnis zur Frankfurter Zeitung und dem damals für die Feuilleton-Redaktion zuständigen Benno Reifenberg blieb nicht frei von Reibungen. Roth fühlte sich nicht hinreichend geschätzt und versuchte dies durch Honorarforderungen zu kompensieren. Als er sich von der Zeitung trennen wollte, bot man ihm an, als Pariser Korrespondent für die FZ weiterzuarbeiten. Roth nahm an, siedelte im Mai 1925 nach Paris über und äußerte sich in seinen ersten Briefen enthusiastisch über die Stadt. Als er jedoch ein Jahr später von Friedrich Sieburg als Korrespondent abgelöst wird, ist er schwer enttäuscht. Zum Ausgleich verlangt er, von der FZ mit großen Reisereportage-Serien beauftragt zu werden. Vom September bis Dezember 1926 bereiste er daher die Sowjetunion, Mai bis Juni 1927 Albanien und Jugoslawien, im Herbst 1927 das Saargebiet, Mai bis Juli 1928 Polen und Oktober/November 1928 Italien.
Ehe und Ehetragödie
Am 5. März 1922 hatte er in Wien Friederike (Friedl) Reichler geheiratet. Friedl war zwar eine attraktive, intelligente Frau, aber weder war sie eine Intellektuelle noch entsprach das ruhelose, mondäne Leben an der Seite eines reisenden Starjournalisten ihren Bedürfnissen. Darüber hinaus zeigte Roth Symptome einer fast pathologischen Eifersucht. Bereits 1926 hatten sich erste Symptome einer geistigen Erkrankung gezeigt, 1928 wurde die Krankheit Manifest. Friedl wurde zunächst in der Nervenheilanstalt Westend behandelt, dann wohnte sie – von einer Krankenschwester betreut – eine Zeitlang bei einem Freund von Roth. Die Krankheit seiner Frau stürzte Roth in eine tiefe Krise. Er war nicht bereit, die Unheilbarkeit der Krankheit zu akzeptieren, hoffte auf ein Wunder, gab sich die Schuld an der Erkrankung – Wahnsinn galt und gilt unter frommen Juden ja als Strafe Gottes. Eine mögliche Besessenheit durch einen Dibbuk veranlasste ihn zu der (erfolglosen) Konsultation eines chassidischen Wunderrabbis. Während dieser Zeit begann er heftig zu trinken. Auch seine finanzielle Situation verschlechterte sich.
Als auch die Unterbringung bei Friedls Eltern keine Besserung brachte und die Kranke zunehmend in Apathie verfiel, brachte man sie im November 1930 in das Sanatorium Rekawinkel bei Wien, im Dezember 1933 kam sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" bei Wien, schließlich im Sommer 1935 in das Landesklinikum Mostviertel Amstetten-Mauer. Friedls Eltern wanderten 1935 nach Palästina aus und Roth beantragte die Scheidung. Im Jahr 1940 wurde Friedl Roth Richtung Linz verschickt, über eine Ankunft dort gibt es keinen Beleg – sie wurde ein Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms (s. Aktion T4). Die Todesurkunde nennt als Datum den 15. Juli 1940.
Beziehungen
Auch wenn in den folgenden Jahren die Krankheit seiner Frau für Roth eine Quelle von Selbstvorwürfen und Bedrückung bleiben sollte, löste er sich in anderer Hinsicht relativ bald aus der hoffnungslos gewordenen Situation. 1929 lernte er Sybil Rares kenne, eine jüdische Schauspielerin aus der Bukowina, die damals am Frankfurter Schauspielhaus engagiert war. Die Beziehung hatte jedoch keine lange Dauer.
Ganz anders verhielt es sich mit Andrea Manga Bell, die er im August 1929 kennen lernte und die in den folgenden sechs Jahren sein Schicksal teilen und ihm in die Emigration folgen sollte. Andrea Manga Bell war in Hamburg geboren, Tochter einer Hamburger Hugenottin und eines farbigen Kubaners. Sie war verheiratet mit Alexandre Manga Bell, Prince de Douala et Bonanyo aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun, Sohn des 1914 von den Deutschen exekutierten Doualakönigs Rudolf Manga Bell, der sie jedoch verlassen hatte und nach Kamerun zurückgekehrt war. Als Roth sie kennen lernte, war sie Redakteurin bei der Ullstein-Zeitschrift Gebrauchsgraphik und ernährte so die zwei Kinder aus der missglückten Ehe mit dem „Negerprinzen“. Roth war von der selbstbewussten und selbstständigen schönen Exotin sofort fasziniert und sein Interesse wurde erwidert. Bald bezogen die beiden eine gemeinsame Wohnung zusammen mit den Kindern Manga Bells.[7]
Von 1936 bis 1938 lebte er mit der Schriftstellerin Irmgard Keun zusammen.
Exil
Am 30. Januar 1933, dem Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, verließ Roth Deutschland. In einem Brief an Stefan Zweig zeigt er erstaunliche Klarsicht:
- Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.[8]
Bald wurden auch seine Bücher verbrannt. Roth wählte als Ort seines Exils zunächst Paris, hielt sich aber im Laufe der folgenden Jahren nicht durchgängig in Frankreich auf. Sondern unternimmt diverse Reisen, u.a. in die Niederlande, nach Österreich und nach Polen. Die Reise nach Polen erfolgt im Februar/März 1937, wo er auf Einladung des polnischen PEN-Klubs eine Reihe von Vorträgen hielt. Er unternahm bei dieser Gelegenheit einen Abstecher nach Lemberg, um seine dort lebenden Verwandten zu besuchen.[9] Von Juni 1934 bis Juni 1935 hielt sich Roth, wie viele andere Emigranten auch, an der französischen Riviera auf. Zusammen mit Hermann Kesten und Heinrich Mann hatten Roth und Manga Bell ein Haus in Nizza gemietet.
Anders als vielen emigrierten Schriftstellern gelingt es Roth nicht nur produktiv zu bleiben, sondern auch Publikationsmöglichkeiten zu finden. Seine Werke erscheinen in den niederländischen Exilverlagen Querido und de Lange, sowie in dem christlichen Verlag De Gemeenschap. Darüber hinaus erscheinen seine Artikel in der von Leopold Schwarzschild herausgegebenen Exilzeitschrift Das neue Tage-Buch. Unter anderem deshalb hält er sich während seines Exils mehrfach in den Niederlanden auf (Mai 1935 in Amsterdam und 1936 längere Aufenthalte in Amsterdam und Ostende).
Ende
Verarmt und verschuldet starb er 1939 in Paris an den Folgen einer beidseitigen Lungenentzündung im Delirium tremens und vermutlich auch an den Folgen seiner Alkoholsucht. Sein Grab befindet sich auf dem Cimetière de Thiais im Süden von Paris. Die Inschrift auf seinem Grabstein lautet „écrivain autrichien mort à Paris“. In seiner Heimatstadt Brody erinnert heute eine kleine in Ukrainisch und Deutsch beschriftete Gedenktafel an den großen Sohn der Stadt.
Werk
In seinen Werken schildert er häufig das Schicksal von heimatlosen, heimatsuchenden, herumirrenden Menschen: Juden, die schon aufgrund der Geschichte ihres Volkes mehr oder weniger zur Heimatlosigkeit verurteilt sind; Altösterreicher, Weltbürger, die mit dem Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie ihre einzig mögliche Heimat verloren haben, den einzigen Staat, der es einem – nach den Worten Roths – erlaubte „ein Patriot und ein Weltbürger zu sein“.
Besonders in seinen späteren Werken möchte Roth, der zu Beginn seiner Karriere unter dem Pseudonym „der rote Joseph“ für kommunistische Blätter geschrieben hatte, die Monarchie noch einmal in ihrem alten Glanz auferstehen lassen. Dieser Rückzug in die Vergangenheit lässt sich zum Teil als Reaktion auf den (im Nationalsozialismus kulminierenden) Nationalismus erklären.
Typische Werke von Roths später Schaffensphase sind der Roman Radetzkymarsch (1932), in dem, beispielhaft für den Niedergang der österreichischen k. und k. Monarchie, der Niedergang der nach der Schlacht von Solferino geadelten Familie Trotta beschrieben wird, und die Erzählung Die Büste des Kaisers (1934). Im Roman Die Kapuzinergruft, der direkt an die Handlung des Radetzkymarsch anschließt, schildert Roth das Schicksal eines, einem Seitenarm der Familie Trotta entsprungenen, Mitglieds der Wiener Dekadenz und schafft dadurch ein psychologisches Portrait des höheren Bürgertums und deren (wie seiner eigenen) Empfindungen nach dem Endes der österreich-ungarischen Monarchie. Charakteristisch für das Werk, wie vielleicht auch für die letzten Jahre von Roths Leben, steht der letzte Satz: „Wohin soll ich jetzt, ich, ein Trotta? ...“
Darüberhinaus hat er sich in mehreren Werken mit dem Judentum auseinandergesetzt, so in dem Roman Hiob oder der Erzählung Der Leviathan. Er publizierte auch in der 1854 gegründeten, ungarischen deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd.
Seine Erfahrungen mit dem Alkoholismus verarbeitete er in seiner Erzählung Die Legende vom Heiligen Trinker. Die Beziehung zum Katholizismus war für Roth immer sehr bedeutend, und in seinen letzten Lebensjahren konvertierte er, ohne dabei seine jüdische Herkunft verleugnen zu können oder zu wollen.
Quellen
- ↑ Dass Kindermann Vorbild für Anton Wanzl war, berichtet Józef Wittlin in seinen Erinnerungen an Joseph Roth (Gedächtnisbuch, S. 52).
- ↑ An Gustav Kiepenheuer zum 50. Geburtstag. Werke in drei Bänden (1956) Bd. III, S. 835
- ↑ Seine k. und k. apostolische Majestät. Werke in drei Bänden (1956) Bd. III, S. 328-329
- ↑ Beispielsweise hatte ein befreundeter Pfarrer ihm einen Taufschein ausgestellt, in dem als Geburtsort nicht Szwaby bei Brody (was bereits eine Fiktion war), sondern Schwaben in Ungarn erschien.
- ↑ Brief an Herbert Ihering vom 17.9.1922
- ↑ Im Juni 1929 hatte er seine Mitarbeit bei der Frankfurter Zeitung aufgekündigt. In der Zeit vom 18.8.1929 bis 1.5.1930 verfasste er ca. 30 Beiträge für die Münchner Neuesten Nachrichten. Sein Vertrag dort sah 2000 Mark monatlich für mindestens zwei zu liefernde Beiträge vor. Siehe Bronsen (1974), S. 376 ff.
- ↑ Möglicherweise war Andrea Manga Bell das Vorbild für die Figur der Juliette Martens in Klaus Manns Schlüsselroman Mephisto.
- ↑ Briefe 1911-1939 Köln 1970. S. 249
- ↑ Alle Verwandten von Roth in Lemberg wurden Opfer der Shoa.
Werke
Erstausgaben der Werke (chronologisch)
- Der Vorzugsschüler. Erzählung.
- Gekürzte Fassung in: Österreichs Illustrierte Zeitung 10. September 1916, Wien
- Erstausgabe in: Joseph Roth. Die Erzählungen. Mit einem Nachwort von Hermann Kesten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973
- Undatiertes Manuskript im Leo Baeck Institute, New York
- Barbara. Erzählung. In: Österreichs Illustrierte Zeitung 14. April 1918, Wien
- Das Spinnennetz. Roman.
- Erstdruck in: Arbeiterzeitung. Wien 7. Oktober - 6. November 1923.
- Erstausgabe postum mit einem Nachwort von P. W. Jansen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1967
- Hotel Savoy. Ein Roman. Die Schmiede, Berlin 1924
- Die Rebellion. Roman. Die Schmiede, Berlin 1924
- April. Die Geschichte einer Liebe. J. H. W. Dietz Nachf., Berlin 1925
- Der blinde Spiegel. Ein kleiner Roman. J. H. W. Dietz Nachf., Berlin 1925
- Juden auf Wanderschaft. Essay. Die Schmiede, Berlin 1927
- Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht. Roman. Kurt Wolff, München 1927
- Zipper und sein Vater. Roman. Kurt Wolff, München 1928
- Rechts und links. Roman. Gustav Kienheuer, Berlin 1929
- Der stumme Prophet.
- Fragment: Ein Kapitel Revolution. In: 24 neue deutsche Erzähler. hrsg. von Hermann Kesten. Gustav Kiepenheuer, Berlin 1929.
- Fragment: Der stumme Prophet. In: Die neue Rundschau. Berlin 1929.
- Erstausgabe postum mit einem Nachwort von Walter Lenning. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1966.
- Briefe aus Deutschland. In: Fazit. Ein Querschnitt durch die deutsche Publizistik. Hrsg. von Ernst Glaeser. Gebrüder Enoch, Hamburg 1929
- Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Gustav Kienheuer, Berlin 1930
- Panoptikum. Gestalten und Kulissen. Knorr & Hirth, München 1930
- Radetzkymarsch. Gustav Kienheuer, Berlin 1932
- Stationschef Fallmerayer. In: Novellen deutscher Dichter der Gegenwart. Hrsg. von Hermann Kesten. Allert de Lange, Amsterdam 1933
- Tarabas, ein Gast auf dieser Erde. Querido, Amsterdam 1934
- Triumph der Schönheit. Novelle. Erschienen in französischer Übersetzung von Blanche Gidon (La triomphe de la beauté) in: Nouvelles littéraires. September 1934, Paris
- Die Büste des Kaisers. Novelle. Erschienen in französischer Übersetzung von Blanche Gidon (La buste de l'empereur) in: Nouvelles littéraires. Dezember 1934, Paris
- Der Antichrist. Essay. Allert de Lange, Amsterdam 1934
- Der Leviathan. Novelle. Querido, Amsterdam 1940
- Teildruck: Der Korallenhändler. In: Das neue Tage-Buch 22. Dezember 1934, Paris
- Die hundert Tage. Roman. Allert de Lange, Amsterdam 1935
- Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht. Roman. Allert de Lange, Amsterdam 1936
- Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. Querido, Amsterdam 1937
- Die Kapuzinergruft. Roman. De Gemeenschap, Bilthoven 1938
- Die Geschichte von der 1002. Nacht. Roman. De Gemeenschap, Bilthoven 1939
- Die Legende vom heiligen Trinker. Novelle. Allert de Lange, Amsterdam 1939
- Teildruck: Das Ende der Legende vom heiligen Trinker. In: Das neue Tage-Buch 10. Juni 1939, Paris
Werkausgaben
- Werke in drei Bänden. Hrsg. von Hermann Kesten. Köln/Berlin 1956.
- Werke. Hrsg. und eingeleitet von Hermann Kesten. 4 Bde. Köln 1975-76.
- Werke. 6 Bde. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989-91.
- Band 1-3: Das journalistsiche Werk. Hrsg. von Klaus Westermann.
- Band 4-6: Romane und Erzählungen. Hrsg. von Fritz Hackert.
- Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit. Hrsg. von Rainer-Joachim Siegel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994
- Briefe 1911-1939. Hrsg. von Hermann Kesten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1970.
Literatur
- Geza von Cziffra: Der heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth. Berenberg Verlag 2006. ISBN 3937834141
- Eleonore Fronk, Werner Andreas: „Besoffen, aber gescheit“. Joseph Roths Alkoholismus in Leben und Werk. Athena, Oberhausen 2002. ISBN 3-932740-95-5
- Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. (Dissertation), Narr, Tübingen 2002. ISBN 3-8233-5654-2
- Sebastian Kiefer: Braver Junge – gefüllt mit Gift. Joseph Roth und die Ambivalenz. (Dissertation) Metzler, Stuttgart und Weimar 2001. ISBN 3-476-45258-1
- Dietmar Mehrens: Vom göttlichen Auftrag der Literatur. Die Romane Joseph Roths. Ein Kommentar. (Dissertation) BoD, Hamburg 2000. ISBN 3-8311-0472-7
- Rainer-Joachim Siegel: Joseph Roth-Bibliographie. Cicero-Presse, Morsum 1994. ISBN 3-89120-014-5
- Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. zu Klampen, Lüneburg 1994. ISBN 3-924245-35-5
- Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth – Leben und Werk in Bildern. Köln 1994.
- Bernd M. Kraske (Hrsg.): Joseph Roth – Werk und Wirkung. Bonn 1988
- Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik. Sonderband Joseph Roth. München 1982
- Helmuth Nürnberger: Joseph Roth mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1981. 11. Aufl. 2006 (rowohlts monographien. 50301). ISBN 3499503018
- David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974. Überarbeitete und gekürzte Neuauflage 1993.
- Michael Bienert (Hrsg): Joseph Roth in Berlin. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
- David Bronsen: Joseph Roths lebenslange Auseinandersetzung mit dem Zionismus. in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden (ZGDJ), 1970, Heft 1, Olamenu, Tel Aviv. S. 1 - 4
Weblinks
- Joseph-Roth-Homepage
- Joseph-Roth-Seiten auf Homepage Dieter Schrey
- Michael Frank: Objektivität ist Schweinerei (Serie über große Journalisten – Joseph Roth) in der Süddeutschen Zeitung
- ub.fu-berlin.de Linksammlung der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin
- Gedenktafel
- Biographie bei cpw
- Vorlage:IMDb Name
- Filmmusik der Verfilmungen von Joseph Roths Romanen
- Vorlage:Aeiou
Personendaten | |
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NAME | Roth, Joseph |
KURZBESCHREIBUNG | österreichischer Schriftsteller und Journalist |
GEBURTSDATUM | 2. September 1894 |
GEBURTSORT | Brody bei Lemberg |
STERBEDATUM | 27. Mai 1939 |
STERBEORT | Paris |