Zum Inhalt springen

Mehrheitswahl

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. Mai 2007 um 17:35 Uhr durch Nicolas17 (Diskussion | Beiträge) (Änderungen von 87.167.214.241 (Beiträge) rückgängig gemacht und letzte Version von 88.68.47.138 wiederhergestellt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

In einer Mehrheitswahl ziehen nur solche Kandidaten in das Parlament ein, die in ihrem jeweiligen Wahlkreis die Mehrheit an Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten. Alle anderen Stimmen verfallen. Dieses Prinzip wird auch "winner-takes-all"-Prinzip ("der Gewinner bekommt alles"-Prinzip) genannt.

Formen

Man unterscheidet zwischen einem relativen und einem absoluten Mehrheitswahlrecht. Beim relativen Mehrheitswahlrecht gewinnt derjenige Kandidat, auf den im ersten Wahlgang die meisten Stimmen entfallen sind. Beim absoluten Mehrheitswahlrecht dagegen muss er mindestens die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Gelingt dies im ersten Wahlgang keinem Kandidaten, kommt es zu einer Stichwahl.

Dies führt laut dem umstrittenen Medianwähler-Modell zur Konkurrenz um den "mittleren" Wähler und somit eine zu einer Ausrichtung der Programme an der "politischen Mitte" (siehe hierzu auch Beitrag unter Politisches Spektrum).

Anwendung

Angewandt wird dieses System vor allem in Ländern, deren politisches System vom angelsächsischen Recht geprägt ist, unter anderem

Bei allen Wahlen, bei denen eine einzelne Person direkt gewählt wird, muss zwangsläufig eine Form des Mehrheitswahlrecht zur Anwendung kommen.

Deutschland

In Deutschland gilt als Bundestagswahlrecht ein personalisiertes Verhältniswahlrecht: Zwar werden in den Wahlkreisen auch Direktkandidaten nach dem relativen Mehrheitswahlrecht gewählt (die Hälfte der Bundestagssitze), aber die Verteilung der Sitze im Bundestag richtet sich nach dem Anteil der Zweitstimmen, die eine Partei bekommt. Die über die direkt gewonnenen Sitze hinaus einer Partei zustehenden Mandate werden mit Listenkandidaten besetzt. Nur wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustünden, behält sie diese Überhangmandate. In der Großen Koalition (1966-1969) wurde versucht, das Wahlsystem hin zur Mehrheitswahl zu reformieren. Dieser ursprünglich von der CDU/CSU verfochtene Reformversuch fand dann allerdings 1968 nicht mehr die Unterstützung der Sozialdemokraten, die auf ihrem Parteitag das Projekt in die Zukunft verschoben und damit verhinderten. Bundesinnenminister Paul Lücke (CDU) trat daraufhin von seinem Amt zurück. Vertreter der Mehrheitswahl an den Universitäten waren u.a. die Politologen Ferdinand A. Hermens und Wilhelm Hennis.

Vor- und Nachteile des Mehrheitswahlrechts

Das Mehrheitswahlrecht tendiert typischerweise zu einem Zweiparteiensystem (Duvergers Gesetz); die folgenden Vor- und Nachteile gehen deshalb von einem solchen System aus. Koalitionen sind daher zum Erreichen einer Mehrheit in der Regel nicht erforderlich. Die Vor- und Nachteile von Koalitionen gehen jedoch ebenfalls mit ein.

Vorteile des Mehrheitswahlrechts

Die Mehrheitswahl führt häufig zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Dies bedeutet: eine für die Wähler voraussehbare Regierungsbildung, eine einfache Regierungsbildung und stabile starke Regierungen, eine Parteienzersplitterung ist sehr unwahrscheinlich, da Kandidaten kleiner Parteien nur selten genügend Stimmen erhalten, um einen Wahlkreis zu gewinnen. Extreme Parteien haben nur geringe Chancen, da die Wähler der Mitte die Wahl entscheiden. Zudem ist eine Personenwahl in den Wahlkreisen möglich. Die Wähler haben die Möglichkeit, Kandidaten ihres Wahlkreises persönlich kennen zu lernen und auf Grund ihrer Persönlichkeit zu wählen. Die Abgeordneten sind von ihrer Partei weniger abhängig, da sie direkt gewählt werden. Zudem ist das System einfach und dadurch leicht verständlich.

Nachteile des Mehrheitswahlrechts

Diese Postkarte stellt das Wahlergebnis der Wahl zum Britischen Unterhaus 2005 (How you voted) der Zusammensetzung des Parlaments (What you got) gegenüber. Charter88 wirbt damit für eine Änderung des Wahlsystems.
  • Kleinparteien und neue Parteien haben wenig Chancen, Mandate zu erringen, wenn sie nicht regional dominierende Minderheiten vertreten. Stattdessen schwächen sie eher den eigenen politischen Flügel durch Zersplitterung der Wahlstimmen. Kritiker bemängeln zudem, dass gesellschaftliche Minderheiten nicht ausreichend vertreten werden. Es kommt häufig zu statischen Zweiparteiensystemen, in denen viele gesellschaftliche Strömungen nicht wiedergegeben werden.
  • Die Stimmen für Kandidaten kleinerer Parteien werden häufig zu "Papierkorbstimmen", da sie ohne Konsequenz für die Zusammensetzung des Parlaments bleiben. Damit wird das Gesamtergebnis im Parlament verzerrt wiedergegeben.
  • Bei Mehrheitswahlrecht neigen die beiden großen Parteien dazu, sich politisch aufeinander zuzubewegen, da sie keine realistische Konkurrenz von der anderen Seite des Spektrums zu erwarten haben. Dadurch hat der Wähler effektiv nur die Wahl zwischen zwei sehr ähnlichen Politikangeboten.
  • Es kann zu Wahlergebnissen kommen, bei denen der Wahlverlierer effektiv mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte als der Gewinner. Dies ist möglich, wenn der Wahlsieger in bevölkerungsreichen Wahlbezirken knappere Ergebnisse erzielt und daher die Summierung der abgegebenen Stimmen ein anderes Bild ergibt als die Auszählung nach geltendem Wahlrecht. Im Extremfall kann es vorkommen, dass eine Partei knapp die Hälfte aller Stimmen und die relative Mehrheit erringt und dennoch bei der Sitzverteilung komplett leer ausgeht.
  • Es kann passieren, dass im Parlament nur eine Partei vertreten ist und es somit keine parlamentarische Opposition mehr gibt. Dies geschah z.B. im kanadischen Bundesstaat New Brunswick bei den Wahlen 1987 und bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts regelmäßig in Mexiko.
  • Es ist möglich, das Wahlergebnis durch "geschicktes" Ziehen der Wahlkreisgrenzen zu beeinflussen ("Gerrymandering", "Wahlkreisgeometrie").
  • Eine Stimme in einem kleinen Wahlkreis - es ist praktisch unmöglich immer alle Wahlkreise gleich groß zu machen - wiegt rechnerisch mehr als eine Stimme in einem großen Wahlkreis, da jeder Wahlkreis einen Abgeordneten wählt.
  • Auch das Mehrheitswahlrecht kann zu einem knappen Gesamtergebnis führen, obwohl ein Lager in der Bevölkerung eine klare Mehrheit hatte.
  • Ein Teil der Bevölkerung kann seines Wahlrechts beraubt werden wenn er in einem Wahlkreis/ -bezirk lebt, der fest in der Hand einer der beiden Parteien ist. So leben z.B. in den USA 80% der Bevölkerung in einem fest einem Lager zugerechneten Bundesstaat.
  • Ein Mehrheitswahlrecht behindert zwar die Entstehung von themenorientierten Splitterparteien, aber fördert die Entstehung von Regionalparteien, welche dann im Parlament oft die regionalen Interessen den Gemeinschaftsinteressen des Staates voranstellen. Ein gutes Beispiel bildet hierfür Kanada. Im kanadischen Unterhaus sind trotz des angelsächsischen Mehrheitswahlrechts neben den beiden traditionell tonangebenden Listen der konservativen und der liberalen Partei auch der Bloc Quebecois sowie die New Democratic Party (NDP) vertreten. Die beien letztgenannten verfügen jeweils über eine starke regionale Machtbasis - der Bloc Quebecois in Quebec, die NDP unter anderem in der Provinz Saskatchewan. Somit kann das Mehrheitswahlrecht auch dazu führen, dass starke Regionalparteien auf nationaler Ebene zum Teil überproportionale Bedeutung erlangen - deren Fraktionen können zum Teil bedeutsame Gegenleistungen einfordern, wenn ihre Stimmen zur Mehrheitsbeschaffung der nationalen Regierung benötigt werden.
  • Bei Wahlen, bei denen es nur einen Sieger geben kann und dieser direkt gewählt wird (z.B. der amerikanische oder französische Präsident) kann es stark vom Auszählungsmodus abhängen, welcher Kandidat gewinnt. Das folgende Beispiel nach Michel Balinski[1] soll dies verdeutlichen:
Tatsächliche Präferenzen der Bevölkerung für die Kandidaten A, B, C, D und E]
Prozent der Wähler 33 16 3 8 18 22
Reihenfolge der Beliebtheit: Platz 1 A B C C D E
Reihenfolge der Beliebtheit: Platz 2 B D D E E C
Reihenfolge der Beliebtheit: Platz 3 C C B B C B
Reihenfolge der Beliebtheit: Platz 4 D E A D B D
Reihenfolge der Beliebtheit: Platz 5 E A E A A A
    • A gewinnt in einer reinen Mehrheitswahl ohne 50%-Regel (US-amerikanische Präsidentenwahl).
    • B gewinnt in einer Borda-Wahl sowie einer Coombs-Wahl
    • C gewinnt nach der Condorcet-Methode
    • D gewinnt bei einem Vorzugswahl (z.B. Australien und Irland)
    • E gewinnt nach dem französischen Präsidentenwahlsystem einer Mehrheitswahl mit zweitem Wahlgang.
    • Für eine Auszählung nach der Wahl durch Zustimmung und der Rang-Wahl müssten vom Wähler weitere Entscheidungen verlangt werden. Geht man davon aus, dass bei einer Wahl durch Zustimmung jeder Wähler seinen ersten beiden Kandidaten zustimmen würde, läge - zumindest nach einem ersten Wahlgang Kandidat B mit 49 Punkten knapp vor Kandidat E mit 48 Punkten.

Siehe auch


Weiterführende Literatur

  • G. William Domhoff (2003): Changing the Powers That Be. How the Left Can Stop Losing and Win. New York: Rowman & Littlefield Publishers, Inc.

Referenzen

  1. Michel Balinski: Symmetry, Voting, and Social Choice. Heft 3 S. 32 in: “The Mathematical Intelligencer” Vol. 10 (1988) von D.G. Saari (Editor).