Ettore Majorana

italienischer Physiker
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Ettore Majorana (* 5. August 1906 in Catania, Sizilien/Italien, verschollen 1938) war ein italienischer Physiker.

Seine wichtigsten Arbeiten beschäftigten sich mit atomphysikalischen Problemen wie der Spektroskopie, der relativistischen Quantenmechanik und Neutrinos. Sein Verschwinden im Frühjahr 1938 löste Spekulationen über Selbstmord wegen Skrupeln über die möglichen Folgen der Atomphysik und familiäre Beweggründe aus.

Leben

Ettore Majorana wurde in Catania geboren und besuchte dort die Schule. Nach dem Umzug der Familie nach Rom besuchte er dort das Liceo Torquato Tasso. Er übersprang eine Klasse und legte 1923 das Abitur ab. Er begann ein Studium an der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rom. 1927 bemühte sich der spätere Nobelpreisträger Emilio Segrè, Majorana zu einem Wechsel an das von Enrico Fermi neu gegründete Institut für Experimentelle Physik zu überreden. Nach einem Gespräch mit Fermi wechselte Majorana an dessen Institut, an dem er 1929 sein Examen mit einer Arbeit aus dem Bereich der Kernphysik ablegte.

Er trat der berühmten Forschungsgruppe um Enrico Fermi bei. Ihr gehörten neben anderen die Theoretiker Gian-Carlo Wick, Ugo Fano, Giovanni Gentile, Giulio Racah sowie die Experimentatoren Rasetti, Cocconi, Segre, Amaldi und Pontecorvo an. Majorana beschäftigte sich vor allem mit den Schriften von Paul A. M. Dirac, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Hermann Weyl und Eugene Paul Wigner. Fermi beeindruckte er gleich bei der ersten Begegnung mit einer analytischen Lösung einer nichtlinearen Gleichung in der Thomas-Fermi-Theorie, für deren numerische Lösung Fermi selbst Wochen gebraucht hatte. Daneben war Majorana schon seit Kindertagen ein Meister im Kopfrechnen. Niemand in der Gruppe um Fermi machte sich die Mühe, einen Rechenschieber zu benutzen, wenn Majorana in der Nähe war. [1] Fermi urteilte über ihn, dass niemand in der Welt ein einmal gestelltes Problem besser lösen könne als Majorana und stellte ihn später auf eine Stufe mit Physikern wie Galileo oder Einstein. In der Fermi-Gruppe charakterisiert ihn Laura Fermi so: Majorana, dunkeläugig und von spanischem Aussehen, der sich nie mit einem ersten mathematischen Beweis zufrieden gab, sondern jede Untersuchung tiefer und tiefer trieb (...) wurde Großinquisitor genannt. [2] Am 12. November 1932 legte er die Prüfung in la libra docenza in fisica teorica ab, bei der ihm die Prüfungskommission unter Enrico Fermi, Antonino lo Surdo und Enrico Persico eine vollständige Beherrschung der theoretischen Physik (una completa padronanza della fisica teorica) bescheinigte. In der Folge beschäftigte er sich vor allem mit Problemen der Atom- und Molekularphysik.

Im Winter 1932/33 lernte er den amerikanischen Quantenphysiker Eugene Feenberg (1906-1977) von der Harvard University kennen, mit dem er durch Europa reiste, zunächst nach Leipzig. Wegen der bedrohlichen Lage in Deutschland mit Beginn des Nationalsozialismus wurde Feenberg von seiner Universität zurückberufen. In seinem halben Jahr in Leipzig 1933 lernte Majorana Heisenberg kennen und besuchte dessen Seminare. Auf Anregung Heisenbergs veröffentlichte er seine Arbeit über Kernphysik in der Zeitschrift für Physik. Majorana reiste weiter nach Kopenhagen und lernte dort Niels Bohr kennen.

1933 kehrte er gesundheitlich angeschlagen nach Rom zurück. Er war zwar noch Mitglied der Universität, arbeitete aber vorzugsweise in seinem Haus. Er befasste sich neben der Physik mit Wirtschaftspolitik, der Flottenpolitik verschiedener Länder sowie Problemen des Schiffbaus. In dieser Zeit wandte er sich wieder der Philosophie zu, vor allem den Schriften Schopenhauers. Er mied den Kontakt zu Freunden, vernachlässigte sein Äußeres und verließ kaum noch sein Haus. In der Physik publizierte er nach 1933 nur noch eine Arbeit über eine Symmetrische Theorie von Elektron und Positron, nämlich 1937 auf Drängen seiner Freunde aus Anlass eines Wettbewerbs um einen Professorenposten. Die Arbeit hatte er bereits 1933 abgeschlossen. [3].

1937 wurde er zum Professor der Physik an der Universität Neapel ernannt. Er zog nach Neapel, lebte aber seinem scheuen Charakter entsprechend wie schon in Rom sehr zurückgezogen. Von Magengeschwüren gepeinigt, ernährte er sich fast nur von Milch. Er hielt weiter Vorlesungen, doch konnten ihnen wegen des abgehobenen Niveaus nur wenige Studenten folgen.

1938 schrieb er aus Palermo in einem nicht erhaltenen Brief an seinen Freund Carrelli, dem Direktor des Physik-Instituts in Neapel, dass er das Leben im allgemeinen und seines im besonderen völlig nutzlos finde. [4]. Äußerst beunruhigt über diesen Brief, alarmierte Carrelli Fermi, der Majoranas Bruder verständigte. Dieser flog sofort nach Palermo, wohin Majorana mit dem Postschiff von Neapel am 25. März gegen halb elf Uhr abends ausgelaufen war. Laut dem polizeilichen Untersuchungsbericht bestieg Majorana noch am 26. März das Postschiff von Palermo zurück nach Neapel. [5] Er soll auch kurz danach in Neapel von einer Krankenschwester, die ihn sehr gut kannte, gesehen worden sein, und ein ihm ähnelnder Mann soll bei einem Jesuitenabt um Aufnahme gebeten haben. Danach verlieren sich seine Spuren. Kurz vor seinem Verschwinden hatte er die Manuskripte seiner laufenden Vorlesungen seiner Studentin Gilda Senatore übergeben und sein gesamtes Geld abgehoben. Seinen Pass hatte er bei sich.

Das Verschwinden des berühmten Physikers löste eine große polizeiliche Suchaktion aus. Seine Familie setzte eine große Geldsumme für Hinweise auf sein Verbleiben aus. Sogar der Vatikan wurde eingeschaltet. Geblieben sind nur Vermutungen und Spekulationen, wie sie zum Beispiel der sizilianische Autor Leonardo Sciascia in seinem Buch anstellt. [6] Über dieses Thema wurde ein deutschsprachiger TV-Dokumentarfilm gedreht.

Ein Tagungszentrum für Theoretische Physik in Erice auf Sizilien, die E. Majorana School, und die dort abgehaltenen Kurse sind nach ihm benannt.

Werk

Seine frühen Arbeiten zur Atom- und Molekülphysik sind durch Verwendung von Symmetrieprinzipien und engen Kontakt zu experimentellen Daten gekennzeichnet. Die Arbeit In variablen magnetischen Feldern angeordnete Atome [7] untersucht den Majorana-Brossel-Effekt und fand Anwendung in Experimenten zum spin-flip von Neutronen durch Isidor Isaac Rabi und Felix Bloch Mitte der 1940er Jahre.

In seiner Leipziger Arbeit Über die Kerntheorie [8] verallgemeinerte Majorana, der schon vor Chadwicks Entdeckung den Aufbau der Kerne aus Protonen und Neutronen vermutete, Heisenbergs Austauschwechselwirkung und konnte die Sättigung der Bindungsenergie in leichten Kernen zeigen, ohne wie Heisenberg auf eine kurzreichweitige Abstoßung zurückzugreifen. Deren Vorhandensein wurde erst in den 1950er Jahren bestätigt.

Seine letzte veröffentlichte Arbeit von 1937, Symmetrische Theorie von Elektron und Positron [9] legt mit der reellen Majorana-Form der Dirac-Matrizen die Basis für zahlreiche nach ihm in der Elementarteilchenphysik benannte Konzepte wie Majorana-Spinor, Majorana-Neutrino und Majorana-Masse. Tatsächlich schlug Majorana ausdrücklich vor, Neutrinos durch seine Gleichungen zu beschreiben. Ein historischer Aspekt dieser Arbeit ist die Absage an die Diracsche Löchertheorie, in der Positronen als Löcher im Bild des Vakuums als Dirac-See unendlich vieler mit Elektronen besetzter Zustände negativer Energie interpretiert wurden.

Neben seinen neun veröffentlichten Arbeiten werden seit den 1990er Jahren die zahlreichen originellen unveröffentlichten Beiträge in seinen Notizbüchern untersucht. Hier fanden sich etwa Vorwegnahmen von Feynmans Wegintegral, Arbeiten zu den Darstellungen der Lorentzgruppe, von denen ein Teil als Relativistische Theorie von Teilchen mit beliebigem inneren Drehimpuls [10] veröffentlicht wurde, die Wigner vorgriffen, zur Thomas-Fermi-Theorie des Atoms und zur Fano-Theorie in der Atomphysik. Nach Erinnerungen von Wick führte er lange vor 1933 auch unveröffentlichte Arbeiten zur Feldquantisierung aus, die Pauli und Weisskopfs Arbeiten von 1934 vorwegnahmen.

Sein Freund Gentile publizierte 1942 in Scientia die einzige veröffentlichte nicht-physikalische Arbeit Majoranas, Die Rolle statistischer Gesetze in Physik und Sozialwissenschaften. [11]

Literatur

  • Amaldi: La vita e l´opere di E. Majorana, Rom, Accademia di Lincei, 1966, sowie in A. Zichichi (Hrsg): Strong and weak interactions 1966)
  • Sciascia, Leonardo: La scomparsa di Majorana Turin, Einaudi 1975. Der Fall Majorana. Ein philosophischer Kriminalroman. Mit einem Nachwort von Leo Ritter-Santini. Berlin, Seewald 1978, Busse-Seewald Verlag 1994, Das Verschwinden des Ettore Majorana, Berlin, Wagenbach, ISBN 3803112184. Auch in: Man schläft nicht bei offenen Türen, Zsolnay Verlag.
  • Bruno Russo: Ettore Majorana - un giorno di marzo, Flaccovio Editore, Palermo 1997. Russo drehte auch einen Fernseh-Dokumentarfilm, ausgestrahlt auf RAI 3, Sizilien, am 18. Dezember 1990 und schrieb 1998 ein Theaterstück darüber[12])
  • Recami, Erasmo: Il caso Majorana, Di Renzo Editore, Roma, 2000
  • Licata, Ignazio: Majorana Legacy in Contemporary Physics, Di Renzo Editore, Roma, 2006
  • Esposito, E. Majorana jun., Recami, van der Merwe: Ettore Majorana: notes on theoretical physics, Kluwer, New York 2003 (die Notizbücher 1927-1931, Volumetti)
  • Preziosi: Majorana - Lezioni all Universita di Napoli, Neapel, Bibliopolis, 1987. Weitere Vorlesungsausarbeitungen wurden 2005 entdeckt und sollen veröffentlicht werden

Film

Quellen und Fußnoten

  1. Laura Fermi: Mein Mann und das Atom (Atoms in the family), Diederichs Verlag 1956, S. 52
  2. Laura Fermi, loc. cit. S. 54. Fermi selbst war natürlich der „Papst“.
  3. Nach Sciascia kam die Bewerbung Majoranas völlig überraschend. Die Professorenstellen waren schon vorher in der Reihenfolge Wick, Racah, Gentile verteilt worden. Dem Vater Gentiles, einem bekannten und den Faschisten nahestehenden Philosophen, gelang es, den „Wettbewerb“ so zu gestalten, dass Majorana vorher zum Professor in Neapel ernannt wurde. Siehe Laura Fermi loc. cit., S. 115
  4. Er habe sich zu einer Entscheidung durchgerungen, die unausweichlich und ohne jedes bißchen Egoismus sei. Weiter entschuldigte er sein plötzliches Verschwinden (scomparsa) und äußerte die Hoffnung, man werde ihn in Erinnerung behalten, wenigstens bis zu diesem Abend um 11 Uhr und möglicherweise auch später. Den Brief widerrief er allerdings in einem Telegramm an Carelli aus Palermo am 25. März. Das Meer habe ihn abgewiesen, teilte er darin mit. In einem im Hotel hinterlegten Brief an seine Angehörigen schrieb er, sie sollten nicht länger als drei Tage trauern. Die Briefe werden zitiert bei Sciascia.
  5. Die Rückfahrkarte wurde abgegeben. Allerdings konnten Mitreisende wie Professor Strazzeri ihn nicht eindeutig identifizieren.
  6. Nach Sciascia tauchte er in einem süditalienischen Kloster unter, da er moralische Verwicklungen durch Entwicklung der Atombombe vorhersah. Diese These wies Amaldi 1975 in L'Expresso energisch zurück. Recami vertrat die Auffassung, Majorana sei in Argentinien untergetaucht und zitiert Zeugen, die Tullio Regge nach einem Interview für glaubwürdig hält. Ein Motiv dafür sah Recami in Majoranas Wunsch, dem starken Einfluss seiner Mutter zu entgehen. Als weiteres Motiv Majoranas für sein Verschwinden wird ein langjähriger Mordprozess gegen einen Onkel, der sich zu einem Justizskandal entwickelte, diskutiert. Sciascia bezweifelt aber einen Einfluss dieses Falles.
  7. veröffentlicht in: Nuovo Cimento Bd. 9, 1930, S. 43, (italienisch)
  8. Zeitschrift für Physik, Bd. 82, 1932, S. 137-145; auch in Brink (Hrsg.): Kernkräfte, wtb Taschenbuch
  9. Nuovo Cimento Bd. 14, S. 171
  10. Nuovo Cimento, Bd. 9, 1932, S. 335 (italienisch)
  11. Scientia, Bd. 36, S. 55
  12. Nach Russo beging Majorana Selbstmord in Schopenhauerscher Manier