Parzival

mittelhochdeutsches Epos
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Der Parzival von Wolfram von Eschenbach ist ein Versroman der mittelhochdeutschen hochhöfischen Literatur, entstanden vermutlich im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.

Wolfram, Parzival 1, 1 ff - Ist zwiffel hertzen noch gebur... (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Blatt 6r)

In kunstvoll verzahnten Handlungssträngen werden die Abenteuer zweier ritterlicher Hauptfiguren erzählt - einerseits die Entwicklung des Titelhelden vom unwissenden Kämpfer im Narrenkleid zum Gralskönig, andererseits die gefahrvollen Bewährungsproben für den Artusritter Gawan. Thematisch gehört der Roman zur sogenannten Artusepik, auch wenn die Aufnahme Parzivals in die Tafelrunde des mythischen britannischen Königs nur eine Durchgangsstation seiner Gralssuche ist.

Der Stoff wurde vielfach bearbeitet; die vielleicht bekannteste neuzeitliche Version ist Richard Wagners Adaptation für das Musiktheater mit dem "Bühnenweihfestspiel" Parsifal (Uraufführung 1882).


Inhalt und Handlung

 
Herzeloyde und Parzival im Wald von Soltane (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Blatt 87r)

Wolfram leitet seinen Roman mit der breit ausgemalten Geschichte Gahmurets, des Vaters von Parzival, ein. Jener bleibt als zweitgeborener Sohn beim Tod seines Vaters, des Königs von Anschouwe, ohne Erbe und zieht auf der Suche nach ritterlicher Bewährung und Ruhm in den Orient. Zunächst dient er dem Kalifen von Bagdad, dann hilft er der schwarzhäutigen Königin Belakane gegen ihre Belagerer. Er siegt und heiratet Belakane, wird damit König von Zazamanc und Azagouc, verlässt sie aber schon bald wieder auf der Suche nach weiteren Abenteuern. Zurück in Europa nimmt Gahmuret an einem Turnier vor Kanvoleis teil, bei dem er die Hand der Königin Herzeloyde und die Herrschaft über ihre Länder Waleis und Norgals gewinnt. Aber auch von hier zieht Gahmuret bald wieder auf Ritterfahrt, tritt erneut er in die Dienste des Kalifen, wobei er schließlich durch einen vergifteten Speer getötet wird. Gahmuret verlässt beide Frauen so schnell, dass er jeweils die Geburt seiner Söhne nicht mehr erlebt: Belakanes schwarz-weiß wie eine Elster gescheckten Sohn Feirefiz und Herzeloydes Sohn Parzival.

Parzivals Erziehung zum Ritter und seine Entwicklungsgeschichte auf der Suche nach dem Gral ist zwar - wie der Autor mehrfach betont - Hauptthema der folgenden Handlung, fast gleichwertig aber verfolgt Wolfram kontrastierend die Ritterfahrt Gawans. Während Gawan dabei der heldenhafte Ritter ist, der sich in zahlreichen Abenteuern immer erfolgreich darin bewährt, die Schuldigen an Missständen der Weltordnung zur Verantwortung zu ziehen und diese Ordnung zu restituieren, durchlebt Parzival extreme persönliche Konfliktsituationen und wird - gerade weil er sich erst im Laufe der Romanhandlung entwickelt - immer wieder selbst schuldig. Doch gerade er, der über lange Jahre hinweg die Folgen seines Fehlverhaltens ertragen muss, erlangt am Ende die Gralsherrschaft.

Außerdem gibt es ausgedehnte Passagen zu Komplementärfiguren der beiden Protagonisten, insbesondere zu Parzivals Cousine Sigune und zu König Gramoflans, einem der Gegner Gawans. Das Epos endet mit einem Ausblick auf die Geschichte von Parzivals Sohn Lohengrin.


Literaturgeschichtliche Einordnung

Unter den Versromanen der mittelhochdeutschen Literatur hebt sich Wolframs wilde maere - von Gottfried von Straßburg im sogenannten 'Literaturexkurs' des Tristan eigentlich polemisch abwertend gemeint - gleich in mehrfacher Hinsicht hervor:

Mit seiner komplexen Sinnstruktur und aufwändigen erzählerischen Komposition ist der Parzival keineswegs 'leichte Lektüre' - dennoch hat das Epos mit um die 90 überlieferten Textzeugnissen eine einzigartige Wirkungsgeschichte, es wird quasi ein "Bestseller" des Mittelalters. Joachim Bumke (s.u. 'Literatur') spricht von einer "literarischen Sensation", die das Werk gewesen sein müsse, so häufig zitiert und kopiert wie kein anderes im 13. Jahrhundert. Wolfram verarbeitet alle geläufigen Problemstellungen der literarischen Epoche (v.a. Minne-Problematik, Aventiure-Forderungen, Herrscher-Idoneität, religiöse Determiniertheit) - teilweise kritisch ironisierend, teilweise für seine Zeit neuartig zuspitzend; dem Roman kommt damit exemplarische Bedeutung für die Themenkomplexe der höfischen Literatur insgesamt zu.

Dabei verfolgt der Autor parallel zum Hauptgeschehen um Parzival eine Vielzahl von weiteren Handlungssträngen. In immer neuen 'Würfelwürfen' ("schanzen", Parz. 2, 13 - Metapher Wolframs im Prolog des Parzival in Bezug auf sein eigenes narratives Verfahren) spielt er die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Probleme, vor die sich Parzival gestellt sieht, mit anderen Protagonisten durch und entfaltet die Romanhandlung so zu einer umfassenden Anthropologie. Wolfram selbst war sich dessen bewusst, dass seine oft sprunghafte, bildreich assoziierende Erzählweise neu und ungewöhnlich war; er vergleicht sie mit dem 'Hakenschlagen eines Hasen auf der Flucht vor Ignoranten' ("tumben liuten", Parz. 1, 15 ff) und betont damit, wiederum gegenüber Gottfried, der dieselbe Metapher spöttisch abwertend verwendet, selbstbewusst seine auffällige sprachkünstlerische Formkraft und inhaltliche/thematische Fantasie.

Schließlich: Auffällig, ungewöhnlich für einen mittelalterlichen Autoren ist, wie souverän Wolfram den vorgefundenen Stoff neu arrangiert und bearbeitet gemäß der eigenen literarischen Ideen und Intentionen:


Wolframs Parzival und Chrétiens Perceval

 
Parzival hat Segramors besiegt und kämpft mit Keye (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, Blatt 208v)

Hauptquelle zum Parzival ist der unvollendete Versroman Perceval le Gallois ou le conte du Graal / Li contes del Graal von Chrétien de Troyes, entstanden 1180/90. Wolfram selbst allerdings distanziert sich im Epilog von Chrétien, nennt dagegen mehrfach das Werk eines gewissen 'Kyot' als Vorlage und versieht diese auch noch mit einer abenteuerlichen Entstehungsgeschichte. Da aber ein solcher 'Kyot' außerhalb von Wolframs Dichtung nicht identifiziert werden konnte, sind diese Angaben eher als literarische Koketterie des Autors einzuordnen.

Die Handlung des Parzival ist gegenüber der Vorlage umfangreich erweitert, insbesondere durch die Rahmung mit der einleitenden Vorgeschichte um Parzivals Vater Gahmuret und den abschließenden Ereignissen im Zusammentreffen Parzivals mit seinem Halbbruder Feirefiz. Die Einbettung in die Familiengeschichte dient - über die pure Lust am Fabulieren hinaus - der verstärkten Kausalmotivation der Handlung. Wolfram kommt so auf fast 24.900 Verse gegenüber gut 9.200 Versen bei Chrétien.

Aber auch in jenen Passagen, in denen Wolfram Chrétien inhaltlich folgt (Buch III bis Buch XIII), geht er wesentlich freier und selbstbewusster an die Nacherzählung als andere zeitgenössische Autoren (etwa Hartmann von Aue, dessen Artus-Romane Erec und Iwein auch auf Chrétien zurück gehen): Der Textumfang der Vorlage ist fast verdoppelt auf etwa 18.000 Verse, auch deshalb, weil Wolfram seine Protagonisten wesentlich breiter ethische und religiöse Fragestellungen reflektieren lässt, sich auch selbst immer wieder als reflektierender Erzähler zu Vorgängen der fiktiven Handlung äußert.


Übertragungen und Rezeption

Von Wolframs Epos gibt es zahlreiche Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche - sowohl in Versform (v.a. aus dem 19. Jahrhundert) als auch als Prosaübertragung. Als Nachteil der älteren, durchgereimten Übertragungen in Versform gilt, dass sie sich in Sprachgestaltung und Begriffsdeutung zwangsläufig sehr weit vom Original entfernen mussten. Prosaübertragungen können demgegenüber die Konnotationen des mittelhochdeutschen Wortschatzes genauer wiedergeben, entschärfen dabei aber die ursprüngliche sprachliche Kraft und Virtuosität des Textes.

In dieser Hinsicht gelten zwei neuere Übertragungen - die Prosaübertragung von Peter Knecht und die (ungereimte) Versübertragung von Dieter Kühn (s.u. 'Literatur') - als literarisch gelungene und philologisch korrekte Annäherungen an den Stil und die sprachliche Eigenart des Originals.

Interpretationsansätze

Literatur

Zur Einführung

(In der ersten Hälfte eine literarische Zeitreise zu Leben, Werk und Zeit Wolframs von Eschenbach, in der zweiten Hälfte eine zunächst auf die Parzival-Gawan-Handlung gekürzte Version der Übertragung Kühns für die 'Bibliothek des Mittelalters' (s.u.))

Text und Übersetzung/Übertragung

  • Wolfram von Eschenbach: Parzival, Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation, Einleitung von Bernd Schirok, Übersetzung von Peter Knecht, zweite Auflage, Berlin, New York 2003, ISBN 3-11-017859-1
(Vollständige zweisprachige Textausgabe mit Prosaübertragung, für die Nutzung im akademischen Bereich konzipiert, mit wissenschaftlichem Apparat.)
  • Wolfram von Eschenbach: Parzival, (2 Teilbände), nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, (= Bibliothek des Mittelalters, Texte und Übersetzungen, Vierundzwanzig Bände, Herausgegeben von Walter Haug; Band 8/1 und 8/2), Frankfurt a.M. 1994, ISBN 3-618-66083-9
(Vollständige zweisprachige Textausgabe (nach der sechsten Auflage von Lachmann), mit Versübertragung bei Übernahme des metrischen Schemas, aber Verzicht auf Reimung. Nachwort, Anmerkungen zur Übertragung, umfangreicher Stellenkommentar.)
  • Wolfram von Eschenbach. Parzival, (Band 1: Buch 1-8, Band 2: Buch 9-16), Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok, (=Reclams Universalbibliothek; Band 3681 und 3682), Stuttgart 1986, ISBN 3-15-003682-8 und ISBN 3-15-003681-X
(Vollständige zweisprachige Textausgabe (nach der siebten Auflage von Karl Lachmann), mit Prosaübertragung.)

Wissenschaftliche Sekundärliteratur

  • Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, (=Sammlung Metzler; Band 36), 8., vollständig neu bearbeitete Auflage Stuttgart 2004, ISBN 3-476-18036-0
(Angesichts der kaum mehr überschaubaren Flut an Literatur zu Wolfram und speziell zum Parzival eine grundlegende Orientierung (gemeinsam mit dem Stellenkommentar von Nellmann, s.o.).)
  • Eine Auswahl mit Spezialliteratur aus einer früheren Version des Artikels findet sich auf der Diskussionsseite.

Rezeptionsbeispiele

(Populäre Behandlungen des Stoffes - angefangen beim Jugendbuch - gibt es viele; diese beiden Werke sind für ganz unterschiedliche Art der Adaptation des mittelalterlichen Stoffes in der modernen (Handke) bzw. der postmodernen (Muschg) deutschen Literatur exemplarisch.)
(Da eine kritische Ausgabe des 'Parzival' nach wie vor ein Desiderat ist (vgl. aber den folgenden Link) - führt am "Lachmann" noch kein Weg vorbei.)
(Das Projekt hat das Ziel, eine elektronische Textedition aller Handschriften-Varianten zu erreichen als Voraussetzung einer neuen kritischen Ausgabe des 'Parzival' - eine Editionsprobe demonstriert die Möglichkeiten dieser Unternehmung.)