Raï

algerischer Musikstil
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Der Raï ist eine algerische Volks- und Populärmusik, entstanden in der Hafenstadt Oran. Der Ursprung der Bezeichnung ist noch umstritten, sie wird sowohl vom arabischen Wort "Rai" (dt. Meinung) abgeleitet wie auch von dem Ausruf "Ya ray!", der bereits im Raï der Berber als Füllsel zur Überbrückung zwischen Textabschnitten diente, ähnlich dem "Yeah!" in der angloamerikanischen Pop- und Rockmusik. Aufgrund des Ursprungs des Raï in der Tradition der Berber gilt letztere Erklärung mittlerweile als wahrscheinlicher.

Geschichte

1880-1910

Am Ende des 19. Jahrhunderts war der Raï eine simple Hirtenmusik der Berber im Umland Orans, geprägt von schlichten improvisierten Texten und einfacher Flötenbegleitung. Während der Landflucht der Jahrhundertwende zogen viele Berber in die Stadt und brachten ihre Musik mit nach Oran.

1910-1960

Die neue Musik wurde von den sogenannten Medahates, reinen Frauenorchestern, adaptiert und weiterentwickelt. Die Medahates spielten meist bei Feierlichkeiten wie Hochzeiten oder Beschneidungen auf, aber auch in Bordellen und Bars. Durch die Bandbreite dieser Erfahrungen und die extrem liberale Atmosphäre Orans dieser Zeit begünstigt, formulierten die Vorsängerinnen der Orchester, die sogenannten Cheikhates (cheikh=alt, weise, erfahren), in ihren Texten zunehmend in realistischer und kritischer Form die Lebensbedingungen von Frauen der Unterschicht im Oran der 20er Jahre, sangen Lieder über Liebe, Eifersucht, Sexualität, Armut und Trunksucht. Mit diesen Inhalten befand sich der Raï deutlich in Konflikt mit der prüden algerischen Gesellschaft, die den Raï vielfach für "ein Genre, das den Verfall der Sitten und den Niedergang des Anstands im algerischen Volke widerspiegelt" hielt.

Die berühmteste dieser Sängerinnen war Cheikha Rimitti (der Name stammt vom französischen "Remettez", zu Deutsch "Schenk ein!"), sie machte 1936 auch die erste Schallplattenaufnahme eines Raï (für die französische Plattenfirma Pathé) und ist bis heute aktiv. Sie illustriert auch den inhaltlichen Wandel vom orchestralen Medahates-Raï zum individuelleren Cheikha-Stil, formal blieb der Raï allerdings unverändert, die Vorsängerin wurde von einem Gesangsensemble begleitet, sowie der Gasba (eine Rosenholzflöte) und der Gallal (einer Rahmentrommel).

1960-1979

Diese Gestalt des Raï als eine raue und wilde urbane Volksmusik erhielt sich lang, hinaus über den algerischen Unabhängigkeitskrieg der 50er und 60er Jahre. 1968, mit den ersten Aufnahmen des Trompeters Bellemou Messaoud, dem "Pere du Raï" (Vater des Raï), erfährt der Raï eine bedeutende Veränderung, die klassische Instrumentation wird durch westliche Instrumente wie E-Gitarre, Saxophon, Geige und Akkordeon ergänzt, Elemente von Flamenco, Jazz und der Rockmusik werden eingearbeitet und die Stücke werden kunstvoller und virtuos, auf Gesang wird zugunsten der Solotrompete teils ganz verzichtet. Der "Raï Pop" Messaouds stellte einen revolutionären Wendepunkt in der Geschichte des Raï dar, nur dem Wandel von der Hirtenfolklore zur städtischen Orchestermusik in den 20er Jahren vergleichbar. Nicht nur was Instrumentation, Struktur und Interpretation der Musik angeht, auch soziologisch war Messaoud revolutionär: Durch den weitgehenden Verzicht auf Gesang und Text entfiel die gesellschaftliche Stigmatisierung des Raï, die sich auch nach der Unabhängigkeit erhielt und die technisch und kompositorisch anspruchsvollere Präsentation erschloss dem Raï ein neues Publikum. Die vielleicht wichtigste Veränderung aber war wohl, daß zum ersten Mal ein männlicher Interpret in die bisher reine Frauendomäne des Raï vorstieß, bemerkenswertes darin leistete und so die geschlechtliche Bindung der Musik aufbrach (was in der Rezeption bis heute allerdings auch zur Folge hat, daß der äußerst gewichtige Beitrag der Frauen zu dieser Musik nur selten angemessen gewürdigt wird). 1975 zog sich Messaoud aus der Musik wieder zurück.

1979-1989

1979 erschien ein Stück namens "Ana Ma H'Lali Ennoun", zu deutsch "Ich kann nicht schlafen" von einer Sängerin namens Chaba Fadela und wurde sofort ein Erfolg. Schon der Name der Sängerin war ein Aufbegehren, Chaba bedeutete nämlich "Die Junge" in Opposition zum Cheikh und Cheikha der Altvorderen. Mit seiner aufgeheizten Nervosität und dem eindringlichen Ton traf das Stück die algerische Jugend bis ins Mark.

60% der algerischen Bevölkerung waren zu dieser Zeit unter 30 und litten unter hoher Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Die zutiefst verknöcherte algerische Gesellschaft hatte die Unruhe ihrer Jugend lange verdrängt, in diesem Stück fand ihre Wut und Frustration Ausdruck. Der "Raï moderne", als Studiomusik erstmals solide produziert und musikalisch erneuert mit dem massiven Einsatz von Synthesizern und Drumcomputern durch den bedeutenden Produzenten Rachid Baba Ahmed, verbreitete sich schlagartig, innerhalb kürzester Zeit tauchten neue Interpreten auf wie Cheb Hamid, Cheb Khaled (dessen Stück "Aisha" 2003 als Coverversion ein internationaler Hit wurde), Chaba Zahouania, Cheb Sahraoui (der spätere Ehemann von Chaba Fadela) und viele weitere. Die Regierung, die das Unruhepotential der Jugend zu fürchten begann, verbot Raï in Radio und Fernsehen, aber die kleinen, schnellen und hochflexiblen Kassettenmärkte schufen eine Gegenöffentlichkeit, gegen die die Regierung sich machtlos zeigte. Die Aufhebung des Banns wurde erst 1985 mit einem grossen, im Fernsehen übertragenen Festival beendet. Mitte der 80er Jahre fand das Phänomen Raï dann auch die verdiente internationale Beachtung. Besonders erfolgreiche Karrieren begannen Cheb Khaled (der später das Cheb fallen liess und heute als Khaled firmiert) und Cheb Mami.

1989-heute

So gut sollte die Situation für die Musiker aber nicht lange bleiben. Ab dem Ende der 80er Jahre hatte die "Islamische Heilsfront" (FIS) die Unzufriedenen gesammelt und bei den Wahlen 1992 kam es zu einem Erdrutsch-Sieg der FIS. Um eine islamistische Regierung zu verhindern, putschte das Militär und es entspann sich ein jahrelanger Bürgerkrieg, der weit über 100.000 Menschenleben kostete. Im Visier der Islamisten waren auch die Raï-Musiker, die meisten gingen bereits ab 1990 ins Exil nach Frankreich, da der islamistische Druck zu stark war. Der Sänger Cheb Hasni, wichtigster Repräsentant des "Raï Love"-Stils (geschmeidige Arrangements mit Liebeslyrik) und eisern das Exil verweigernd, wurde im September 1995 auf offener Strasse erschossen.

Erst 1999 konnte Cheb Mami nach 10 Jahren wieder in Algerien ein Konzert geben, 2000 folgte Cheb Khaled, der 14 Jahre lang nicht mehr in Algerien war. Die junge Generation des Raï arbeitet heute in Paris, in Algerien ist der Raï verstummt. Die Notwendigkeit des Exils bietet aber auch gleichzeitig die Möglichkeit in engem Anschluss an internationale Musik zu arbeiten und ihre Einflüsse aufzunehmen. Hybridformen mit Techno, House und Drum'n'Bass und [Hip Hop]] sind entstanden, einer der wichtigsten dieser "Crossover"-Interpreten ist Rachid Taha.

Ob der Raï irgendwann wieder nach Algerien zurückkehren und dort neue Wurzeln schlagen kann, bleibt offen. Die Lebendigkeit aber ist ihm erhalten geblieben. Seine Wandlungsfähigkeit, Ausdauer und seine kritische Distanz zur Gesellschaft machen ihn zu einer der bedeutendsten populären Musikformen nicht nur der islamischen Welt.

Literatur

  • Marc Schade-Poulsen, "Men and Popular Music in Algeria: The Social Significance of Rai (Modern Middle East Series)", University of Texas, 1999
  • Frank Tenaille, "Die Musik des Rai", 2003
  • Andy Morgan, "The Rough Guide to Rai", 2002