Der Erlanger Konstruktivismus (auch: Konstruktivismus der Erlanger Schule, später Methodischer Konstruktivismus) ist ein Ansatz einer allgemeinen Wissenschaftstheorie.
Als die Begründer der Erlanger Schule in den Sechzigerjahren gelten Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, deren Wissenschaftstheorie als konstruktiv gilt, weil sie die Gegenstände der Wissenschaften als Konstruktionen, also Produkte zweckgerichteten Handelns versteht. Eine Aufgabe der konstruktiven Wissenschaftstheorie ist weiterhin, die Erzeugung der Gegenstände einer Wissenschaft durch die Befolgung implizit gegebener Vorschriften zu rekonstruieren. Großes Augenmerk wird hierbei auf Axiomen- und Prototypenfreiheit gelenkt: Alle Elemente und Regeln der Wissenschaftssprache sollen voraussetzungsfrei, zirkelfrei und nachvollziehbar eingeführt werden. Ausgangspunkt hierfür ist die aus konstruktivistischer Sicht als unproblematisch angesehene Lebenswelt.
Entstehungsgeschichte
Die Ursprünge des Erlanger Konstruktivismus liegen vor allem bei der methodischen Philosophie Hugo Dinglers (seinerseits beeinflusst von Rudolf Carnap). Er gilt zusammen mit dem italienischen Linguisten und Philosophen Silvo Ceccato als Ahnherr des Methodischen Konstruktivismus.
Die Erlanger Schule - die Bezeichnung leitet sich aus dem geografischen Entstehungsort ab - wurde von Lorenzen und Kamlah mit der ersten Schülergeneration Kuno Lorenz, Jürgen Mittelstraß, Peter Janich, Oswald Schwemmer und Christian Thiel gegründet. 1967 wurde der erste Standardtext, die Logische Propädeutik herausgegeben.
In den Siebzigerjahren bilden Mittelstraß und Janich mit Carl Friedrich Gethmann und Friedrich Kambartel die so genannte Konstanzer Schule. In den Achtzigern begründet Janich die Marburger Schule und benennt den Begriff Erlanger Konstruktivismus in Methodischer Konstruktivismus um. Heute besteht das Programm der Marburger Schule in der Weiterentwicklung des Methodischen Konstruktivismus zum Methodischen Kulturalismus, dessen Anliegen eine methodisch-systematische Kulturkritik auf konstruktiv-philosophischer Grundlage ist.
Wissenschaftstheoretische und methodische Aspekte
Die Vertreter des Erlanger Konstruktivismus stehen in engem Zusammenhang mit moderner Sprachphilosophie nach der sprachkritischen Wende (linguistic turn]]. Wissenschaft wird als zweckgerichtetes Handeln verstanden, wodurch ein pragmatischer Ansatz geschaffen wird, der zentral in seine Handlungstheorie Sprachhandlungen einbezieht. Eine Analyse wissenschaftlicher Verfahren beeinhaltet demnach auch die Untersuchung ihrer spezifischen Zweckorientierung. Drei wesentliche Aspekte extrahiert Peter Petersen:
- Zweckbindung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Tätigkeit,
- Erkennen als Handeln im Kontext,
- Die dialogische Methode der Erkenntnisgewinnung.
Der Konstruktivismus orientiert sich also nicht an stillschweigenden Prämissen und Axiomen, sondern ist gebunden an den Kontext und die Alltagspraxis (Lebenswelt) der an der Handlung Beteiligten. Aus heutiger konstruktivistischer Sicht ist es die Lebenswelt des Alltäglichen, in der Argumentationsanfänge im Konsens zu finden sind, aus denen nach pragmatischer Ausrichtung schrittweise, methodisch, zirkelfrei und begründet eine Wissenschaft entwickelt wird.
Im Rahmen der konstruktivistischen Methodologie werden zum Aufbau von Wissenschaften Begriffe dialogisch eingeführt (konstruiert) und geprüft, nach Lorenzen Orthosprache genannt. Dazu gibt es eine Phase der Protowissenschaft, inder die Wissenschaftlichen Begriffe und Zusammenhänge konstruiert und beurteilt werden. Die Stufe der exakten Wissenschaft ist dann erreicht, wenn die Fragen nach erkenntnisleitenden Interessen, nach der Rechtfertigung der Bildung von Unterdisziplinen, der systematischen Einordnung in den gesamtwissenschaftlichen Zusammenhang und die Möglichkeit der Rekonstruktion der Terminologie zufriedenstellend beantwortet werden können (Dirk Hartmann 1993).
Das Konzept der Protowissenschaften wurde eingeführt, um intersubjektiv überprüfbare Konstruktionen von Grundregeln und Grundbegriffennachvollziehbar und zirkelfreieiner rationalen Argumentation zugänglich zu machen. Damit soll die Fundierung und Geltung einer Wissenschaft verstärkt werden.
Die Methode zur Einführung von Begriffen und Regeln wird als dialogisch bezeichnet. Jeder Grundbegriff muss nachvollziehbar aus der Lebenwelt heraus als wissenschaftlicher (orthosprachlicher) Terminus und jede Behauptung oder Regel soll so eingeführt werden, dass jeder Dialogteilnehmer zu einer Entscheidung üder den zu beschreibenden Gegenstand kommen kann. Ziel der dialogischen Methode ist der Aufbau einer wissenschaftlichen Fachsprache, deren Verwendung durch die zirkelfreie und nachvollziehbare Bildung der Begriffe, Regeln und Behauptungen methodisch eindeutig normiert ist. Vielfach verwendetes Werkzeug der dialogischen Methode, vor allem in der Orthosprache ist die Prädikatenlogik.
Literatur
- Hartmann, D.: Naturwissenschaftliche Theorien: Wissenschaftstheoretische Grundlagen am Beispiel der Psychologie. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1993.
- Janich, P.: Konstruktivismus und Naturerkenntnis: Auf dem Weg zum Kulturalismus. Frankfurt am Main 1996.
- Janich, P. (Hg.): Methodischer Kulturalismus:Zwischen Naturalismus und Postmoderne. Frankfurt am Main 1996.
- Kamlah, W., Lorenzen, P.: Logische Propädeutik:Vorschule des vernünftigen Redens. Stuttgart, Weimar 1996.
- Lorenzen, P.: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Franfurt am Main 1974.
- Lorenzen, P.: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Mannheim, Wien, Zürich 1984.
- Petersen, P.: Der Terminus Gewalt: Versuch einer terminologischen Bestimmung auf Grundlage des methodischen Konstruktivismus. In: Arbeitsgruppe Konstruktive Erziehungswissenschaft am Institut für Pädagogik (Hg.): Monographien zur Erziehungswissenschaft, Bd. 4. Kiel 1997.