Franz Exner

österreichischer Kriminalwissenschaftler
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. April 2007 um 09:52 Uhr durch Torte825 (Diskussion | Beiträge) (Hans v. Hentig erwähnt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Franz Exner (* 9. August 1881 in Wien; † 1. Oktober 1947 in München) war ein deutsch-österreichischer Kriminalwissenschaftler und Kriminologe. Neben Edmund Mezger und Hans v. Hentig zählte er während der Weimarer Republik und zur Zeit des Nationalsozialismus zu den prominentesten Vertretern seines Faches.

Franz Exner

Leben

Exner stammte aus einer Gelehrtenfamilie. Seinen Vater Adolf Exner, Rechtsprofessor (1841-1894), und dessen Schwester Marie Exner (Mutter des Zoologen und Nobelpreisträgers Karl von Frisch) verband eine tiefe Freundschaft mit Gottfried Keller.[1] Sein Großvater Franz Serafin Exner, Philosophieprofessor in Wien, war ein bedeutender österreichischer Schulreformer.

Nachdem er in seinen ersten vier Schuljahren privat unterrichtet worden war, besuchte Exner das „Schottengymnasium“ in Wien, das er im Jahre 1900 mit der Matura abschloss.[2]

Nach einem freiwilligen Jahr beim österreich-ungarischen Militär studierte Exner in Wien, Heidelberg und am Kriminalistischen Seminar Franz von Liszts Rechtswissenschaften. Nach den drei vorgeschriebenen Staatsexamina beendete er sein Studium 1906 mit der Promotion. In den Jahren 1907-1910 arbeitete Exner wissenschaftlich in Berlin, wo er sich 1910 bei Franz von Liszt habilitierte, während er gleichzeitig als Anwärter auf das Richteramt in Wien praktische Erfahrungen sammelte.

Seine berufliche Laufbahn führte ihn von einer Privatdozentur in Wien (1910) über Professuren in Czernowitz (1912), Prag (1916), Tübingen (1919) und Leipzig (1921). Am 1. April 1933 folgte er einem Ruf auf eine Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an die Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Gegensatz zu vielen seiner akademischen Kollegen behielt Exner, der niemals Mitglied der NSDAP gewesen war, seine dortige Professur auch im Zuge der nach dem 8. Mai 1945 stattfindenden „Entnazifizierung“.

Als er 1947 starb, war er einer der wenigen, wenn nicht der einzige namhafte Kriminologe, der unter vier verschiedenen politischen Systemen geforscht und gelehrt hatte – von der österreichischen Donaumonarchie über die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ bis hin zur Zeit der Alliierten Besatzung. Exner war Herausgeber der „Kriminalistischen Abhandlungen“ (1926-1941) und seit 1936 – zusammen mit dem Juristen Rudolf Sieverts sowie den Medizinern Hans Reiter und Hans Bürger-Prinz – Mitherausgeber der „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“ (ab 1937: „Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform“). 1945/46 verteidigte er in den Nürnberger Prozessen zusammen mit Hermann Jahrreis den als Hauptkriegsverbrecher angeklagten Generaloberst Alfred Jodl, Mitglied des Generalstabs und des Oberkommandos der Wehrmacht.

Werk

Überblick

Franz Exners kriminalwissenschaftliches System steht in der Tradition der sog. „modernen Strafrechtsschule“ des Strafrechtsreformers Franz von Liszt[3], dessen Ideen Exner eigenständig fortbildete. Nachdem er sich bei diesem zunächst durch eine grundlegende strafrechtsdogmatischrechtsphilosophische Arbeit über „das Wesen der Fahrlässigkeit“ habilitiert hatte, widmete er sich in der Folgezeit hauptsächlich kriminalpolitischen und kriminologischen Themen.

Exner setzte sich für eine Fortführung der von Franz von Liszt inspirierten Strafrechtsreform ein. Im Gegensatz zu Liszt, der eine „präventive Schutzstrafe“ – und somit ein einspuriges Kriminalstrafsystem – propagierte, schlug Exner jedoch eine Zweispurigkeit des Kriminaljustizsystems vor: Dem System der repressiven Strafen sei ein eigenständiges System von spezialpräventiven „Sicherungsmitteln“ gegenüberzustellen.[4] Insoweit war Exner ein Vordenker des heute geltenden Strafrechts, das auf eben dieser Unterscheidung zwischen „Strafen“ und „Maßnahmen“ (von Exner als „Sicherungsmittel“ bezeichnet) aufbaut.

Neben seinen Abhandlungen und seinen internationalen Aktivitäten war es vor allem sein Lehrbuch (1. und 2. Auflage von 1939/1944: „Kriminalbiologie“; 3. Auflage 1949: „Kriminologie“), das ihm den Tübinger Professoren Karl Peters (Strafrechtler) und Hans Göppinger (Kriminologe) zufolge eine herausgehobene Stellung innerhalb der deutschen Kriminologie sicherte.[5] Die deutschsprachige Kriminologie und Strafrechtswissenschaft rezipierte Exner somit bis in die siebziger Jahre hinein zunächst positiv.

Exner als Kriminalsoziologe

Als Kriminalsoziologe wurde Exner spätestens in der Weimarer Zeit durch seine Abhandlung „Krieg und Kriminalität“ (1926) bekannt, die ihm – obschon von seiner Ausbildung her Jurist – den Ruf als „Germany’s preeminent criminal sociologist“ eintrug.[6] Diesen Ruf festigte er durch seinen im Jahre 1931 verfassten Artikel „Kriminalsoziologie“, der 1936 im zweiten Band des damals maßgeblichen Handwörterbuch der Kriminologie erschien. Exner betonte – zumindest zu Zeiten der Weimarer Republik – die Vorrangigkeit sozialer Ursachen für die Entstehung von Kriminaliät.[7] Inwiefern Exner zu Zeiten des „Dritten Reiches“ von diesem Grundgedanken zugunsten kriminalanthropologischer Vorstellungen abwich, bildet den Kern einer Kontroverse innerhalb der wissenschaftlichen Rezeption seiner Werke, die zur Zeit stattfindet.

Exner fasste den Begriff der „Kriminalsoziologie“ − wie er ihn in seinem Aufsatz Kriminalsoziologie (1931) konzipierte – für die damalige Zeit erstaunlich weit.[8]. Er stellte der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“ eine „Kriminalsoziologie im weiteren Sinne“ gegenüber.

Die „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“ entsprach hierbei dem traditionellen Verständnis der Kriminalsoziologie: Vom Verhalten krimineller Personen ausgehend, sollte sie das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung beschreiben und in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit zu begreifen versuchen.[9]. Diese Herangehensweise entsprach dem damaligen Paradigma einer ätiologischen Kriminologie.

Die „Kriminalsoziologie im weiteren Sinne“ hingegen sollte zusätzlich auch die gesellschaftlichen und staatlichen Bezüge des Phänomens Kriminalität untersuchen. Der „Soziologie der Verbrechensverfolgung“ fiel hierbei die Aufgabe einer empirischen Erforschung des Kriminaljustizssystems und der in ihm tätigen Personen (Richter, Staatsanwälte ...) zu. Darüber hinaus sollte eine „Soziologie der Verbrechensauffassung“ herausarbeiten, wie die „Gesellschaft“ das Verbrechen definiere und auf kriminelle Handlungen reagiere, um diese Betrachtungsweise der staatlichen Herangehensweise wissenschaftlich gegenüberstellen zu können.[10]. Indem Exner der Kriminalsoziologie ein solch weites Forschungsgebiet eröffnete, nahm er wichtige Forderungen der sich erst in den sechziger Jahren formierenden „Kritischen Kriminologie“ und des Labeling Approach vorweg.[11].

Während der Herrschaft des Nationalsozialismus griff Exner auf diese weitreichenden Fragestellungen – die er erstmals zur Zeit der Weimarer Republik formuliert hatte – nicht mehr zurück. Die kriminalsoziologischen Kapitel seines 1939 erschienen Hauptwerkes „Kriminalbiologie“ beschränkten sich auf die ätiologischen Fragestellungen der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“.

Exners methodologischer und rechtsphilosophischer Ansatz

Methodologisch orientierte sich Franz Exner sowohl am Südwestdeutschen Neukantianismus als auch an der neukantianisch beeinflussten Soziologie Max Webers.

Neukantianisch beeinflusst ist insbesondere Exners Insistieren auf einer fundamentalen Sein-Sollen-Dichotomie, derzufolge aus einem „Sein“ niemals ein „Sollen“ abgeleitet werden könne. Diese Grundthese Exners impliziert zugleich eine methodologische Eigenständigkeit der Kriminologie (Wissenschaft von dem, „was ist“) gegenüber der Strafrechtswissenschaft (Wissenschaft von dem, „was sein soll“).[12]. Ausdrücklich berief sich Exner in diesem Zusammenhang auf die Wissenschaftslehre des Neukantianers Heinrich Rickert: Als eine nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten strebende Wissenschaft sei die Kriminologie im Sinne Rickerts eine nomothetische Disziplin[13].

Ausdrücklich knüpfte Exner auch an Max Weber an. Sein Ziel war es, dessen Methode einer „verstehenden Soziologie“ auf die Kriminalsoziologie und -psychologie zu übertragen.[14] Er betrachtete es daher als die wichtigste Aufgabe der Kriminologie, „ein Verbrechen einfühlend zu verstehen“, indem sie den subjektiven Sinn erfasse, den der Täter seinem Verbrechen beigelegt habe.[15]

Die explizite Bezugnahme Exner auf neukantianische Grundthesen war zur Zeit des Nationalsozialismus im deutschsprachigen Raum nahezu singulär[16] : Die Mehrheit der nationalsozialistischen Rechtstheoretiker (explizit insbesondere Hans Welzel, Karl Larenz und Georg Dahm) verwarfen die Philosophie des Neukantianismus mit der Begründung, dass das „Wesen der deutschen Volksgemeinschaft“ (also ihr „Sein“) mit ihrer Ordnung (also einem „Sollen“) verwachsen sei. Eine Trennung zwischen „Sein und Sollen“ war ihrer Ansicht nach daher als „undeutsch“ und künstlich abzulehnen.[17]

Rechtsphilosophisch vertrat Exner einen utilitaristischen Ansatz. Eine seiner Kernthesen ist es, dass Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit grundsätzlich zusammenfallen. Jedoch macht er einen zeitlichen Unterschied zwischen den beiden Begriffen aus: Das, was jetzt als „gerecht“ angesehen werde, sei früher vielleicht einmal als „bloß zweckmäßig“ betrachtet worden. Insofern sei das, was heute als „gerecht“ gelte, das „Zweckmäßige“ von gestern.[18] Sofern das Strafrecht auf moralische Vorstellungen zurückgreife, dürfe es dies ebenfalls niemals aus bloß moralischen Gründen, sondern aus „Zweckmäßigkeitserwägungen“ tun, da ein Strafrecht, das die moralischen Ansichten der Gesellschaft ignoriere, mangels gesellschaftlicher Akzeptanz nicht genügend „zweckmäßig“ sein könne.[19] Insofern konsequent, vertrat Exner eine rein präventionistische (genauer: generalpräventive) Straftheorie und lehnte jeden begrifflichen Zusammenhang zwischen Strafe und Vergeltung ab.[20]Diese straftheoretische Position, für die er spätestens seit 1912 eingetreten war[21], vertrat Exner unbeschadet aller politischen Systemwechsel durchgängig bis zum Ende seines Lebens.[22]

Exners Wirken zur Zeit des Nationalsozialismus

Inwieweit sich Exner mit seinen zur Zeit des Nationalsozialismus publizierten Schriften der nationalsozialistischen Ideologie angenähert bzw. fortwährend von ihr distanziert hat, ist nach wie vor umstritten.

Als in den achtziger Jahren die Auseinandersetzung mit der Rolle der Kriminologie und einzelner Kriminologen im NS-Staat begann, wurde Exner zunächst der Vorwurf gemacht, den Titel seines Lehrbuchs – 1939 (1. Aufl.) und 1944 (2. Aufl.) „Kriminalbiologie“, 1949 (3. Aufl.) sodann „Kriminologie“ – den politischen Großwetterlagen angepasst und die Disziplin der „Kriminologie“ bis zur Beliebigkeit an die jeweiligen Bedürfnisse der Strafrechtspflege angepasst zu haben. Zudem wurde ihm vorgeworfen, seine wissenschaftliche Selbstkritik auf das Weglassen einiger rassistischer Passagen über Juden beschränkt zu haben.[23]. Ein anderes Bild der kriminologischen Publikationen Exners zur Zeit des Nationalsozialismus wird hingegen von Richard Wetzell gezeichnet, dem zufolge Exner stets Wert auf einen neutralen wissenschaftlichen Standpunkt gelegt und wie viele seiner Fachkollegen auch zur Zeit des Nationalsozialismus überwiegend normal science betrieben habe[24].

Einerseits ist in den Jahren nach 1933 ein Schwenk Exners weg von überwiegend kriminalsoziologischen hin zu zumindest auch kriminalanthropologisch-„rassisch“ begründeten Thesen nicht zu übersehen. Sein Buch „Kriminalbiologie“ erschien 1949 unter dem Titel „Kriminologie“ in einer Fassung, die lediglich von den sich mit der „Kriminalität der Juden“ beschäftigenden Aussagen bereinigt, im übrigen jedoch weitgehend identisch zur zweiten Auflage von 1944 war. Im Kapitel „Volkscharakter und Verbrechen“ der Ausgaben von 1939 und 1944 hatte er die „Kriminalität der Juden“ noch auf ihr „unveränderbares Wesen“ zurückgeführt und von einer Verwahrlosung der Zigeunerstämme gesprochen. Aber selbst in der Nachkriegsfassung bezog er sich noch explizit auf die rassistischen Forschungen Robert Ritters – dessen „erbgeschichtliche Untersuchungen“ den Nazis als Rechtfertigung dienten, Roma, Sinti und Jenische als „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ zu verfolgen und zu ermorden.[25] So bezeichnete Exner die Jenischen noch 1949 als „herumirrende Taugenichtse und Vagabunden“, die „in ihrer Asozialität selbst bei Blutsvermischung ihren 'SCHLAG' nicht zu verleugnen“ wüßten.[26].

Exner wird vorgeworfen, im Auftrag des Reichsjustizministeriums zusammen mit Edmund Mezger bei der Planung des sogenannten „Gemeinschaftsfremdengesetzes“, mitgewirkt zu haben, das die bereits laufenden Auslieferungen an die SS (d. h. Einlieferungen in Konzentrationslager) von im Justizvollzug befindlichen Juden, Sinti, Roma, Jenische, Russen, Ukrainer, Polen und auch den nichtjüdischen Deutschen, die zu mehr als acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren, nach dem so genannten Endsieg in Gesetzesform fassen sollte.[27] Durch ihre Reputation wären Mezger und Exner in der Lage gewesen, dieser eugenischen Selektion von Menschen, die durch das „Gemeinschaftsfremdengesetzes“ geregelt worden wäre, die akademisch-juristische Legitimation zu verleihen, wie es der Jurist Francisco Muñoz Conde in seinem Urteil über das „Gemeinschaftsfremdengesetz“ darstellt.[28]

Einer neueren Studie zu dieser Thematik zufolge hat Exner jedoch lediglich eine sehr mittelbare Rolle bei den Vorbereitungen für dieses Gesetz gespielt und zudem die rechtsstaatlich bedenkliche Unbestimmtheit des geplanten Gesetzes kritisiert.[29]Diese Studie stützt sich im Vergleich zu früheren wissenschaftlichen Analysen des Werkes Franz Exners erstmals auf eine Auswertung seines erst im Jahre 2004 entdeckten Nachlasses und insbesondere auf eine in diesem Nachlass enthaltene briefliche Korrespondenz Exners mit dem Reichsjustizministerium. In diesem Briefwechsel – auf den sich die Mitarbeit Exners nach Ansicht der Verfasser dieser Studie im übrigen auch beschränkt habe – kritisierte Exner sowohl die „bezüglich der Unbestimmtheit der Begriffe eröffneten Spielräume für Willkür“ als auch die Höhe der geplanten Sanktionen.

Exners Argumentationsstil blieb auch zu Zeiten des „Dritten Reiches“ überwiegend abwägend und vorsichtig[30], ohne allerdings die kritische Besonnenheit seiner zur Zeit der Weimarer Republik entstandenen Schriften zu erreichen. Er blendete soziologische Fragestellungen zwar nicht aus und war stets darum bemüht, das Phänomen Kriminalität als ein Resultat anlage- und umweltbezogener Ursachen darzustellen.[31] Er betonte zudem, dass selbst die seiner Ansicht nach „anlagebedingten“ Dispositionen zur Begehung von Verbrechen teilweise wiederum umweltbedingt seien – bezogen nämlich auf die Umwelteinflüsse, die für die vorherigen Generationen maßgeblich waren.[32] Daher konnte Edmund Mezger in einer Rezension der ersten Auflage der „Kriminalbiologie“ noch 1939 feststellen, dass Exners Lieblingsdisziplin offenbar die Kriminalsoziologie sei.[33] Andererseits war er schneller als früher bereit, eine Argumentationskette abzubrechen und krimialsoziologische Aspekte zugunsten „rassisch“ begründeter kriminalathropologischer Begründungsmuster zurückzustellen. In seinem Aufsatz „Volkscharakter und Verbrechen“ (1938) führte er die von ihm so bezeichnete „Negerkriminalität“ zu Lasten gesellschaftlicher Ursprünge auf „rassische“ Ursachen zurück, nachdem er noch in den zwanziger Jahren den überragenden Teil der Kriminalitätsentwicklung mit umweltlichen Einflüssen begründet hatte[34].

Der Titel „Kriminalbiologie“, den Exner für sein Hauptwerk gewählt hatte, ist allerdings zumindest insofern irreführend, als Exner keineswegs Kriminalbiologie und Kriminalanthropologie gleichsetzte. Vielmehr fasste er den Begriff „Kriminalbiologie“ weit und verstand darunter die Gesamtheit kriminalsoziologischer, kriminalanthropologischer und kriminalpsychologischer Forschungen, mithin die Disziplin, die heute gemeinhin als Kriminologie bezeichnet wird.[35] Zudem kritisierte er unkritische Bezugnahmen auf das sogenannte „gesunde Volksempfinden“, das er auf eine empirische Grundlage gestellt sehen wollte. Er sprach sich für eine rationale Grundlage der Kriminalpolitik aus und kritisierte die rein „gefühlsmäßigen“ und betont irrationalen Richtungen der nationalsozialistischen Kriminalpolitik, wie sie beispielsweise von Georg Dahm, Friedrich Schaffstein und Roland Freisler vertreten wurden.[36]

Zitate Franz Exners

  • Exner als Kriminalsoziologe, 1926 (aus „Krieg und Kriminalität“, S. 14):

Der Krieg war die denkbar stärkste Bestätigung dafür, welch überwiegenden Einfluß die äußeren Verhältnisse, die ökonomischen Bedingungen, kurz gesagt das Milieu auf die Verbrechensentwicklung hat, denn kriminalistisch betrachtet war der Krieg nichts anderes, als eine rasante Milieuverschiebung mit ebenso riesenhaften kriminellen Folgen. Wir erkennen daraus, daß die beste Kriminalpolitik stets eine gute Sozialpolitik sein wird.

  • Exner als Kriminalanthropologe, 1939 (aus „Volkscharakter und Verbrechen“, S. 412):

Wenn das (Exner hatte zuvor auf angeblich „rassische“ Unterschiede der Bevölkerungen Nord- und Süditaliens verwiesen) richtig ist, erledigen sich damit wohl die früher betonten Beziehungen zum Klima. Es handelt sich eben um biologisch verschiedenartige Menschen mit sozial verschiedenartigem Verhalten.

  • Exner als Antisemit[37], 1944 (aus „Kriminalbiologie“, 2. Aufl., S. 58 f.):

So hat die Straffälligkeit der Juden einige sehr deutliche Wesensmerkmale, und die Frage kann nur sein: Sind sie auf die Rasseeigenheiten des Juden zurückzuführen? Es ist dies von manchen verneint worden [...] . In der Tat stimmt das Gesamtbild der jüdischen Straffälligkeit ganz auffallend mit den Grundzügen des jüdischen Wesens überein. Wie die Juden sich in ihrem sozialen Verhalten mehr mit dem Kopf als mit der Hand betätigen, so ist es auch in ihrem antisozialen Verhalten. [...] Für die Annahme einer rassisch bedingten Kriminalität der Juden spricht auch der Umstand, daß die Juden in anderen Ländern ein ähnliche Straffälligkeit zu zeigen scheinen.

  • Exner als Kritiker Lombrosos, 1944 (aus „Kriminalbiologie“, 2. Aufl., S. 151 f.):

Lombroso und seine Nachfolger sind [...] zur Annahme eines anthropologischen Typus „Verbrecher“ gelangt. – Ein gut Teil dieser Beobachtungen hat einer Nachprüfung nicht standgehalten. [..] Der Begriff des Verbrechens entstammt der Wertwelt des Menschen, sein Inhalt wechselt nach Völkern und Zeiten. Daher ist es schlechthin unmöglich, Allgemeingültiges über den Körperbau „des Verbrechers“ auszusagen. [..] So sagt denn auch v. Rohden, daß „heutzutage so gut wie nichts von Lombrosos Verbrechermorphologie übrig geblieben ist“.“

Literatur

Werke Franz Exners (Auswahl)

  • Das Wesen der Fahrlässigkeit, Leipzig und Wien 1910
  • Theorie der Sicherungsmittel. Berlin 1914
  • Über Gerechtigkeit im Strafmaß, Tübingen 1920
  • Krieg und Kriminalität, Leipzig 1926
  • Krieg und Kriminalität in Österreich, Wien 1927
  • Mord und Todesstrafe in Sachsen 1855-1927, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 20 (1929), S. 1-17
  • Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, Leipzig 1931
  • Das System der sichernden und bessernden Maßnahmen nach dem Gesetz vom 24. November 1933, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 53 (1934), S. 629-655
  • Kriminalistischer Bericht über eine Reise nach Amerika, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 54 (1935), S. 345-393 und S. 511-543
  • Kriminalsoziologie, in: Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. von A. Elster und H. Lingemann, Band 2, Berlin und Leipzig 1936, S. 10-26
  • Volkscharakter und Verbrechen, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 29 (1939), S. 404-421
  • Kriminalbiologie. Hamburg 1939 (2. Aufl. 1944; 3. Auflage: Kriminologie. Berlin 1949)
  • Strafverfahrensrecht, Berlin und Heidelberg 1947

Sekundärliteratur

  • Karl Peters, Franz Exner. in: Ferdinand Elsener (Hrsg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 153-164.
  • Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl., Göttingen 1965.
  • Richard F. Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880-1945. Chapel Hill and London 2000
  • Sebastian Scheerer, Doris Lorenz, Zum 125. Geburtstag von Franz Exner (1881-1947), in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 436-454

Einzelnachweise

  1. Irmgard Smidt (Hrsg.): Aus Gottfried Kellers glücklicher Zeit: Der Dichter im Briefwechsel mit Marie Exner und Adolf Exner. Stäfa, Gut 1981 Berlin
  2. vgl. zu dieser und allen weiteren biographischen Details: Sebastian Scheerer und Doris Lorenz, Zum 125. Geburtstag von Franz Exner, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 436-454
  3. bezüglich der Einordnung Exners als „Liszt-Schüler“ vgl. Monika Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion – Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften, Berlin 1987, insbesondere S. 25-31 und S. 83
  4. vgl. hierzu Franz Exner, Die Theorie der Sicherungsmittel, Berlin 1914
  5. Hans Göppinger, Kriminologie, 3. Aufl., München, S. 24; Karl Peters, Franz Exner, 1881 - 1947, in: Ferdinand Elsener (Hg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 153-164, S. 163.
  6. Richard Wetzell, Inventing the Criminal, A history of German Criminology 1880-1945, Chapel Hill und London 2000, S. 116
  7. explizit in diesem Sinne Franz Exner, Krieg und Kriminalität, Leipzig 1926, S. 14: „Der Krieg war die denkbar stärkste Bestätigung dafür, welch überwiegenden Einfluß (...) das Milieu auf die Verbrechensentwicklung hat (...).“
  8. Richard Wetzell, Inventing the Criminal, Chapel Hill und London 2000, S. 116: „A remarkably broad conception“.
  9. Franz Exner, Kriminalsoziologie, in: Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. von A. Elster und H. Lingemann, Band 2, Berlin und Leipzig 1936, S. 10-26, S. 10 f.
  10. Exner, a.a.O.
  11. vgl. hierzu auch Richard Wetzell Inventing the Criminal – A History of German Criminology, 1880-1945, Chapel Hill und London 2000, S. 116
  12. vgl. z.B. Franz Exner: Kriminalbiologie, 2. Aufl., Hamburg 1944, S. 11
  13. Exner, a.a.O.
  14. Franz Exner, Kriminalsoziologie, in: Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. von A. Elster und H. Lingemann, Band 2, Berlin und Leipzig 1936, S. 10-26, S. 26
  15. Franz Exner: Kriminalbiologie, 2. Aufl., Hamburg 1944, S. 16 f
  16. Hans Kelsen, dessen „Reine Rechtslehre“ auf der Philosophie des Neukantianismus aufbaut, emigrierte in die USA. Gustav Radbruch, der ebenfalls eine neukantianische Rechtsphilosophie vertrat, hatte seinen Lehrstuhl bereits 1933 aus politischen Gründen verloren und befasste sich zwischen 1933 und 1945 offiziell nur noch mit politisch unverfänglichen Themen.
  17. vgl. Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, Tübingen 1934; Hans Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, Mannheim-Berlin-Leipzig 1935, insbesondere S. 41 ff.; Georg Dahm, Verbrechen und Tatbestand, in: Karl Larenz (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935, S. 62-107
  18. vgl. Franz Exner: Über Gerechtigkeit im Strafmaß, Tübingen 1920
  19. vgl. Franz Exner: Strafrecht und Moral, in: 44. Jahrbuch der Gefängnisgesellschaft der Provinz Sachsen und Anhalt, 1928, S. 29
  20. Franz Exner, Die Theorie der Sicherungsmittel, Berlin 1914, S. 25 ff
  21. vgl. hierzu Exners Aufsatz Was ist Kriminalpolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Strafrecht 1912, S. 275-282
  22. letztmalig explizit in diesem Sinne Exner, Sinnwandel in der neuesten Entwicklung der Strafe, in: Festschrift für Eduard Kohlrausch, 1944, S. 24-43
  23. Paradigmatisch für diese Betrachtungsweise ist der Aufsatz von Marlies Dürkop, Zur Funktion der Kriminologie im Nationalsozialismus, in: U. Reifner u. B.R. Sonnen (Hg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich, Frankfurt a.M. u. New York 1984, S. 97-120
  24. Richard Wetzell, Inventing the Criminal – A History of German Criminology, 1880-1945, Chapel Hill und London 2000, S. 220,221
  25. Berbüsse, Volker (1992): Das Bild „der Zigeuner“ in deutschsprachigen kriminologischen Lehrbüchern seit 1949. Eine erste Bestandsaufnahme, in: Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 1, Frankfurt./M, S. 117 - 151
  26. Franz Exner, Kriminologie, 3. Aufl., Berlin-Göttingen-Heidelberg 1949, S. 115
  27. Kai Naumann, Strafvollzug im Dritten Reich und danach
  28. Francisco Muñoz-Conde, Edmund Mezger und das Strafrecht seiner Zeit
  29. Doris Lorenz, Sebastian Scheerer, Der Kriminologe Franz Exner (1881-1947). Eine biographische Skizze , 2007 (im Erscheinen);vgl. bereits jetzt: Sebastian Scheerer und Doris Lorenz, Zum 125. Geburtstag von Franz Exner, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 436-455, S. 449
  30. so lautet - zusammengefasst - die Einschätzung Richard Wetzells. Vgl. Richard Wetzell, Inventing the Criminal, Chapel Hill und London 2000, S. 213-219
  31. vgl. statt vieler Belege: Franz Exner, Kriminalbiologie, 2. Aufl., Hamburg 1944, S. 32-39
  32. vgl. statt vieler Exner, a.a.O.
  33. Edmund Mezger, Kriminalbiologie (Rezension), in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (1940), S. 29-30
  34. Franz Exner, Volkscharakter und Verbrechen, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 29 (1939), S. 404-421
  35. Franz Exner: Kriminalbiologie, 2. Aufl., Hamburg 1944, S. 20
  36. Franz Exner, Die Aufgaben der Kriminologie im „neuen Reich“, in: Monatschrift für Kriminalpschychologie und Strafrechtsreform 27 (1936), S. 1 ff.
  37. In der dritten Auflage seines Hauptwerkes, die posthum 1949 erschien, hatte Exner diese Passagen kommentarlos entfernt. Eine Erklärung hierfür wurde von der kriminologiehistorischen Forschung bislang noch nicht erbracht.

Vorlage:Lesenswert Kandidat