Drang nach Osten ist ein politisches Schlagwort, dessen Herkunft nicht geklärt ist. Der Begriff begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle zu spielen, und zwar im Umfeld einer intellektuellen Diskussion um die außenpolitische Zielrichtung deutscher Politik. Im 20. Jahrhundert war er vor allem in der polnischen und sowjetischen Geschichtsschreibung zur Umschreibung des „deutschen Expansionsdrangs“ von Bedeutung. In Deutschland ist er wenig bekannt.
Geschichte des Begriffs
Programmatische Gestalt nimmt der Begriff bei der Gründung des Alldeutschen Verbandes 1891 an, als es im Verbandsorgan gleich heißt: „Der alte Drang nach dem Osten soll wiederbelebt werden.“[1] 1886 hatte einer der alldeutschen Wortführer, Paul de Lagarde, propagiert: „Wir brauchen Land vor unserer Tür, im Bereich des Groschenportos. Will Rußland nicht, so zwingt es uns zu einem Enteignungsverfahren, das heißt zum Kriege, zu dem wir so von alters her jetzt nicht vollständig aufzuzählende Gründe auf Lager halten. (...) neun Zehntel aller Deutschen lebt dann auf einer eigenen Hufe, wie seine Ahnen es taten (...).“ [2] Der Schriftsteller Gustav Freytag hatte um die Jahrhundertmitte schon dazu aufgerufen, dass Deutsche in polnischem Gebiet siedeln sollten, wie sie es als Squatter im amerikanischen Indianerland taten. Das geschah im Zusammenhang der europäischen imperialistischen Diskussion, an der sich vorläufig nur Intellektuelle, nicht aber die Politik des erst 1871 gegründeten deutschen Nationalstaats beteiligten. Mangels imperialistischer Politik wurde die mittelalterliche Ostsiedlung, die ohne politische Vorgaben durch das Reich selbstläufig vonstatten gegangen war, zur „Ostkolonisation“ aufgewertet. Ziel war, den millionenstark gewordenen Auswandererstrom nach Amerika in die kontinentale Gegenrichtung, nämlich das angrenzende Osteuropa umzulenken und damit in deutscher Nachbarschaft zu halten. Das war bereits das vergebliche Bestreben des amerikaerfahrenen Nationalökonomen Friedrich List (1789-1846), der sich in preußischem Auftrag um deutsche Ansiedlung in den polnischen Grenzgebieten bemühte. Ein maßgeblicher Teil dieser Diskussion spielte sich im 1859 entstandenen und sich bis weit ins 20. Jahrhundert erstreckenden Sybel-Ficker-Streit ab. Friedrich Ratzel gab 1898 mit seinem „Lebensraum“-Konzept dieser geopolitischen Forderung Rückhalt, indem er die Diskussion um kontinentale „Grenzkolonisation“ als Alternative zur transatlantischen Kolonisation aufnahm, damit die Auswandererströme in Europa blieben. Diese Argumentation sollte später als ideologische Grundlage für die gegen osteuropäische Völker gerichtete Eroberungs- und Völkermordpolitik der Nationalsozialisten dienen.
Der Begriff wurde in der Folgezeit von russischen und polnischen Nationalisten aufgegriffen. Einen ersten Beleg für das Schlagwort gibt es bereits in einem Beitrag des polnischen Journalisten Julian Klaczko von 1849. Später verbreitete sich der Begriff in Russland, ausgehend von einem Leserbrief an die Moskauer Zeitung Moskowskije Wedomosti im Jahre 1865. So etablierte sich der Begriff „Drang nach Osten“ bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der nationalistischen Propaganda der panslawistischen Bewegung. Von hier aus fand das Schlagwort ab den 1870er und 1880er Jahren auch Eingang in die französische Presse sowie zunehmend in die Geschichtsschreibung. In Deutschland war der Begriff, trotz seiner Verwendung im Gründungsaufruf des Alldeutschen Verbandes, kaum bekannt.[3]
Das polnische und russische Konzept vom „deutschen Drang nach Osten“ schließt historisch weit auseinanderliegende und unterschiedliche Vorgänge ein: von der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, die im Ostseeraum von der Ausbreitung der Hanse und den Eroberungen des Deutschen Ordens begleitet war, über die Polnischen Teilungen und die Germanisierungspolitik in Preußen im 19. Jahrhundert bis hin zur Ausrottungspolitik des Nationalsozialismus in Osteuropa.
Während des Ersten Weltkrieg waren es z. B. Tomáš Garrigue Masaryk und Roman Dmowski, die vom „deutschen Drang nach Osten“ sprachen, um bei den Westmächten für die Unabhängigkeit ihrer Länder zu streiten. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion war es diese, welche das Schlagwort zunehmend in ihrer Propaganda verwendete. Bis heute ist er Teil der Geschichtsschreibung der osteuropäischen Länder, während er in Deutschland kaum bekannt ist und in deutschen Enzyklopädien nach wie vor völlig fehlt.
Siehe auch
Literatur
- Wippermann, Wolfgang: Der ›deutsche Drang nach Osten‹. Ideologie und Wirklichkeit eines. politischen Schlagworts. Darmstadt 1981
- Meyer, Henry Cord: Der ›Drang nach Osten‹ in den Jahren 1860-1914. In: Die Welt als Geschichte 17 (1957), pp. 1-8.
- Hasso von Zitzewitz, Das deutsche Polenbild in der Geschichte. Entstehung, Einflüsse, Auswirkungen, Köln-Weimar-Wien 1992.