Kulturmaterialismus

Theorie, welche Kultur auf ihre materiellen Voraussetzungen zurückführt
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 5. April 2007 um 13:41 Uhr durch 141.35.9.216 (Diskussion). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Kulturmaterialismus ist eine von Marvin Harris begründete kulturanthropologische Theorie, welche Kultur auf ihre materiellen Voraussetzungen zurückführt, also auf Geographie, Klima, Umweltbedingungen (z.B. Wasser- und Nahrungsressourcen). Kulturen sind demnach Systeme, die sich an gegebene Umweltbedingungen anpassen und ausgehend von Ökologie und Geographie zu erklären sind (im Gegensatz zum Strukturalismus, der laut Harris Kultur redundant durch Kultur erklärt). Das dieser Theorie zu Grunde liegende Prinzip des infrastrukturellen Determinismus besagt, dass die Umweltbedingungen bzw. die natürlichen Ressourcen die ökonomischen Bedingungen und das Bevölkerungswachstum bzw. die Reproduktionsmöglichkeiten von Kultur und Gesellschaft determinieren. In Anlehnung daran unterscheidet Harris

  • Infrastruktur – Produktion und Reproduktion (Biozönose, Technologie, Demographie) in Interaktion mit der Umwelt und elementar für die Entwicklung und Ausprägung von Struktur und Superstruktur
  • Struktur – Verwandtschaft, Politik, Religion, Krieg, wirtschaftliche Organisation und
  • Superstruktur – Verhalten und Denken, die wiederum auf Infrastruktur und Struktur zurückwirken

Kultur (Struktur) resultiert also aus dem Anpassungsdruck an die ökologischen Rahmenbedingungen. Anhand dieses Musters versucht Harris den Aufstieg und Niedergang von Kulturen zu erklären. Er hofft, mittels dieser Methode Erkenntnis in Bezug auf die Herkunft, Beibehaltung und Veränderung von soziokulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu gewinnen. Darüber hinaus setzt er sich zum Ziel, Wissenschaft nicht allein als Ansammlung von Wissen zu betreiben, sondern auch anwendungsbezogene Erkenntnisse zu ermöglichen. Dies soll durch einen Zugriff auf Struktur und Superstruktur geschehen, um eine Verbesserung von Gesellschaften und nicht zuletzt einen bewussteren und nachhaltigeren Umgang mit der Infrastruktur zu erreichen.

Aufstieg und Untergang der Kulturen aus kulturmaterialistischer Perspektive

Laut Harris und auch Jared Diamond ist die Entwicklung und somit auch das Scheitern von einstigen Gesellschaften auf ein Ungleichgewicht zwischen natürlichen Ressourcen, ökonomischer Produktion und demographischer Entwicklung zurückzuführen – eine ökonomische Produktion, die nicht den natürlichen Ressourcen angemessen ist (z.B. Überweidung oder Raubbau), führt zur Überbeanspruchung und Erschöpfung ebendieser Ressourcen und in Folge zum Zusammenbruch der Wirtschaft (welche sich selbst ihre ökologische Basis entzog). Dadurch kommt es zu einer negativen demographischen Entwicklung (Hungersnöte, Abwanderung, etc.), was die kulturtragende Gesellschaft/ die Kultur selbst der existenziellen Grundlage enthebt.

Eine Gesellschaft kann jedoch durch Normen und Sanktionen oder auch durch technologische Innovationen diese Entwicklung verlangsamen/ mildern. So ist nach Harris der Wechsel vom Wildbeutertum zur Landwirtschaft zu erklären: das vergleichsweise bequeme Wildbeutertum erlaubt nur geringe Bevölkerungsdichten oder führt bei großen Bevölkerungsgruppen zur Überbeanspruchung des Wildbestands (Bsp.: Aussterben des Mammuts). Die Landwirtschaft hingegen ermöglicht größere Bevölkerungsdichten und Gesamtpopulationen, erfordert jedoch eine gänzliche andere Organisation der Gesellschaft als ein Gemeinwesen von Jägern & Sammlern, also einen Kulturwandel. Doch auch Landwirtschaft und Nutztierhaltung kennen Wachstumsgrenzen – das Überschreiten dieser Grenzen (Erosion, Versalzung, Totalverlust landwirtschaftlicher Nutzflächen durch Überbeanspruchung) war nach Harris ausschlaggebend für den Untergang der antiken Hochkulturen des Orients und Mittelmeerraums sowie des Maya-Reichs.

Ähnliche Argumentationen

Ähnlich argumentiert Dennis L. Meadows im 1972 erschienenen Buch Die Grenzen des Wachstums, welches zahlreiche Neuauflagen und Überarbeitungen erfuhr. Von den ökologischen Rahmenbedingungen ausgehend handlungs- und anwendungsbezogene Vorschläge zu unterbreiten, ist der Ansatz des Millennium Ecosystem Assessment der Vereinten Nationen, in dem z.B. von Niederschlägen oder der Fruchtbarkeit des Bodens als Ecosystem Services ("Naturdienstleistung") die Rede ist.

Literatur

  • Marvin Harris: Cultural Materialism, New York 1979.
  • Marvin Harris: Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt 1989.
  • Marvin Harris: Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen, Stuttgart 1990.
  • Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften., Frankfurt am Main 2000.
  • Sven Papcke, Georg W. Oesterdiekhoff (Hg.): Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001, S.205ff.