Literatur
Definition
--Olaf Simons 17:55, 24. Okt 2004 (CEST)
Jeder Versuch, eine Definition des Wortes "Literatur" zu geben, ist riskant. Das liegt nicht daran, daß es besonders schwierig wäre, dem Wort eine Bedeutung zu geben - das zu tun, daran wird jeder einzelne im Schulunterricht herangeführt. Das Problem ist viel mehr, daß die Literatur seit dem 19. Jahrhundert in den einzelnen Nationen neue Bedeutung gewann, zum Gegenstand des Unterrichts wurde, zum Feld breiten kulturellen Lebens und essentieller gesellschaftlicher Debatten. Wer seit 1850 Literatur definiert, versucht festzulegen, welche Texte in der Gesellschaft welche Bedeutung und welchen Gebrauch finden sollen. Seine Definition ist entweder nichtssagend und uninteressant oder aber provokant, und dann ist unverzüglich darüber zu diskuteren, welche Texte er mit seiner Diskussion ausschließen will, und welche Bedeutungen er den bisher hochgeschätzten Werken abspricht, welche Texte er stattdessen zu Literatur machen will, und welche Ziele er dabei verfolgt.
Definitionen des Wortes Literatur sind entweder arbiträr-zirkuulär oder historisch deskriptiv
Im arbiträr-zirkulären Definitionsverfahren scheint die Literatur gegeben, man muß sie nur noch untersuchen, um sagen zu können, was ihre tieferen Qualitäten sind. Das Verfahren scheint wissenschaftlich fundiert: Homer, Shakespeare, Goethe schrieben große literarische Werke, wissenschaftlich muß sich ermessen lassen, weshalb diese Werke uns noch immer beschäftigen – welche tieferen Qualitäten, welche sprachliche Kunst, welche nicht auslotbaren Fragestellungen sie beherrschen. Das Verfahren bleibt gleichwohl arbiträr: wir sind es, die die Werke als literarische zusammenstellen. Im Zirkelschluß entscheiden unsere Ansprüche an Literatur über die Qualitäten, die wir in ihr entdecken. Literatur ist in den gängigen arbiträr zirkulären Definitionen seit der Antike der Bereich künstlerisch wertvoller Texte, das Feld poetischer, "dichter" Texte, das Corpus der Texte, die über die Zeiten hinweg wegen Fragen stellen.
Auf einem anderen Blatt steht, daß Epen, Dramen, Romane und Gedichte – von uns heute als Literatur untersucht – bis weit in das 18. Jahrhundert hinein nicht "Literatur" waren und auch unter keinen anderen Wort zusammenhingen (oft wird behauptet "Poesie" sei das Wort des 17. und 18. Jahrhunderts für die Literatur gewesen, das ist falsch – Kernbereiche der Poesie, wie die Oper wurden nicht Literatur, Kernbereiche der Literatur, wie der Roman waren auf der anderen Seite vor 1750 nicht Poesie). Das was wir von heute aus als Barockliteratur untersuchen, um zu verstehen, was im Barock Literatur war, ist streng genommen ein Textfeld, das Literatur gewesen wäre, wenn man im 17. Jahrhundert unseren auf das Barock hin konzipierten Literaturbegriff gehabt hätte. Man liest zuweilen etymologische Herleitungen des Wortes Literatur, die beweisen sollen, daß letzten Endes schon immer zusammenhing, was wir als Literatur untersuchen. Tatsächlich hätte man im frühen 18. Jahrhundert über unsere Etymologien und die behaupteten Zusammenhänge den Kopf geschüttelt. "Literatur" war vor 1750 der Bereich der akademischen Gelehrsamkeit - nicht einmal in erster Linie ein Feld von Texten, und das wußte man durchaus mit Wortetymologien zu fundieren, die nicht minder bis in die Antike hinabreichten.
Die historisch-deskriptiven Wortdefinitionen stellen sich der Frage, was welche Personen und Gruppen wann verbaliter als "Literatur" bezeichneten. Literatur ist unter dieser Betrachtung immer das, was in einer bestimmten Zeit gerade mit dem Wort belegt wird. Hier wird keine Einstimmigkeit festzustellen sein. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es einen breiten Streit darüber, was das Wort "Literatur" bedeuten soll. In diesem Streit werden Dramen, Romane und Gedichte zu Literartur, Materialien, die bislang gerade nicht Literatur waren. Der Bereich, der vor 1750 Literatur war, wird im selben Prozeß zum Bereich der wissenschaftlichen Fachliteratur, und damit der öffentlichen Debatte entzogen.
Vom Wort für die Wissenschaften zum Wort für poetische und fiktionale Texte
Die Geschichte des Wortes Literatur läßt sich mit der obigen Grafik anschaulich machen. Sie erfaßt zwischen den beiden roten Linien die kontinuierlich geführte Literaturdebatte. Anfänglich wurden in den Journalen, die dies Literatur rezensierten, und in den Literaturgeschichten fast ausschließlich wissenschaftliche Publikationen besprochen. Mitte des 18. Jahrhunderts gewinnt ein neues Feld große Bedeutung: das Feld der "schönen Literatur", französisch der "belles lettres", englisch der "polite literature". Innerhalb dieses seit Mitte des 17. Jahrhunderts formulierten Feldes gewinnen dann ab 1730 "nationale Werke der Poesiegeschichte" den zentralen Stellenwert: Dramen und Gedichte. In den 1760ern wird der Roman Teil der Poesie, Ende des 18. Jahrhunderts diskutieren literarische Journale und Literaturgeschichten dann fast ausnahmslos Literatur unserem heutigen Wortsinn: Dramen, Romane und Gedichte. Anfang des 19. Jahrhunderts muß das Wort "Literatur" dem angepaßt und neu definiert werden: Noch immer heißt es, die Literatur sei der Bereich der Gelehrsamkeit, tatsächlich aber meint man poetische und fiktionale Texte, wo immer man Literatur diskutiert. Die Lösung des Dilemmas ist die Einfürung des "weiten Literaturbergriffs": Literatur sei angeblich der Bereich der textlichen Überlieferung. Im "engeren Sinne" meine das Wort jedoch von nun an die vieldiskutierten "wertvollen" Texte: die "literarischen Kunstwerke", wie sie Homer, Shakespeare und Goethe hervorbrachten.
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Literatur zum Literaturbergiff
Arbiträre Definitionen
René Wellek, „What Is Literature?“, in: What Is Literature?, ed. P. Hernadi (London, 1978), p.16-23. Cf. auch Welleks Eintrag „Literature and its Cognates“, in: Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, 1-4, ed. Philip P. Wiener (New York, 1973), 3: p.81-89.
Wolf-Dieter Lange, "Form und Bewußtsein. Zu Genese und Wandlung des literarischen Ausdrucks", in: Meyers kleines Lexikon Literatur (Mannheim, 1986)
Historische Definitionen
Roland Barthes, "Histoire ou Litérature?" in R. Barthes, Sur Racine (Paris, 1963), p.155, erstveröffentlicht in Annales, 3 (1960).
Jürgen Fohrmann, Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich (Stuttgart, 1989).
Rainer Rosenberg, "Eine verworrene Geschichte. Vorüberlegungen zu einer Biographie des Literaturbegriffs", Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 77 (1990), 36-65.
Richard Terry, "The Eighteenth-Century Invention of English Literature. A Truism Revisited", Journal for Eigtheenth Century Studies, 19.1 (1996).
Olaf Simons, Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde (Amsterdam, 2001).
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Literaturgeschichte
--Olaf Simons 17:55, 24. Okt 2004 (CEST)
Noch in das 17. Jahrhundert hinein finden sich Versuche von Büchern, die das gesamte Wissen, die komplette Literatur, selbst in sich bergen. Diese Projekte scheitern jedoch als unübersichtliche, antiquierte und im schlimmsten Fall scholastisch systematisierende, die keinem Benutzer den leichten Zugriff auf die Information getatten, es sei denn er läßt sich darauf ein die Welt wie der Autor zu ordnen und zu untergliedern. Was das Angebot des Wissens anbetrifft, beginnt mit dem 17. Jahrhundert der Siegeszug des Lexikons in einer Konkurrenz zwischen Fach- und Universallexika.
Die Literaturgeschichtsschreibung gewinnt nun, da man nicht mehr versuchen kann, alles Wissen, alle Literatur, selbst anzubieten, in zwei anderen Genres an Bedeutung: In Werken der Historia Literaria und in den literarischen Journalen. Beide Formen der Literaturgeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts sind nahezu ausschließlich auf wissenschaftliche Fachliteratur ausgerichtet. Erst in der ersten Hälfte des 18 Jahrhunderts öffnen sie sich dem Material, das dann in den nächsten Jahrzehnten Literatur wird: Dramen, Gedichten und Romanen. Das hat verschiedene Gründe: Erstens entwickelte sich auf dem Buchmarkt mit den "belles lettres" im 17. Jahrhundert ein neues Feld zu beobachtender Textproduktion, zweitens suchte man insbesondere im deutschsprachigen Raum ab den 1730ern einen nationalen Besprechungsgegenstand - als dieser bot sich die "Poesie" der Nation an. Drittens entwickelten auf dem Weg ins 19. Jahrhundert die Nationalstaaten am neuen Debatttengegenstand ein großes Interesse: die Nationalliteraturen wurden nun formiert und Gegenstand des nationalen Kulturlebens.
Der Siegeszug der Belles Lettres, 1600-1750
Der Buchmarkt untergliederte sich bald nach Erfindung des Drucks in zwei Bereiche, die eine Grauzone voneinander trennte: Oben stand die Literatur, das wissenschaftlichen Schrifttum für die "Literati", die Gelehrten, unten entwicklete sich ein breiter Markt an theologischer Gebrauchsliteratur, Gebetsbücher, Heiligenleben. Hinzu kamen auf dem niedrigen Markt populäre Historien, "Zeitungen" (einzelnen Blättern mit aufsehenerregenden Nachrichten).
Mit dem 17. Jahrhundert entstand ein dritter Markt: Er zeichnete sich sowohl durch Unterhaltsamkeit wie durch Geschmack und Anspruch aus – optisch unterschieden sich seine Publikationen grundlegend vom nedrigen Markt für die "Iliterati": Hier gab es feine Kupferstiche statt billiger Holzschnitte, erlesen übersetzte Texte aus dem Spanischen und Französischen, elegante Sprache aufgeboten in Romanen, Memoires, Reiseberichten, Journalen. Man las Cervantes Don Quixote auf diesem Markt, las die aktuellen französischen Autorinnen, die politischen Klatsch vebreiteten. Durchaus war dies keine niedere Ware, das Publikum war aristorkratisch, bürgerlich-städtisch, umfaßte zu einem großen Teil Frauen. Und Gelehrte lasen eben diese Bücher; gleichzeitig konnte der neue Markt nicht zur Gelehrsamkeit gerechnet werden: In universitären Vorlesungen in den traditionellen Fächern Theologie, Jurisprudenz und Medizin hatten diese Titel nichts zu suchen. Werbewirksam stand für die neue Produktion das Label "belles lettres", englisch: "polite literature", deutsch: "galante Wissenschafften" (ab Mitte des 18. Jahrhunderts: "schöne Literatur"). Das beanspruchte zum einen Reputation wie die hohe Literatur, zu der hier ein "schönes" Feld kam, es setzte sich zum anderen vom niederen Markt ab – und es sicherte langfristig, daß die neue Ware von literarischen Journalen besprochen wurde.
Die wissenschaftlichen Blätter standen dem neuen Markt zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit Vorsicht gegenüber. Ihre Aufgabe war die Rezension der wissenschaftlichen Fachliteratur, gleichzeitig war der Journalmarkt seit den 1670ern jedoch explosionsartig gewachsen. Studenten konsumierten die einschlägigen Organe und fanden hier die Fachliteratur besprochen und handlich zitierfertig zusammengefaßt. Sammelte man die Nummern eines literarischen Journals, erhielt man am Jahresende ein Register und konnte sein Journal dann als Lexikon benutzen und seine fachlichen Arbeiten unter Hinzuziehung seines Journals mit Fußnoten ausstaffieren. Dutzende von Titeln konkurrierten zu Beginn des 18. Jahrhunderts um die Leserschaft - europäische wie das Journal de Scavans und nationalsprachliche wie die Deutschen Acta Eruditorum. Ihre Herausgeber steigerten den Absatz, wenn sie unter zehn Rezensionen einer Nummer ein oder zwei aus dem Feld der "belles lettres" einfügten. Man entschuldigte sich dafür, das Gebiet der Literatur im eigentlichen Sinne jetzt für eine einzlene Rezension zu verlassen, doch könnten Fénelons Telemach oder die skandalöse Atalantis der Madame Manley auch das Interesse der Gelehrten Welt für sich beaspruchen. Politische Enthüllungsbücher mußten besprochen sein, schöne Dichtungen konnten besprochen werden, um zum Abschluß noch etwas für alle Leser des Journals zu bieten, die Geschmack an solchen Dingen hätten.
Der neue Besprechungsgegenstand gewann jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Gewicht mit der Gründung von Journalen, die wie Lessings Briefe die neueste Literatur betreffend den Focus zur Gänze auf die neue Materie legten, und dabei Poesie bevorzugt besprachen.
Die Poesie wird Gegenstand der Literaturbesprechung, 1720-1830
Die "Belles Lettres" leben im Deutschen in der "Belletristik" fort und bewahren dabei wesentliche Merkmale. Nach wie vor gibt es sie nur in einem internationalen Singular: Wir können zwar von den "Literaturen" der Nationen sprechen, nicht aber von Belletristiken. Nach wie vor gibt es in ihnen weder eine Gattungs noch eine Qualitätsdiskussion – man unterrichtet an Universitäten "Literatur" und nicht "Belletristik", es gibt "Literaturpäpste", keine solchen aber der Belletristik. Diese ist wie im frühen 18. Jahrhundert noch immer ein einziger internationaler Markt, seinerzeit vom französischen Geschmack bestimmt, der Ort der Romane, Gedichte, Memoires, Reiseberichte, populäreren Wiseenschaft und eleganteren Textproduktion – heute noch immer vornehmlich aktuell (wir schreiben Literaturgeschichte, nicht Beletristikgeschichte), selbst wenn Klassiker der Literatur selbstverständlich zur Belletristik gehören.
Unsere heutige Vorstellung von Literatur entstand als nach 1720 die nationale Poesie in das Zentrum gelehrter Debatten rückte. Sie wurde dabei grundlegend neu definiert.
Poesie war im 17. wie im 18. Jahrhundert der Bereich der gebundenen Sprache. Die Gelehrsamkeit versuchte, Aristoteles und seine Poetik dem Markt aufzubürden, der Markt jedoch hatte eine andere Entwicklung genommen. Im 17. Jahrundert war die Oper in ihren Produktionen des italienischen und des französischen Stils das wichtigste feld der Poesie geworden. Lyrik wurde primär verfaßt, um vertont zu werden. Seitenbereiche waren die Panegyrik (Huldgedichte für Herrscher) und die Gebrauchslyrik (Gedichte, die zu Beerdigungen, Hochzeiten und Jubiläen in Auftrag gegeben wurden und gedruckt die Feierlichkeit überlebten). Auf dem Bereich dramatischer Produktionen gab es im Deutschen noch die Schuldramen, aufgeführt an Gymnasien - sie avancierten im 19. Jahrhundert zu den "Dramen des Barock", nachdem man die Oper aus der Poesie ausgeschlossen hatte, und das 17. Jahrhundert plötzlich ohne eigene deutsche dramatische Produktion dastand.
Das frühe 18. Jahrhundert notierte am ehesten eine Krise der Poesie: Panegyrik und Gelegenheitsdichtungen waren lieblose Massenware und eitle Auftragsproduktion geworden. Die sich der Vertonung anbietenden Gedichte der "galanten" Autoren, kamen ohne Anspruch auf tiefere Moral auf den Markt. Die Oper florierte und belieferte die noch heute berühmten Komponisten von Händel bis Vivaldi mit Texten, jedoch war das Leben um die höfischen und städtischen Opernhäuser bürgerlicheren und religiösen Kritikern ein Dorn im Auge. Die 1720er und 1730er erlebten eine neue Bewegung gegen die Opern. Nicht länger wurde eine Stillegung der Opernhäuser gefordert – gefordert wurde stattdessen ein neues, sich auf Aristoteles besinnendes Drama. Gottsched, der als Professor für Poesie in Leipzig die Front übernahm, stellte das zu schreibende Drama nicht gegen die machtfolle Oper auf, sondern gegen das Drama der Wandertruppen, die eine weit geringere Bedeutung hatten und über keine eigene Presse verfügten. Mit Musterdramen und, was Gottsched anbetraf, mit der Veröffentlichung der Critischen Dichtkunst forderte die neue gelehrtete Kritik ein Drama, in dem die Musik keine tragende Rolle mehr spielte.
Die Oper mocht als Gattung der Musik fortleben, die Poesie im neuen Wortsinn arrangierte sich um ein neu zu schaffendes Drama und in einem nationalen Wettbewerb um dieses. Es entstanden Stücke, die keine Chance gehabt hätten auf dem Markt des frühen 18. Jahrhunderts zu bestehen, Stücke, die weitgegehend unaufführbar blieben. Sie überlebten und verkauften sich Mitte des 18. Jahrhunderts dessen ungeachtet über die Literaturdiskussion, die die Reformbewegung wohlwollend verfolgte – zuerst in Seitenblicken auf das Literatur-ferne Feld der Poesie und dann ab den 1760ern in ganz offener Ausrichtung auf das neue Gebiet innerhalb der "schönen Literatur". Diskussionen um die Moral in der Gesellschaft konnten sich an den neuen Stücken entzünden, Diskussionen um die Leistung der eigenen Nation gegenüber den anderen, waren hier viel freimütiger zu führen als auf dem gebiet der Wissenschaften, das von internationaler Kollegialität lebte.
Gefördert durch das Besprechungswesen, ausgerichtet auf gesellschaftsweit geführte Debatten entstand eine neue Poesie, die für sich beanspruchen konnte die "schöne Literatur" zu sein. Die Entwickung hätte nicht in den 1760ern das Gewicht gewonnen, mit dem sie bald eine Neudefinition des Wortes erforderte, wäre nicht ein Jahrzehnt zuvor der Roman in das Feld der poetischen Gattungen aufgenommen worden. Romane waren bis in das 18. Jahrhundert hinein noch fiktionale Historien – weder Literatur noch Poesie, da weder gelehrt noch in gebundener Sprache verfaßt. Für die Generation Gottscheds wäre es undenkbar gewesen, Romane neben den neuen Dramen zuzulassen, man war gerade um eine Reinigung der Poesie bemüht, der Roman hatte sich jedoch seit den 1670ern zum Feld der "Chronique Scandaleuse" entwickelt, beherrscht von Schlüsselromanen voller böser Enthüllungen. Mitte des 18. Jahrhunderts sah die Lage anders aus: Gottscheds Aristotelisches Drama wich einem bürgerlicheren, doch ebenso der Oper fernen, und dieses bürgerliche Drama, wie Lessing es im Deutschen mustergültig zu propagieren schien, orientierte sich am aktuellen Roman – besonders demjenigen Richardsons. Hatte man die Poesie reformiert, so konnte man den Roman reformieren, wenn man verlangte, daß er sich in die neue moralisch verantwortungsvolle Produktion einpaßte. Im Gegenzug gewann die Poesiedebatte mit dem Roman ganz neue Diskussionen. Es war sinnlos, Romane genauso zu bewerten wie Poesie – sie hatten keine Versfüße, folgten nicht festgelegten Gattungsnormen wie das Sonnett, das Epigramm und so fort. Pierre Daniel Huet hatte 1670 festgelegt, wie man überhaupt nur Romane sinnvoll besprechen konnte: im Blick auf die tiefere Bedeutung ihrer Fiktionen. Man begann, die selbe Frage an Poesie zu stellen und gewann die Textinterpretation als neue Form der Literaturdebatte.
Ende des 18. Jahrhunderts waren Dramen, Romane und Gedichte Literatur geworden, Weltliteratur zu unterteilen nach den Literaturen der Nationen, die miteinander verglichen sein sollten. Die Produktion von Dramen, Romanen und Gedichten hatte sich im selben Prozeß grundlegend reformiert: Hochwertige, literarische Werke mußten sich als diskutierbar erweisen, wollten sie von den Journalen aufgegriffen werden. Wurden sie es nicht blieben sie unverkäuflich. Der Autor hoher Literatur mußte die Auseinandersetzung mit der Literaturkritik suchen.
Unterhalb der hohen Literatur an "anspruchsvollen" auf Diskussionen Anspruch erhebenden Romane, Dramen und Gedichte gedieh der internationale Buchmarkt des frühen 18. Jahrhunderts fort mit einer Ware, die sich auch undiskutiert als Belletristik verkaufte, sie wurde gegenüber der neugeschaffenen anspruchsvollen Literatur der Bereich der Trivialliteratur.
Die nationalen Literaturgeschichten werden rückwirkend geschaffen, 1800-2004
Die Literaturgeschichten des frühen 18. Jahrhunderts kamen noch als Bibliographien der wissenschaftlichen Fachliteratur auf den Markt. In ihnen fand der Leser nach Fachbereichen und Fachfragen sauber gegliedert das Gelände der wissenschaftlichen Forschung vor, die sodann in ihren wichtigsten Werken besprochen sein wollte. Das Wissen der zitierten Werke wurde knapp genannt, die Titel ausführlich, so daß man von hier aus die entscheidenden Werke aller Wissenschaften in Fachliteratur wiederum zitieren konnte.
Die letzten Literaturgeschichten des 18. Jahrhunderts sind noch immer gegliederte Bibliographien, sie erfassen jedoch fast nur noch Werke in den poetischen Gattungen.
Mit der bahnbrechenden Literaturgeschichte die G. G. Gervinus in den 1830ern vorlegte, wurde ein neues Modell bindend: Eine Geschichte der Nationalliteratur, die primär poetische Titel und Romane ansprach, doch dies in einer voranschreitenden Erzählung tat, in der der Autor darüber nachdachte, wie jede Epoche der Nation sich in eigenen poetischen Werken niederschlug. Das Werk hatte zugleich politische Implikationen: in ihm zeichnete sich ab, daß die Deutsche Literatur (nun Dichtung) miserabel gedieh, als sie im Mittelalter in die Hände der Kleriker geriet, daß sie sich kurzfristig befreite, dann jedoch mit dem Humanismus in die Hände der Gelehrten kam, wo sie wieder alle Kraft verlor, besser ging es ihr erst seit in den 1730ern die Literaturkritik die Dichter aufrief, sich dem Publikum zu stellen und Literatur von bleibendem diskutablem Wert zu verfassen. Die Literatur im neuen Sinne war national, sie rang gegen Einflüsse und nationale Vormachtstellungen auf europäischem Terrain, vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert von der Frankreichmode bestimmt, dann an England orientiert, in jedem Fall bis zu Goethe in Deutschland kleinstaatlich. Die neue, eines Tages geeinte Nation würde eine nationale Literatur von der Macht der französischen und italienischen haben. Als Spiegel der Nation taugte die Dichtung, da sie in Sprache verfaßt und tiefere Bedeutung bergend die nationale Kunst gegenüber allen anderen Kunstsparten sein mußte.
Tatsächlich mußte die neue Literaturgeschichte in einem Gewaltakt geschaffen werden. Sie war nicht der Bereich der ewig die Menschen beschäftigenden Werke – dies mußte sie erst werden. Die mittelalterliche Literatur war verschollen, mittelhochdeutsch galt als kunstlos und zurecht vergessen, die Literatur des 17. Jahrhunderts hatte sich nicht ins 18. hineingerettet, die des frühen 18. wurde als skandalöse ausgeschaltet. Man setzte große Epochen: Mittealter, Humanismus/Reformation und Barock. Dem gegenüber mit der Reformbewegung, die die Poesie- und Romanproduktion reformiert hatte, die Aufklärung und suchte in einem ersten Schritt Werke dieser Epochen zusammen, um in einem zweiten sie historisch gerechter zu beurteilen, als Gervinus dies getan haben mochte. Jede Epoche hatte, so das Theorem, ihren eigenen Literaturbegriff gehabt. Nach dem Literaturbergriff des Barock seien behäbige, schwere im Zweifel schwülstige Werke produziert worden - es spielte zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr, daß das 17. Jahrhundert weder die ausgesuchten Werke für Literatur erachtet hätte, noch auch nur die Auswahl, die dabei getroffen wurde, als besonders zutreffend notiert hätte – die Barockliteratur wurde so ausgewählt, daß sie die Literatur der Aufklärung als Gegenpol zuließ. Gefragt wurde nicht nach Begriffen der Zeit und Geschmacksurteilen aus der Zeit, übernommen wurde dagegen weitgehend Perspektiven der Gelehrsamkeit des 17. und 18. Jahrhunderts von der gelehrsamkeit des 19. die jetzt die Literatur in ihrer Geschichte fixierte.
Nationalstaatlich kanonisiert und unbehherrschbar virulent, die Literatur seit 1770
Bis in das 18. Jahrhundert hienien – solange, wie die Literatur noch der Bereich der Wissenschaften war, rezensiert von wissenschaftlichen Fachorganen – standen die Literatur Produziereden und die Literatur Rezensierenden auf derselben Seite: Sie alle gehörten der internationealen res publica literaria an, der internationalen Gemeinsachaft der Gelehrten, die miteinander über Lädergrenzen hinweg kommunizierten, fast alle Latein sprachen, nötigenfalls Französisch.
Damit, daß im Lauf des 18. Jahrhunderts die belles lettres und dabei Dramen, Romane und Gedichte in das Zentrum der Literaturbetrachtung rückten und Literatur im neuen Wortsinn wurden, enstand eine neue Aufgabenteilung zwischen einem primären und einem sekundären Diskurs, ersterer der Diskurs der Dichter, letzterer der der Literaturkritiker. Die Frontenaufteilung ist theoretisch. Dichter machen seitdem ihre Werke verstärkt rezensiert werden, der Literaturkritik Vorgaben, was sie an ihren Werken wie besprechen soll. Dichter und Literaturkritiker wiederum bekennen sich zu Schulen und gesellschaftlichen Gruppen – es gibt marxistische Literaturkritik, feministische, es gibt gay and Lesbian Studies, und es gibt Schulen, die sich dem politisch gesellschaftlichen Frontensystem entgegen bilden – Richtungen einer primär textimmanenten Literaturkritik, die ganz andere Bündniskonstellationen in öffentlichen Diskussionen zulassen.
Das komplexe Geflecht wird komplexer noch durch die öffentlichen Interessenten am bestehenden Austausch über Literatur: Mit dem 19. Jahrhundert wurde die Literatur Gegenstand des schulischen Unterrichts. Im 18. Jahrhundert hätte dies noch erstaunt: Man schrieb Besinnungsaufsätze über Themen der Religion, diskutierte ebensolche im Unterricht, man interpretierte an den Universitäten Textstellen in jursitischen und theologischen Seminaren. Unverstellbar war, daß man eines Tages Passagen aus Romanen ebenso nutzen würde. Es gibt kaum Sekundärliteratur zu Dramen, Gedichten und Romanen aus der Zeit vor 1780. Für den Schulunterricht wurde die Literatur im neuen Sinne im Lauf des 19. Jahrhunderts interessant, und das hat wesentlich mit der Einrichtung eines säkularen Schulwesens zu tun, in dem der Staat Texte ebenso nutzt wie die Kirche Texte zuvor nutzte - Texte der Nation im staatlichen Unterricht wo Texte der Religion vor der Säkularisation den Ton angaben.
Oberflächlich betrachtet wurde die Literatur ein hierarchich strukturiertes Feld - korporativ war sie in der Zeit der respublica literaria organisiert, jetzt jedoch gibt es eine Hierachie aus primärem und sekundärem Diskurs, innerhalb derer der letztere wiederum strenge Qualifikationsregeln ausarbeitete, die Universitätsprofessoren letztlich über die Feuilletonisten stellen, die zuerst einmal eine Ausbildung als Germanisten erfahren. Über allem steht der Staat, der auf der einen Seite Universitäten finanziert und auf der anderen Seite den Kanon der in den Schulen zu besprechenden literarischen Werke festlegt. Entsprechend anfällig ist die gesamte Struktur gegenüber Versuchen der Gleichschaltung, wie sie im Dritten Reich erfolgreich praktiziert wurde.
Gleichzeitig erwies sich gerade die Literatur in ihrer neuen Form – auf Disskussion ausgerichtet – als unbeherrschbares Feld. Der Druck im Ausland und unter Pseudonymen gehört zum Inventar des Widerstands wie die Parteinahme und die Parteiverweigerung gegenüber dem sekundären Diskurs, der den primären letztlich erst in sein heutiges Leben rief.
Man mag darüber raisonnieren ob die Gliederung in Nationalliteraturen noch zeitgemäß ist, was verlöre man, wenn man in den Schulen Literatur ohne nationale Ausrichtung läse (sicherlich nicht sprachliche Kompetenz - Übersetzungen sind nicht schlechtere Sprache als Originalwerke). Hier scheinen wir härter dem 19. Jahrhundert verpflichtet als auf dem Buchmarkt, der Grenzen nie so eng zog, und darum gerade im Deutschen das Wort Belletristik gegenüber dem Wort Literatur verteidigte.
Problematisch bleibt vor allem jedes Sprechen über "Literatur" des Barock oder des Mittelalters. Man bündelt hier Materialien, die so nicht gebündelt wurden, um im nächsten Moment Aussagen über den Literaturbegriff des Barocks oder des Mittelalters zu treffen - Aussagen, die vor allem Aussagen darüber sind, was wir für Literatur dieser Epochen erachten wollen. Hier dürfte vor allem ein vorsichtiges Nachdenken über die Bedeutung des Wortes Literatur in seiner Geschichte angebracht sein.
Literatur im Internet
Kostenlose Literatur, ähnlich des GNU-Konzept, wird zum Download im Internet angeboten. Von Aesop bis Emile Zola: Mehr als 10.000 Gedichte, tausend Romane und Novellen, unzählige Märchen, Fabeln und Sagen von über 350 Autoren stehen kostenlos im Internet zur Verfügung. Das Projekt Gutenberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, international frei verfügbare Literatur im Internet bereitzustellen. Siehe auch Projekt Gutenberg.
Außerdem gibt es im Internet viele Möglichkeiten, selbst literarisch aktiv zu werden. Einige Seiten widmen sich nur einer speziellen Gattung, z.B. der Kurzgeschichte, und auf anderen Seiten finden sich sowohl Gedichte und Prosa. Dort kann man eigene Werke veröffentlichen und mit anderen darüber diskutieren. Regelmäßig werden auch Literatur-Wettbewerbe ausgeschrieben, bei denen Prosa bzw. Lyrik zum einen bestimmten Thema gesucht ist.
Formen
- Roman
- Epos
- Saga
- Erzählung
- Ballade
- Novelle
- Anekdote (gr. nicht herausgegebene = mündlich überlieferte)
- Kurzgeschichte
- Romanze
- Märchen
- Sage
- Schwank (mittelhochdeutsch Streich)
- Legende
- Experimentelle Literatur
- Graphic novel
- Kalendergeschichte
- Aphorismus
- Apophthegma (prägnanter Spruch, "geflügeltes Wort")
- Bonmot (geistreicher Ausspruch)
- Epigramm (pointiertes Kurzgedicht)
- Fabel, besonders Tierfabel
- Gleichnis
- Gnome (kurzer Versausspruch moralischen Charakters)
- Lebensweisheit
- Maxime (knapp formulierte Verhaltensregel)
- Metapher
- Parabel
- Sentenz (Sinnspruch, allgemeiner Gedanke moralischer Art)
- Sprichwort (volkstümliche Lebensweisheit)
- Weisheit
- Weisheitsliteratur
- Zitat
Literatur nach Sprachen, Ländern und Regionen
- Afrikanische Literatur
- Arabische Literatur
- Chinesische Literatur
- Deutsche Literatur
- Englische Literatur
- Englischsprachige Literatur
- Französische Literatur
- Griechische Literatur, Altgriechische Literatur
- Irische Literatur (Irisch-Gälisch)
- Italienische Literatur
- Japanische Literatur
- Lateinamerikanische Literatur
- Österreichische Literatur
- Polnische Literatur
- Portugiesische Literatur
- Rumänische Literatur
- Russische Literatur
- Schottische Literatur
- Schwedische Literatur
- Schweizer Literatur
- Spanische Literatur
- Tschechische Literatur
Literatur
(für deutschsprachige bzw. ins Deutsche übersetzte Literatur)
Zitat
Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie bei dem Künstler in jedem Augenblick wohnt. Sie sehen es nicht, weil sie es nicht dem Licht auszusetzen versuchen, infolgedessen aber ist ihre Vergangenheit von unzähligen Negativen angefüllt, die ganz ungenützt bleiben, da ihr Verstand sie nicht "entwickelt" hat. - Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit)
Siehe auch
Weblinks
- http://carpe.com/literaturwelt/
- http://www.webcritics.de
- http://beste-texte.com Die Literaturdatenbank enthält die grösste Sammlung an lebenspraktischen literarischen Kurztexten
- http://www.vordenker.de/weigoni/mpaed.htm - verweist auf literaturpädagogische Arbeiten.
- http://www.vordenker.de/kollegen/kollegen.htm dokumentiert ein Projekt zum 30. Jahrestag des Verbands Deutscher Schriftsteller.
- http://www.abebooks.de/docs/ReadingRoom/BesteBuecher/besteBuecher.shtml
- http://focus.msn.de/D/DF/DFX/DFX04/dfx04.htm
- http://www.glanzundelend.de
- http://www.nemesisarchiv.de.vu Sozialistische Unterhaltungsliteratur
- http://www.buchtips.net
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