(Kurz-) Geschichte des deutschen Minnesangs (ca. 1150 - ca. 1350)
Die frühest bezeugten Minnesänger sind Provenzalen. Dieser südfranzösisch-provenzalische Minnesang der Troubadours, später auch der nordfranzösische der Trouverès hat wesentlichen Einfluss mindestens auf die Anfänge des deutschen Minnesangs. Am klarsten nachweisbar ist dieser Einfluss anhand so genannter Kontrafakturen, also der (deutschen) Neutextierung provenzalischer 'Töne' (unter einem 'Ton' ist die Einheit von Versmetrum und Strophenform plus Melodie zu verstehen). Weniger deutlich als derartige Kontrafakturen wird der französische Einfluss im erkennbaren Bemühen deutscher Minnesänger, mit raffinierten Metren und Reimtechniken ähnlich artifiziell zu glänzen wie die französischen Sänger. Diese am Ende der Minnesang-Entwicklung (etwa bei 'Frauenlob' ' Künstler-Pseudonym für Heinrich von Meissen, +1318) eklatante Sprachkunst (Wortschatz, Reimtechnik) lässt sich zum größeren Teil auch ohne französischen Einfluss als interner Prozess beschreiben.
Soziologie
Minnesang versteht sich an der Wurzel als Hobby und Konkurrenz hochadeliger Ritter. Der Vortrag eines geglückten Minneliedes durch einen Fürsten ist in erster Linie als Kompetenzbeweis in diesem elitären Hobby zu begreifen - ähnlich einem Jagderfolg oder einem Sieg im Ritterturnier. Allerdings kommt durch die in aller Regel unerfüllte Liebe (es gibt auch Ausnahmen sowie parodierende Lieder) die ritterlich-ethische Komponente hinzu, dass der Sänger trotz ihrer Unerfüllbarkeit an seiner Liebe festhält. Eine biografische Authentizität, wie sie die frühere Literaturforschung regelmäßig annahm, ist zwar nie auszuschließen, dürfte aber nur eine geringe Rolle spielen: Minnesang ist kein romantischer Gefühlausdruck, sondern ein ritterlich-ethisch geprägtes Sprach- und Musikhobby. Insbesondere bei Berufssängern wie Walther von der Vogelweide wird unwahrscheinlich, eine jahrzentelange Dauerverliebtheit anzunehmen.
Die frühesten handschriftlichen Zeugnisse des deutschen Minnesangs stammen vom Ende des 12. Jahrhunderts (noch sehr spärlich). Gipfelpunkt der Aufzeichnung ist die reine Minnesang-Sammlung der so genannten Manesse-Handschrift (Sigle C) Anfang des 14. Jahrhunderts.
Wichtigste Handschriften
C: Codex Manesse, Große Heidelberger Liederhandschrift, Cod. Pal. germ. 848 der UB Heidelberg (Codex "Manesse" wg. des vermuteteten Zürcher Auftraggebers Manesse). Größte und prachtvollste Sammlung des deutschen Minnesangs, entstanden erst im 14. Jh., die enthaltenen Texte reichen jedoch in die früheste Zeit des Minnesangs hinab, etwa bis 1160. Die Klassiker Walther, Reimar, Morungen sind ebenso enthalten wie Spruchdichtung, Leich und Schweizer Epigonen. Auf 426 Pergamentblättern (=852 Seiten) enthält der Codex fast 6.000 Strophen von 140 Dichtern. 137 Sängern ist eine ganzseitige Miniatur gewidmet. Abbildungen siehe [1]. Der Codex war 1622 vor der Eroberung Heidelbergs durch die Truppen der Liga unter Tilly in Sicherheit gebracht worden und befand sich seit 1657 im Besitz der Pariser Bibliothèque Nationale. 1888 kehrte die berühmteste deutsche Handschrift durch Vermittlung des Straßburger Buchhändlers Karl Ignaz Trübner nach Heidelberg zurück. Der Original-Codex kann aus konservatorischen Gründen nur sehr selten im Rahmen von Ausstellungen gezeigt werden. Das Original-Faksimile von 1925-27, erschienen in 320 Exemplaren in Leipzig, wird ständig im Foyer des Obergeschosses der UB präsentiert.
A: Kleine Heidelberger Liederhandschrift (13. Jh.; elsässisch)
B: Weingartener Handschrift (Stuttgart; Anf. 14. Jh., geschrieben in Konstanz)
E: Würzburger Handschrift (München; um 1350; Hausbuch des Kanzlers Michael de Leone)
J: Jenaer Handschrift (Mitte 14. Jh.; niederdeutsch)
t: Kolmarer Liederhandschrift' (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 4997) t ist eine sehr späte Hs., um 1460 im Rheinfränkischen geschrieben, überwiegend "meisterliche Lieddichtung" - Sprüche und Lieder in der Tradition der Sangspruchdichter des 12., 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Übergang von höfisch-adliger Liedkunst zu städtischem Meistergesang.
Nahezu alle wichtigen Handschriften beschränken sich auf die Aufzeichnung der T e x t e. Sie täuschen damit über die Tatsache hinweg, dass "Minnesang", wie seine Bezeichnung völlig zurecht wiedergibt, stets Gesangslyrik war - in vielen Fällen wohl mehr als das: Wie diverse Miniaturen belegen, wurden die vortragenden Sänger (zum Teil - häufig - immer?) von Rhythmus-, Streich- und Blas-Intrumenten begleitet. Einige Lieder kennzeichnen sich durch Textansagen oder durch die Rubrizierung in der Handschrift als Tanzstücke. Von den oben genannten Handschriften bieten nur die Jenaer (J) und Kolmarer (t) auch die zugehörigen Melodien. Wichtig für die Musiküberlieferung des deutschen Minnesangs ist ferner die so genannte Wiener Leichhandschrift (Nationalbibliothek Wien, cvp 2701, Sigle W). Neben diesen drei Handschriften (J, t, W) existiert sporadisches, bruchstückhaftes, nur in vagen Neumen notiertes oder durch Kontrafakturen erschlossenes Melodiematerial. Eine Gesamtsicht dieses Materials kann gemeinsam mit den überlieferten Miniaturen und den Textaussagen zur Aufführungssituation sehr wohl ein sprechendes Gesamtbild vermitteln, wie Minnesang musikalisch realisiert wurde; die historisch authentische Rekonstruktion einzelner Stücke bleibt aber selbst bei zuverlässiger Melodieüberlieferung Illusion. Auch die am besten überlieferten Melodien beschränken sich auf die Wiedergabe der Gesangsmelodie. Rhythmus, Tempo, Dynamik, Begleitunginstrumente, polyphone Techniken - hierzu fehlen alle Informationen.
Gattungen des Minnesangs:
Ein großer Teil des 'Minnesangs' (präziser: der mittelhochdeutschen Lyrik) ist genaugenommen kein Minnesang und sollte auch nicht unter diesem Begriff subsumiert werden. Hinsichtlich ihrer Thematik und ihres 'Sitzes im Lebens' müssen zwei große Gattungen unterschieden werden: die ritterlich-adlige Liebeslyrik (Minnesang) und die Spruchdichtung, die ausschließlich von Berufsdichtern und -sängern vorgetragen wurde und die sich mit politischen, moralischen und religiösen Themen aller Couleur befasst.
Minnedichtung reflektiert unerfüllte Liebe, preist die Angebetete (dies sind die 'klassischen' Inhalte) oder schildert erotische Erlebnisse (ab Mitte des 13. Jahrhunderts). Kreuzlieder sind eine spezielle Gattung der Minnelyrik, in der der Sänger einen bevorstehenden oder erlebten Kreuzzug zum Thema macht und seinen Dienst für Gott mit seinem Minnedienst kontrastiert. Das 'dramatisch' angelegte Tagelied schließlich schildert das außereheliche Liebespaar beim Morgengrauen vor der unvermeidlichen Trennung.
Spruchdichtung fordert zu religiös und ethisch richtigem Handeln auf, propagiert gängige Lebensweisheiten oder kritisiert das Zeitgeschehen.
Da der gesellschaftliche Status von Minnesang (hochadelige Repräsentationskunst und Luxus) und Spruchdichtung (auf Bezahlung angewiesene 'Gebrauchs'kunst) völlig verschieden ist, betätigen Dichter sich nur sehr selten zugleich auf beiden Gebieten; das bekannteste Beispiel hierfür ist Walther von der Vogelweide.
Die inhaltliche Gattungsdifferenz lässt sich auch in den Bauformen der Lyrik wiederfinden:
Formal gibt es die Gattungen Lied, Spruchstrophe und Leich: Das Lied (nur im Minnesang!) hat die bis heute übliche strophische Wiederholungsform, oft mit drei oder fünf Strophen. Die Liedstrophe gliedert sich ihrerseits in den meisten Fällen in zwei gleichgebaute 'Stollen' und einen 'Abgesang' (Kanzonenform). Spruchdichtung verwendet oft komplexere und umfangreichere Strophenformen. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil die gleiche Form für verschiedene Inhalte immer wieder genutzt und auch ohne strophische Wiederholung eindeutig erkannt und dem Dichter-Komponisten zugeordnet werden sollte (z.B. Walthers Philipps-Ton oder Reichs-Ton). Das Minnelied ist hingegen immer ein festes abgeschlossenes Ganzes mit 2 bis 7 Strophen. Einige Dichter (z.B. Heinrich von Morungen) pflegen aber auch im Minnegenre die einstrophige Form.
Der Leich ist die Prunkform der volkssprachigen deutschen Lyrik; er ist erheblich umfangreicher und hat eine komplexere, zum Teil weitaus komplexere Form als das strophische Lied. Während ein fünfstrophiges Lied grob schematisiert (also ohne die Binnengliederung) so aussieht:
AAAAA (also fünfmal das gleiche)
wäre eine typische Leichform schematisiert so wiederzugeben:
AA BB CC DD FF...
Oder auch:
AAAA BB CC DD FFFF...
Es besteht also zunächst eine 'strophische' Wiederholung (fast immer paarweise) ähnlich dem Lied, dann jedoch Neueinsatz mit weiterem Melodiematerial.
Die Anfänge
Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien (1071-1127) Diese Kunst der "Troubadours" erreicht in der Mitte des 12. Jahrhunderts durch Bernart von Ventadon ihre reinste Darstellung und breitet sich nach Norden ("Trouvères") und Osten (deutscher Minnesang) aus. Wichtige Troubadours: Jaufre Rudel, Marcabru, Bernart von Ventadon, Giraut de Bornelh, Beatritz de Dia, Peire Vidal. Wichtige nordfranzösische Trouvères: Gace Brulè, Colin Muset, Jean Bodel, Thibaut de Champagne, Conon de Béthune, Blondel de Nesle, Adam de la Halle, aber auch Chrétien de Troyes (der als Artus-Epiker wesentlich bekannter ist denn als Lyriker).
Der älteste deutsche Minnesang ist mit dem Dichter "Kürenberger" nachweisbar; berühmt ist das Falkenlied in der 'Nibelungenstrophe': "Ich zoch mir einen falken..." (zur Versform vgl. das Nibelungenlied). Dieser 'donauländische' Minnesang (1150-1170, geografisch: Passau, Linz ? die Gegend also, aus der auch das Nibelungenlied stammt) hat ältere deutsche Wurzeln und ist von der verfeinerten provenzalischen Troubadour-Kunst noch völlig unbeeinflusst. Die Lieder sind geprägt durch eine natürliche und ungekünstelte Auffassung von Liebe. Die Eigenarten, die Frau in Ich-Form sprechen zu lassen, oder im 'Wechsel' Mann und Frau reflektieren zu lassen, werden durch den späteren provenzalischen Einfluss völlig aus dem Minnesang getilgt. Äußeres formales Kennzeichen ist die der epischen Dichtung nahestehenden Langzeile. In dieser Phase hat der deutsche Minnesang gewissermaßen noch keine eigene Form gefunden. Die Wurzeln dieser einheimischen Minnelyrik liegen weitestgehend im Dunkel.
Der neue Minnesang nach provenzalischem Vorbild (unter anderem nachweisbar importiert durch den weitgereisten Friedrich von Hausen und vielen anderen) blüht im allemannischen und fränkischen Westen ab 1170 auf. Ab dieser Zeit entsteht eine Lyrik, die formal wesentlich diffenzierter ist und inhaltlich das Ideal der Hohen Minne enthält (und in aller Regel die Verzichtshaltung des Mannes und die Unerreichbarkeit der Frouwe betont). Zu nennen sind hier Vertreter wie Albrecht von Johansdorf, Reinmar von Hagenau (Reimar der Alte) und Heinrich von Morungen. Walther von der Vogelweide geht als erster weg vom Ideal der Hohen Minne und singt Lieder der gleichberechtigten Liebe ('niedere Minne', später Ausgleich der 'ebenen Minne'). Im 13. Jahrhundert verliert sich das zunächst klare Bild: Während in der Schweiz noch nach 1300 Hohe Minne in klassischer Tradition (wenn auch weniger originell) besungen wird, greifen andernorts bereits ab 1220/30 parodierende und erotisierende Tendenzen (Neidhart von Reuental, Tannhäuser).
Wichtige deutsche Sänger (chronologisch):
Der Kürenberger,
Dietmar von Aist,
Heinrich von Veldeke,
Friedrich von Hausen,
Albrecht von Johansdorf,
Hartmann von Aue,
Heinrich von Morungen,
Reinmar von Hagenau,
Walther von der Vogelweide,
Wolfram von Eschenbach,
Neidhart von Reuental,
Der Tannhäuser,
Ulrich von Liechtenstein,
Friedrich von Sonnenburg,
Reinmar von Zweter,
Bruder Wernher,
Heinrich von Meissen (Frauenlob),
Hugo von Montfort,
Oswald von Wolkenstein
Einige grundlegende Ausgaben sowie Sekundärliteratur (Stand 1992)
- Cramer, Thomas: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jhs., 4 Bde., München 1979-1985.
- Grove, The new Grove Dictionary of music and musicians, ed. by Stanley Sadie. London (u. a.) 1980.
- Kraus, Carl von: Liederdichter des 13. Jhs., Tübingen 1978.
- Kuhn, Hugo: Minnesangs Wende, Tübingen 1967.
- Kuhn, Hugo: Minnesang des 13. Jhs. Ausgewählt von H. Kuhn. Mit Übertragung der Melodien von Georg Reichert, Tübingen 1953.
- Lomnitzer, Helmut/Mück, Hans-Dieter: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien, Göppingen 1977. (Litterae 7).
- Minnesangs Frühling, hg. v. Hugo Moser/Helmut Tervooren. Stuttgart 1982.
- Sayce, Olive: The medieval German lyric. 1150 - 1300, Oxford 1982.
- Weil, Bernd A.: Das Falkenlied des Kürenbergers. Interpretationsmethoden. Frankfurt am Main 1985
- Weil, Bernd A.: Der deutsche Minnesang. Entstehung und Begriffsdeutung. Frankfurt am Main 1993
- Weil, Bernd A.: Die Rezeption des Minnesangs in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1991