Scheich Bedreddin (* um 1359 in Simavna, † (hingerichtet) 1420 in Serez) gehört zu den schillernsten und zugleich umstrittensten Personen der osmanischen Geschichte.
Die Eltern
Bedreddin wurde ca. 1359 als Sohn des Kadi von Simavna, Ghâzi Isra’il, geboren. Simavna, ein Ort im europäischen Hinterland von Byzanz, erlebte in diesen Jahren blutige Zeiten. Insgesamt kündigte die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts das baldige Ende des stark geschwächten Reiches an, geprägt durch kriegerische Thronkämpfe und die Abwehr bulgarischer und serbischer Angriffe. In ihrer Auswirkung war es die Besetzung und die anschließende Besiedlung von Gallipoli auf der europäischen Seite der Meerenge durch die osmanischen Truppen unter der Führung Süleyman Paschas, die Byzanz zuvor selbst zu Hilfe gerufen hatte. Süleyman Pascha hatte zunächst mit 16 000 Mann auf der Seite des byzantischen Kaisers das Land von Edirne bis zum Schwarzen Meer „befriedet“, anschließend mit einem noch größeren Kontingent als Verbündeter von Byzanz erfolgreich den Angriff auf Saloniki abgewehrt und das vereinigte bulgarisch-serbische Heer auf der zugefrorenen Maritza vernichtet. Die Truppen kämpften als offiziell angeheuerte Söldner gegen einen auswärtigen Feind des Reiches.
Am 2. März 1359 erschütterte zudem ein gewaltiges Erdbeben Thrakien. Hunderte von Städten und Dörfern wurden verwüstet. „Für Byzanz erwies sich diese erste türkische Ansiedlung in Europa als eine weit größere Kalamität als das Erdbeben. Die verwüsteten Gebiete würden sich früher oder später erholen, dagegen schien Gallipoli, die wichtigste Durchgangstation für Reisende von Thrakien nach Kleinasien, für immer verloren.“ Zudem erwies sich der Tod des Erzfeindes, des serbischen Herrschers Stephan Duschan, als eine neue Katastrophe, weil Byzanz sich als zu schwach erwies, daraus Nutzen zu ziehen und zugleich der Zusammenbruch des serbischen Reiches für die Osmanen die Gelegenheit bot, auf die sie gewartet hatten. „Nun gab es in Europa keine Macht mehr, die imstande wäre, ihrem Vorrücken Widerstand entgegenzubringen.“ Von da ab war das byzantinischen Hinterland endgültig offen für Raub- und Eroberungszüge durch osmanische Gruppen und Verbände, zu denen auch der Vater Bedreddins, Ghâzi Isra’il, gehörte.
Über die Abstammung Bedreddins können keine gesicherten Angaben gemacht werden. Nach dem Menâkibnâme des Scheichs war der Großvater Bedreddins, ‘Abd al´Aziz, ein Neffe des ‘Alâ-eddin Kaiqobad III. (gest. 1307) , des letzten regierenden Seldschukensultans. Auch der Chronist Taschköprülüzâde spricht von der Zugehörigkeit des Vaters Bedreddins zur seldschukischen Herrscherfamilie von Konia. Er bekundet, dass Bedreddins Vorfahr ein hoher seldschukischer Wesir war. F. Babinger verfolgt diese Linie sogar zurück bis ‘Izzed-din Kaika‘us II. Dieser war 1263 nach Konstantinopel geflohen und hatte dabei mit Hilfe des byzantinischen Kaisers zugleich auch die Umsiedlung des Türkmenenbabas Sari Saltuk, einem der bedeutensten Figuren der anatolischen Derwischbewegung, mit einem Anhang von 30-40 Gruppen über Izmir (Smyrna) und Skutari in die Dobrudscha in Deliorman, dem späteren Ort der Erhebung Bedreddins in Thrakien, veranlaßt.
Ob Bedreddin zum engen Kreis der Herrscherfamilien gehörte, ist für die Betrachtung der späteren Ereignisse, insbesondere der Beurteilung der Gründe, die später zu seiner Hinrichtung geführt haben, von großer Bedeutung, denn auf den Angaben Taschköprülüzâdes basierend, werden die Aufstände als ein Versuch eines Mitglieds der osmanischen Herrscherfamilie angesehen, der sich die osmanische Krone aneignen wollte. Seine Hinrichtung hätte dann mit seinem geistigen Wirken wenig zu tun, sondern wäre Teil innerosmanischer Thronkämpfe.
Das Mânakibnâme erwähnt weiter, dass der Großvater im Hause Osman verkehrte. Dies legt entweder den nicht seltenen Wechsel eines seldschukischen Würdenträgers zum osmanischen Herrscherhaus nahe oder weist auf die Möglichkeit einer relativ späten Einwanderung nach Anatolien hin. Die Angaben über die Zugehörigkeit zur seldschukischen Herrscherfamilie dürften sich aus dem Geschichtswerk Sakaik-i Nu‘maniye Taschköprülüzâdes ableiten, das in dem Vater Bedreddins einen Bruder Alaâddin Seldschukis sieht. Diese Angaben lassen sich jedoch nach Aussage S. Yaltkayas in den Stammverzeichnissen der Herrscherfamilien nicht nachweisen. Auch über die Zeit der Einwanderung der Vorfahren Bedreddins lassen sich keine Belege finden, außer den Mitteilungen, wonach die Oheime zu den ersten osmanischen Truppen gehörten, die auf dem europäischem Teil operierten. Die Beteiligung an den ersten Eroberungszügen im Hinterland Konstantinopels untermauert eher die These F. Babingers. Die Zugehörigkeit zu den mit Sari Saltuk in Rumelien angesiedelten Stämmen läßt sich nicht ausschließen. Dadurch müßte jedoch die vielerorts leichtfertig geäußerte Annahme, er entstamme dem orthodoxen Islam revidiert werden.
Die sehr frühe Anwesenheit des Großvaters und Vaters Bedreddins in Rumelien und ihre Bezeichnung als Ghâzi macht ihre Zugehörigkeit zu den ersten Ghâzitruppen sehr wahrscheinlich, die 1354 unter der Leitung Süleyman Paschas (gest. 1360), dem osmanischen Thronfolger, nach Europa übersetzten und zu Plünderungen und Eroberungen aufbrachen. Dabei wählten viele bald die Ansässigkeit auf den meist zuvor selbst eroberten oder ihnen zugesprochenen Ländereien. In der Zeit der Plünderungs- und Eroberungszüge der Osmanen auf dem europäischen Kontinent diente der Vater Bedreddins als Krieger, Festungskommandant und Richter von Simavne in Rumelien (westlich von Andrianopel). Bedreddin benutzte selbst den Titel „Sohn des Richters von Simavne“ als Namenszusatz.
Für die Annahme, dass der Vater im Auftrag der Osmanen handelte, kann kein Beweis angeführt werden, auch wenn die Geschichtschreibung diese als „selbstverständlich“ annimmt. Es ist eher davon auszugehen, dass diese Eroberungs- und Plünderungsunternehmungen in ihrer Anfangszeit stärker auf persönlichen Vertrauensbindungen und Absprachen basierten und weniger auf staatlichen Strukturen. Dabei lassen sich viele Szenarien denken.
Weitaus aussagekräftiger sind eher die den Namen der Familienmitglieder Bedreddins zugefügten Bezeichnungen und Titel. Der Großvater nennt sich „Abdal“, der Vater „Ghâzi“, der Sohn Bedreddins „Seyyid“. Alle diese Titel kennzeichnen die Zugehörigkeit zu sozialen und religiösen Gruppierungen, deren Nähe zum heterodoxen Sufismus unbestritten ist.
Wie später der Sohn, scheint auch der Vater zunächst den Berufsweg des Gelehrten eingeschlagen zu haben, bevor er mit seinem Großvater an den Eroberungszügen in Europa teilnahm. Seine Studien des Rechts, die er in der Stadt Konia begonnen haben soll, sollen ihn nach Turkestan und in die Stadt Samarkand geführt haben. Vom Chronisten Ibn Arabschâh liegt folgender Bericht vor: „In seiner Jugend hing der Vater dem Studium der Wissenschaften nach. Er ging nach Samarkand und erlernte von der dortigen Geistlichkeit (ulema) die Wissenschaften. Bei Sadr-i Samarkand Hoca Abdulmedik, einem Nachfahren des Verfassers des Hidaye studierte er fikh (islamische Rechtswissenschaft). Obwohl er in den Wissenschaften, vor allem im fikh herausragte, kehrte er nach Rum (dem Rhomäerland) zurück.“ Das Werk Hidaye wird später auch den Sohn beschäftigen.
Nach der Rückkehr ins Land Rum, fand sich der Vater in den Reihen der osmanischen Truppen, die im Hinterland des Byzanz operierten. Mit seinen Truppen eroberte Ghâzi Isra’il die Festung Simavne. Die Familie des byzantinischen Festungskommandanten (Tekfur) wurde dabei gefangengenommen. Ghâzi Isra’il fiel der Besitz der Burg zu. Er verteilte alle Beute an seine Leute und nahm sich die Tochter des Festungskommandanten zur Frau. Sie erhielt den Namen Melek (Engel). Die christliche Kirche der Burg richtete er sich als Wohnung ein. Hier wurde dann auch 1358 Mahmûd (Bedreddin) geboren (Mânakibnâme: S.9-13).
Melek teilte das Schicksal vieler Frauen in der Zeit der Plünderungen. Die Männer wurden getötet, festgesetzt oder verschleppt, ihre Frauen oder Töchter aber von den Eroberern zur Frau genommen. Welchen Namen Melek zuvor führte und welche Sprache sie sprach, ist bisher leider unbekannt geblieben.
Ghâzi Isra´il übernahm in Simavne in Union das Amt eines Befehlshabers, Landvogts und des Richters (Kadi). Ob er nun wirklich Kadi wurde oder, wie es R. Çamuroğlu in einem Gespräch mit mir vertrat, es sich hierbei nur um eine Falschdeutung aufgrund der Ähnlichkeiten in der Schreibweise des Ghâzi und Kadi handelt, ist schwer zu beantworten. Tatsache bleibt jedoch, dass Bedreddin es im hohen Alter zum höchsten Richter des Landes gebracht hatte und sich selbst als den Sohn des Richters von Simavne und nicht den eines Ghâzis bezeichnete.
Es traten, nach Angaben des Mânakibnâme, auch noch 100 Ungläubige aus der Verwandtschaft der Gattin Isra´ils zum Islam über (Mânakibnâme: S. 9-13), vielfach die einzige Wahl, zu überleben.
Auch nach dem Tod des osmanischen Grenzfürsten Orhan Bey (1362) gingen die Eroberungs- und Plünderungszüge unter seinem Nachfolger Murad Bey weiter. Ghâzi Isra’il war weiterhin an diesen beteiligt. Mit 300 Mann nahm er an der Eroberung Andrianopels (heute Edirne, Türkei) teil und siedelte anschließend mit seiner Familie dorthin über. Diese Eroberung war den Türken sicherlich durch die starken Gegensätze zwischen der Stadt und dem byzantinischen Reich - bereits 1345 kochte hier der Aufstand gegen Byzanz - erleichtert worden.
Die ersten Lebensjahre
Nach den Angaben der osmanischen Chronisten wurde Bedreddin zunächst vom Vater unterrichtet, bis er Schüler eines gewissen Sahidi wurde. Von seinem späteren Lehrer Mevlana Yusuf lernte er vor allem Sprachen. Weil die Gelehrtensprachen Persisch und Arabisch waren, mußte er sich auch diesen Sprachen zuwenden.
Insgesamt sind die ersten Lebensjahre Bedreddins mit Legenden umwoben. Die Forschung zeigt große Lücken. Es ist z.B. unerklärlich, warum die Untersuchungen die alltägliche Ebene des Lebens fast vollständig ausklammern und den Einfluß des Vaters in der Erziehung Bedreddins als dominierend herausstellen, so als habe die Mutter - um es vereinfacht zu auszudrücken - das Kind geboren und es sofort dem Vater übergeben. Vieles ist bisher unklar: Welche Sprache wurde in der Familie gesprochen? Wie verständigten sich die Eltern? Was geschah mit den übrigen Bewohnern der Festung nach der Eroberung? Wurden sie getötet oder verschleppt? Traten sie zum Islam über, wie es Halil berichtet? Oder, was wahrscheinlicher klingt, nistete sich nur eine Gruppe Eroberer mit Waffengewalt in der Festung ein?
Wir wissen auch nicht, welche religiösen Vorstellungen in der Familie vorherrschten und wie das Verhältnis der Eltern sich entwickelte, da es sich wohl nicht um eine gewollte, freiwillige Heirat handelte, sondern unzweifelhaft um eine unter Zwang und Bekehrung. Wenn auch die Mutter Bedreddins zum Islam übergetreten ist, müssen wir weiterhin davon ausgehen, dass sie nicht innerhalb kürzester Zeit das Türkische gesprochen und auch die eigenen religiösen Anschauungen vollständig vergessen hat. Es feht überhaupt der Beweis, dass es sich bei der Sprache des Vaters um das Türkische gehandelt hat. Den Osmanen hatten sich unterschiedliche ethnische Gruppen angeschlossen.
Das spätere Leben Bedreddins zeugt jedenfalls davon, dass Bedreddin immer eine große Nähe zu der christlichen Religion besaß. Es darf nicht vergessen werden, dass auch seine spätere Frau eine Christin war und dass auch sein Sohn Ismail eine armenische Christin heiratete, deren Eltern, nach Angaben des Mânakibnâme, ausdrücklich nicht zum Islam konvertierten.
Die ersten Lebensjahre werden entscheidend von der Mutter beeinflusst gewesen sein, wenn man auch bedenkt, dass der Vater Ghâzi Israíl nach Angaben der Chronisten zwar Gelehrter war, aber weiterhin auch ein aktiver Krieger, der noch in den Kindheitsjahren Bedreddins mit Unterbrechungen in den Krieg zog. Wir wissen also wenig über diese Lebensspanne im Leben Bedreddins und weitergehende Behauptungen wären nur Spekulationen.
Zu den Lehrern Bedreddins gehörte Mahmud Efendi, ein angesehener islamischer Theologe, der Kadi von Bursa und Leiter der dortigen islamischen Lehranstalt (medrese). Dieser hielt sich nach einer Pilgerfahrt mit seinem Sohn Musa Tschelebi für kurze Zeit in Edirne auf. Er unterrichtete Bedreddin in den Fächern Mathematik, Astronomie und Buchstabenkunde (-deutung).
Musa (st. 1414/1415), der Sohn Mahmud Efendis, wurde zu einem engen Studienfreund Bedreddins. Er machte sich später in Samarkand, der Hauptstadt des Mongolenherrschers Timurs, einen Namen als einer der bedeutenden Astronomen seiner Zeit. Musa war Lehrer des berühmten Astrologen Ulagh Bey und arbeitete mit Giyâseddin Cemsid.
Da Bedreddin seine Studien unbedingt fortsetzen wollte, folgte er Mahmud Efendi nach Bursa, begleitet von Müeyyid, dem Sohn seines Onkels Abdülmümin. Bedreddin, Müeyyid und Musa studierten hier gemeinsam an der Medrese von Kapicilar hauptsächlich Theologie (kelâm) und Methodik.
1382 verließ Bedreddin die Stadt Bursa. Er ging nach Konia zur Lehranstalt eines gewissen Feyzullah. Nach den Angaben des Chonisten Taschköprülüzâdes handelte es sich bei diesem um einen Schüler des berühmten Fadlullah, dem Gründervater der Hurufîbewegung. Nach Angaben A. Gölpinarlis ist Fadlullah 1339-40 geboren. 1386 hat er mit der Verbreitung seiner Lehre begonnen. Aufgrund eines Attentats gegen Schahruh wurde er festgesetzt und 1394 ermordet. Woher der Chronist Taschköprülüzâde jedoch sein Wissen bezieht, ist nicht bekannt. Auch ist nicht zu klären, ob Taschköprülüzâde bewußt einen Schüler des in den Reihen der Orthodoxie verhaßten Fadlullah zu Bedreddins Lehrern erklärt, um ihn in einem unislamischen Licht zu präsentieren. Sollte die Behauptung Taschköprülüzâdes weitere Bestätigungen erhalten, müßten wir viele bisherige Annahmen korrigieren, wie z. B. dass Bedreddin den Sufi-Weg erst in Ägypten kennenlernte, aber auch, dass er eine sunnitische Erziehung genoß. Auch über die religiösen Ansichten der Familie müßte neu nachgedacht werden. Fadlullah hielt sich jedenfalls eine Zeitlang in Anatolien auf. dass dieser sich jedoch auch in Bursa aufhielt, kann nicht bestätigt werden. Auch sein bekannter Schüler Nesimî, der zwischen 1404-1410 hingerichtet wurde (ihm soll wegen seiner „Irrlehren“ lebendig die Haut abgezogen worden sein), wurde wie auch Bedreddin zu einem Symbol mystischen Märtyriums innerhalb der anatolischen und nahöstlichen Mystik. Die Anhänger beider Richtungen, der Bedreddins und Fadlullahs fanden in der Gedankenwelt der Alevî und Bektaschi Zuflucht. Ş. Yatkaya jedenfalls findet in den Werken Bedreddins keine Ansätze hurufîtischer Lehre und hält diese Möglichkeit für unwahrscheinlich.
Das Mânakibnâme jedenfalls, dessen Autor, das Ziel verfolgt, seinen Großvater vom Makel der Ketzerei zu befreien, nennt als Lehrer einen gewissen Feyzullah Taaftazâni.
Bei Feyzullah studierten die drei insbesondere die Fachrichtungen Logik und Astronomie. Da Feyzullah jedoch sehr bald verstarb, mußte das Studium unterbrochen werden. Der Studienfreund Musa wurde in dieser Zeit von Saruh, einem Sohn des Mongolenherrschers Timur, nach Samarkand gerufen. Er machte sich dort als Kaadizâde-i Rumî einen Namen als Astronom.
Die Studienjahre
Bedreddin und sein Cousin Mueyyed bin Abdülmümin wählten den Weg nach Damaskus, um am Ort bei den größten Gelehrten der Zeit zu studieren. Nach einer langen Reise durch ganz Anatolien wurden sie jedoch enttäuscht, weil sie wegen einer Seuche Damaskus nicht betreten durften. Sie wandten sich daraufhin nach Jerusalem. Hier studierten sie bei hohen Rechtsgelehrten und lebten in den Räumen des Mescid-i aksâ. Ihre finanzielle Situation war sehr schlecht. Sie konnten oft nicht für ausreichendes Essen sorgen. Sie lernten den Händler Ali Kasmiri kennen, der ihnen eine Wohnung und ausreichend Essen bereitstellte und sie mit bekannten Gelehrten zusammenbrachte. Mit Unterstützung von Ali Kasmiri kamen sie um 1395 über Jerusalem nach Kairo.
Kairo war damals das Zentrum islamischer Gelehrtentätigkeit. Neben den Vertretern der konservativen Lehre zog die Stadt auch bedeutende Sufigelehrte an. In Kairo lebten Bedreddin und Mueyyed mit finanzieller Unterstützung von Kasmiri und konnten ihre Studien fortführen. Kasmiri organisierte regelmäßige Treffen hoher Gelehrter. Bei diesen Treffen wurden Thesen vorgestellt und in Diskussionen (Antworten auf die Fragen der Zuhörenden, Für- und Widerreden) verteidigt. Auch Bedreddin nahm an diesen Treffen teil und lernte dabei angesehene Gelehrte der Zeit kennen. Als sehr folgenreich für seinen späteren Lebensweg erwies sich die Bekanntschaft mit dem Lehrer für Logik Mübarek Schah, zu dessen Schülern auch der bekannte Seyyit Serif (Dschurdschanî) gehörte. Dschurdschanî wurde später eine berühmte Kapazität in den Fachrichtungen Recht, Astronomie und Philosophie. Er lernte auch Dschelaleddin Hizir kennen, der sich später als Aydinli Hadschi Pascha einen Namen machen sollte und auch eine Zeitlang als Chefarzt der Kairoer Klinik tätig war. Unter seinen Studienfreunden befanden sich auch der Dichter Ahmedî und Semseddin Fenarî. Bedreddin, Seyyit Serif (Dscurdschanî) und Dschelaleddin Hizir studierten eine Zeitlang gemeinsam beim Gelehrten Scheich Ekmelddin.
Bedreddin hatte sich in Kairo als Gelehrter bald einen Namen gemacht und wurde ca. 1389-1390 vom ägyptischen König Berkuk (1382-1390) als Erzieher für den Prinzen Faradsch (1392-1400) an den Hof gerufen. Diese Tätigkeit übte er zwei oder drei Jahre lang aus. Die Bekanntschaft mit Scheich Husayn-i Ahlâtî, dem Abt eines sufistischen Klosters, brachte ihn zum Sufismus. Scheich Ahlâtî beschäftigte sich auch mit Chemie und Medizin, so dass A. Gölpinarli vermutet, dass dieser das Wissen und die Vernunft hochschätzte. Die Mystik schloß keineswegs die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft aus, weil sie zur Aufdeckung der Geheimnisse Gottes als behilflich erachtet wurde. Scheich Ahlatî und Bedreddin wurden vom ägyptischen Sultan mit Sklavinnen beschenkt. Es waren zwei abbesinische Schwestern namens Maria und Gâzîbe. Aus der Verbindung Bedreddins mit Gâzîbe wurde 1390 Ismail (der Vater des Verfassers des Mânakibnâme) geboren (Mânakibnâme: S. 30-33).
Bedreddin trat bald als ein Jünger Scheich Ahlatîs dem Orden bei und „legte das rauhe Kleid eines Sufi an“ (Mânakibnâme: S. 33-36,15). Das Mânakibnâme macht für diesen Gesinnungswandel ein Gespräch mit Maria verantwortlich. Welcher Art dieses Gespräch war, ist unbekannt. Jedenfalls geriet Bedreddin in eine Lebenskrise, riß sich die Kleider vom Leib, irrte durch die Straßen Kairos, bis er von Freunden aufgefunden wurde. Diese Krise läutete einen neuen Lebensabschnitt ein. Er beschloß, Sufi zu werden.
Der Beginn des Sufi-Weges bei Bedreddin gleicht in der Beschreibung anderen. Er wird von ekstasischen Zuständen begleitet. Die leidenschaftlichen Ausbrüche, die manchmal den strengen orthodoxen Verhaltensformen widersprechen werden in der Literatur šath genannt. L. Massignon bezeichnet sie mit „ekstasischer Ruf“ oder „theopathischer Ausbruch“. Der Sufi spricht während einer mächtigen seelischen Erschütterung, die übernatürlich, also ohne sein Zutun, ihn überkommt. Man zählt fünf Elemente aus, die solch einen Ausbruch konstituieren: Intensität, Erlebnis der Vereinigung, Trunkenheit, Wahrnehmung einer Stimme und Bewußtlosigkeit.
Die Gründe, die Bedreddin in die Krise führten, sind nicht mehr nachvollziehbar. Das prunkvolle Gewand jedenfalls, das er sonst immer trug, legte er ab und zog sich härene Kleidung an. Alles, was er besaß, verteilte er unter den Armen. Dann packte er seine Bücher, brachte sie an den Nil, wo er sie versenkte. Die Trennung von Büchern ist wohl eher symbolisch zu verstehen, als ein Zeichen für den Beginn des Lebens als Sufi. Der Sufi löst sich vom üblichen Leben, damit auch von der Weisheit der Bücher, um unvermittelt zu korrespondieren.
Nach dem Tod Scheich Ahlatîs wurde Bedreddin zu seinem Nachfolger, zum Scheich des Ordens, gewählt. Auf dieses Amt geht sein Titel Scheich zurück. In der Ahnenreihe des Klosters, dessen Leitung er übernahm, findet sich auch der Lehrer Ibn Arabîs Scheich Abû-Madyan-i Magribî. Ibn Arabî gehört inzwischen unbestritten in die Reihe der Bâtinî, der esoterischen Richtung in der islamischen Mystik. dass Ibn Arabîs Werke den Atem der Bâtini besitzen, ist nicht mehr von der Hand zu weisen, stellt A. Gölpinarli fest.
Rückkehr nach Anatolien
Gerade sechs Monate im Amt mußte er jedoch das Kloster wieder verlassen. Über die Hintergründe, die zu dieser Entscheidung führten, schweigt das Mânakibnâme. Bedreddin begab sich auf die Rückreise nach seiner Heimatstadt Edirne. Während seines Aufenthalts im Nahen Osten trug Bedreddin den Titel Bedreddin-i Rumî, Bedreddin aus dem Rhomäerland.
Inzwischen hatte die osmanische Armee in der Schlacht von Ankara gegen Timur eine schwere Niederlage erlitten, der Sultan Yildirim Beyazid war in Gefangenschaft geraten, das Reich der Osmanen wieder zerstückelt.
Auf der Rückreise soll Bedreddin auch Timur Lenk, dem Mongolenherrscher, begegnet sein, der diesen bekannten Gelehrten am liebsten in seine Hauptstadt Samarkand gelockt hätte. Ja, Timur wollte ihm sogar eine seiner Töchter zur Frau geben, ihm ein Land zu eigen überlassen und ihn zum „Scheich ül-Islam“, also zum obersten Religionshüter seines Reiches machen, heißt es in der Mânakibnâme. In den Quellen über Timur lassen sich diese Behauptungen jedoch nicht bestätigen. Bekannt ist jedenfalls, dass einige seiner Studienfreunde diesen Weg gegangen sind und in der Hauptstadt Timurs lehrten und forschten. J. Burckhardt bemerkt über die Bestrebung Timurs die Hauptstadt seines Reiches zu einem Bildungszentrum zu machen: „Hier möge überhaupt der Bedeutung gedacht sein, die ein anerkannter geistiger Tauschplatz, und zwar ein freier, hat. Wenn ein Timur alle Künstler, Handwerker und Gelehrten aus den von ihm verödeten Ländern und zernichteten Völkern nach Samarkand schleppt, so können solche dort nicht viel mehr als sterben.“ Es ranken sich Gerüchte, dass Bedreddin in einer Nacht- und Nebelaktion das Lager des Herrschers verlassen habe.
Bedreddin ging nach Anatolien. Seine Rückreise war eher eine Rundreise. Er bereiste die westanatolischen Städte Aydin und Tire, besuchte die Insel Chios und machte auch Halt bei dem „ewigen Feind der Osmanen“, dem Füsten Karamanbey. In der Stadt Kütahya machte er die Bekanntschaft der dortigen Torlaks. Hier lernte er wohl auch Torlak Hû Kemal kennen. Die Torlaks begleiteten ihn über Bursa und Gelibolu nach Edirne, seiner Heimatstadt. Doch bald brach er wieder auf, bereiste Bursa und wieder Aydin. Auffällig ist, dass sich seine Reiseziele mit den späteren Zentren der anti-osmanischen Ereignisse größtenteils decken.
Im Jahre 1407 oder 1408 starb seine Frau Gâzîbe in Edirne. Über die Jahre 1408 bis 1411 finden sich keine verwertbaren Informationen. Diese Lücke schließt das Mânakibnâme mit der Behauptung, Bedreddin hätte ein Büßerleben begonnen und hätte sich für viele Jahre in die Erde (in den Boden: d.Verf.) zurückgezogen. Wahrscheinlich waren es aber die politisch aktivsten Jahre Bedreddins. Anders ist es nicht zu erklären, dass Bedreddin 1411 zum Kadiasker (Heeresrichter) unter dem Sultanssohn Musa Tschelebi wurde, der im europäischen Teil die Macht erobert und sich zum Sultan der Osmanen ausgerufen hatte. Zu solch einem hohen Amt wird kein einsamer Büßer berufen, nicht in einer Zeit des heißen Krieges und der wechselnden Allianzen.
Der Kadiasker war zuständig für Klagen gegen Soldaten und für Streitigkeiten unter ihnen. Darüber hinaus bekleidete er oft auch das einflußreiche Amt der Kontrolle der staatlichen und privaten Stiftungen (vâkîf). Das machte ihn zu einem der wichtigsten Personen im Staate. Sein Einfluß überstieg den des Wesirs.
In dieser Stellung des Heerrichters erwarb sich Bedreddin unter dem Volk Rumeliens den Namen eines Heiligen, schreibt E. Werner. Wie er jedoch zu solch einem hohen Amt kam, wird in dem Mânakibnâme nicht konkret genannt. Zu vermuten ist, dass Bedreddin bereits als Mitstreiter Musa Tschelebis aus Ägypten zurückgerufen wurde und alsbald für diesen eine Werbereise in Westanatolien begann. Intrigen sollen ihn zum Verlassen des Klosters veranlaßt haben, behauptet das Mânakibnâme. Doch diese Behauptung soll vermutlich nur die These Halils stützen, sein Ahn wäre ein Geistlicher und kein politischer Rebell. Deshalb fehlen in dem Mânakibnâme auch konkrete Angaben für die Zeit bis zur Machtübernahme Musa Tschelebis.
Als infolge der Thronkämpfe Musa von seinem Bruder Mehmed Tschelebi geschlagen und getötet wurde, begann 1413 für Bedreddin eine Zeit der Verbannung. Die Art seiner Verbannung ist in den Chroniken sehr widersprüchlich wiedergegeben. Ungeklärt ist, ob er sich im Hausarrest befand, gefangengesetzt oder aber mit einer Rente „in einen vorzeitigen Ruhestand“ versetzt worden war. “Sein Ruf als Mystiker und Gelehrter war damals bereits so groß, dass Mehmed es nicht wagen konnte, ihn nach dem Sturz Musas härter anzufassen“, heißt es bei E. Werner. Angesichts der Tatsache, dass viele angesehene Mystiker und Gelehrte ohne viel Grund hingerichtet wurden, läßt eher vermuten, dass Bedreddin noch über gute Verbindungen und in Anbetracht der Aufstände auch über großen politischen Einfluß in der Region verfügte. Angesichts dieser breiten Unterstützung auf dem Balkan, die Bedreddin seitens fast aller osmanischen Quellen zugesprochen werden, bleibt auch die Frage unbeantwortet, wer der Mächtigere war, Bedreddin oder der Thronfolger Musa Tschelebi. Vermutlich konnte sich Musa Tschelebi nur durch die Unterstützung Bedreddins und weiterer europäischer Persönlichkeiten, wie Michailoghlu, den osmanischen Thron erkämpfen.
1416 jedenfalls floh Bedreddin aus dem Ort seiner Verbannung in Richtung Walachei, gelangte nach Silistre und tauchte, während die Aufstände unter der Führung Börklüdsche Mustafas in Westanatolien tobten, in Deliorman (heute Bulgarien) auf, vermutlich um den Aufstand neue Kräfte zuzuführen und ihn auf den Balkan auszuweiten. Als der Mehmed Tschelebi merkte, dass sich viele seiner Gegner um Bedreddin scharten, ließ er ihn bald festnehmen und 1420 in Serez (heute Griechenland) auf dem Marktplatz nackt ausgezogen öffentlich hinrichten. Er hatte bereits das Alter von sechzig Jahren überschritten.
Hinrichtung
Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Bewertung der Erhebungen bleibt die Art des Todesurteils gegen Bedreddins. Dabei geht es uns in erster Linie darum, ob aus dem kargen Urteil selbst („Sein Blut ist legitim, sein Besitz ist unrein.“) die Gründe abgeleitet werden können, warum Bedreddin sterben mußte. Wurde er also als Anführer einer Erhebung oder als Ketzer und Abtrünniger vom Glauben abgeurteilt?
Wie nicht anders zu erwarten, gehen auch in der Einschätzung der Gründe, die zur Hinrichtung Bedreddins geführt haben, die Meinungen stark auseinander. Dabei korrospondieren die einzelnen Standpunkte mit den jeweiligen Einschätzungen der Ziele der Erhebungen. Für I.Z. Eyüboğlu, E. Werner und andere waren die religiösen und politischen Ansichten Bedreddins ausschlaggebend. Das Mânakibnâme Halils hingegen spricht von einer Intrige gegen Bedreddin, einem Justizirrtum durch die Irreführung des Sultans.
Nach Angaben des Mânakibnâme wurde Bedreddin, weil für ein Todesurteil nach islamischem Recht keine Handhabe gefunden werden konnte, nach dem „örf“-Verfahren, also nach der Tradition abgeurteilt. „Es ist beachtenswert, dass überhaupt eine Verhandlung stattgefunden , ein fetwa eingeholt, aber auch, dass sein Eigentum unberührt blieb“ , kommentiert A. Mumcu in seinem Buch Osmanli Devletinde Siyasetten Katl (Hinrichtungen aus politischen Gründen bei den Osmanen) die Aburteilung Bedreddins. Das „örf“-Verfahren blieb in den meisten islamischen Staaten in modifizierten Formen lange Zeit neben dem islamischen Recht bestehen und bedeutete das abschließende Machtwort des Sultans. Diese Zweigleisigkeit in der Rechtsprechung ist mit darauf zurückzuführen, dass das jeweilige Sultanat noch nicht mit der theokratischen Vorstellung verschmolzen war und die feudalen Kräfte des Landes in einer relativen Freiheit von diesem existierten. Mit der Etablierung der Theokratievorstellung im Staate waren Einstellungen, die dem islamischen Recht (Scheriat) widersprachen wesentlich schwieriger durchzusetzen. Die Sultanate stützten sich schnell auf das dogmatische Sunnîtum, so dass mit der Verbindung der weltlichen und geistlichen Macht auch der Einfluß der Vertreter islamischen Geistlichkeit (ulema) deutlich zunahm. Die islamische Geistlichkeit zeigte wenig Verständnis für Positionen, die dem islamischen Recht widersprachen, auch wenn diese in der Person des Sultans auftraten. Dennoch blieb der Sultan immer auch ein Souverän. . Die Verurteilung Bedreddins nach dem „örf“-Verfahren war kein Einzelfall. So wurde unter der Herrschaft Süleymans I. (1402-1413) der Wissenschaftler (bilgin = Weiser, Wissender) namens Kaabiz vor Gericht zitiert, weil er als Propheten Jesus höher einschätzte als Muhammed. Da Kaabiz jedoch nach islamischen Recht nicht verurteilt werden konnte und freigesprochen werden mußte, wurde er nach Einspruch des Sultans ein zweites Mal vor Gericht gestellt. Mit der Begründung, seine Ansichten widersprechen dem sunnitischen Islam wurde er mit dem fetwa eines Kemal Paschazâde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch in diesem Fall wurde innerhalb eines „örf“-Verfahrens ein fetwa eingeholt. Dieses fetwa diente in späterer Zeit als Grundlage für die Verfolgung und Verurteilung vieler Mitglieder der Mystikergemeinde der Melamî. In der Zeit Mehmeds III. (1595-1603) wurde der Gelehrte Müderris Sari Abdurrahman, dessen Vorstellungen in der Frage des Prophetenranges übrigens Parallelen zu den Bedreddins und Kaabiz aufwiesen, ebenfalls durch ein solches fetwa verurteilt und 1603 hingerichtet. Diese Beispiele ließen sich fortführen.
Die Positionen, die Bedreddin von der Beteiligung an den Aufständen freisprechen, bleiben die Begründung seiner Hinrichtung schuldig.
Sie stützen sich auf die Vermutungen:
- der Sultan sei, was die Absichten Bedreddins betrifft, von einem Kreis von „Neidern“, wie Aschikpaschazâde sie nennt, irregeführt worden
- oder ein Kreis von Männern aus der Schicht der Ulema, also innerhalb des orthodoxen Klerus, habe einen Widersacher beseitigen wollen und hätte, die Gunst der Stunde geschickt nutzend, ihn zum Nebenbuhler des Sultans erklärt.
Warum aber hatten Teile der orthodoxen Geistlichkeit ein solches Interesse an der Beseitigung des bekannten Rechtsgelehrten Bedreddin?
Insgesamt lassen sich drei Begründungsstränge für die Hinrichtung Bedreddins ausmachen:
- Bedreddin strebte (wegen seiner großen Beliebtheit im Volke oder wegen seiner Zugehörigkeit zur Herrscherkaste) nach dem Sultansthron. Deshalb wurde er hingerichtet. Er war Anführer einer Erhebung gegen den Sultan.
- Bedreddin war ein hoher Gelehrter seiner Zeit und wurde wegen seiner freiheitlichen Gedanken seitens orthodoxer Kreise denunziert und hingerichtet.
- Bedreddin wurde Opfer einer Intrige seitens orthodoxer Kreise. Der Sultan fürchtete seinen Einfluß.
Sicher überliefert ist das Todesurteil: „Sein Blut ist legitim, sein Besitz ist unrein.“ Sein Leben darf ihm genommen, sein Besitz aber nicht angerührt werden. Wäre Bedreddin nur wegen dem Streben nach der osmanischen Krone hingerichtet worden, bliebe die Frage ungeklärt, warum überhaupt ein richterliches fetwa eingeholt wurde, aber auch, warum sein Besitz verschont geblieben ist. Gegen die zweite Position spricht die Tatsache, dass Bedreddins Bücher über die Rechtssprechung in unregelmäßigen Abständen abgeschrieben und auch lange Zeit in islamischen Lehranstalten gelehrt wurden. Diese Werke können daher nicht ausschlaggebend für die Hinrichtung gewesen sein. Sein mystisch-philosophisches Hauptwerk Vâridat hingegen blieb jahrhundertelang verboten, der Besitz dieses Werkes vielfach mit dem Tode geahndet. Es müssen dann eher die in Vâridat dargelegten Ansichten Bedreddins gewesen sein, die auf den Widerspruch der islamischen Geistlichkeit stießen. Diese Tatsache spricht wieder für die zweite und dritte Position.
Es erscheint an dieser Stelle nützlich, das islamische Recht auf die Handlungen hin näher zu betrachten, bei denen man das Leben verwirken konnte. Das Blut eines Muslims ist in drei Fällen freigegeben: bei Apostasie nach dem Glauben, bei Unzucht nach legitimer Eheschließung und bei einem nicht als Blutrache verübten Mord (Bukhari; Muslim).
Die Gelehrten der verschiedenen islamischen Rechtsschulen befinden sich im Einklang darüber, dass der Abfall vom Glauben mit der Hinrichtung des Abtrünnigen geahndet werden muß, denn die Apostasie gilt als Auflehnung gegen Gott und als Aufkündigung der Mitgliedschaft in der islamischen Gemeinschaft und damit als eine direkte Gefährdung dieser Gemeinschaft in ihrem Bestand. Eine eindeutige Ableitung aus dem Koran besteht jedoch nicht. Der Tatbestand der Apostasie ist durch rechtsrelevante Tatsachen festzustellen. Als Apostasie zählen z.B. eindeutige Äußerungen und Taten in bezug auf: Lästerung Gottes, das Beschimpfen des Propheten Muhammed, das Leugnen unstrittiger religiöser Pflichten, das Leugnen der ausdrücklichen Speiseverbote des Islams, aber auch die Anbetung von Idolen (also das Beigesellen), die verächtliche Behandlung des Korans, die Ausübung der Zauberei und das aus Überzeugung vorgenommene sich Anschließen an die Feinde des Islams. Man erinnere sich an die Darstellung der Erhebung als ein Zusammentreffen der Muslime mit den Feinden des Islams durch den Chronisten Schükrüllah.
Die Feststellung der Apostasie muß eindeutig sein. Nach der Rechtsschule der Malik heißt es: Wenn jemand etwas tut oder sagt, was auf 99 Weisen als Unglaube und nur auf eine Weise als Glaube gedeutet werden kann, so ist die Sache als Glauben zu deuten.
Was den Besitz betrifft, betrachtet die Mehrheit das Recht des Abtrünnigen auf sein Eigentum weiterhin als bestehend. Dabei unterscheidet die Rechtsschule der Hanifiten zwischen dem, was der Verurteilte vor und was nach der Apostasie erworben hat.
Doch der Abfall vom Glauben ließe sich bei Bedreddin unschwer beweisen. Zieht man die Werke Al-Ghazalis heran, der in seinem Werk „Tahafut At-Tahafut“ (Die Inkohärenz der Philosophen) eine Liste von 20 Kardinal-Irrlehren zusammenstellt, die von den graecphilen Philosophen des Islams (z.B. Al-Kindi, Al-Farabi und Avicenna) begannen wurden. 17 dieser Irrtümer wurden von Al-Ghazali als häretische Neuerungen aufgeführt, die restlichen drei in die Sphäre des Glaubensabfalls zugerechnet. Diese drei Irrlehren sind:
- die Annahme, dass die Allwissenheit Gottes nur das Allgemeine, nicht aber das Besondere umfasse (Kurz: Gott weiß zwar, was Zahnschmerzen sind, kann sie aber nicht nachempfinden);
- die Annahme, dass am Tage des Jüngsten Gerichts die Seelen und nicht die Körper gerichtet, bestraft oder belohnt werden (Kurz: die Behauptung, es gebe keine körperliche Auferstehung);
- die Annahme, dass die Welt ewig sei.
Zumindest die Annahmen 2 und 3 gehören, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, zu den zentralen Thesen, die Bedreddin in seinem Werk Vâridat vertritt, so dass er zumindest nach Al-Ghazali als ein Abtrünniger zu behandeln wäre.
Bei der Aburteilung Bedreddins treffen wohl zwei Gründe zusammen. Zum einen war er in die Erhebungen gegen die osmanische Krone involviert. Zumindest stellte er eine Gefahr für den Sultan dar. Andererseits handelte es sich bei ihm um einen hohen Gelehrten seiner Zeit, zugleich um einen geistlichen Würdenträger, der eines der diesbezüglichen höchsten Ämter bekleidet hatte. Er war jedoch auch weiterhin ein einflußreicher und im Volke sehr beliebter Mystiker und Ordensführer, dessen unorthodoxe Vorstellungen bekannt waren. Daher erscheinen die Versuche, aus dem fetwa alleine abzuleiten, er sei an den Aufständen selbst nicht beteiligt, weit hergeholt. Angesichts der Tatsache, dass seine rechtswissenschaftlichen Werke eine sehr lange Zeit noch Verwendung fanden, können es nicht diese gewesen sein, die die orthodoxen Kräfte zum Handeln veranlaßten, sondern eher seine in Vâridat dargelegten Vorstellungen, die die Grundannahmen der islamischen Religion betreffen. Sie alleine hätten die rasche Hinrichtung Bedreddins nicht alleine begründet, da er bereits einmal - nach der Niederlage Musa Tschelebis -mit dem Leben davongekommen war und wir nicht mit Sicherheit wissen, ob das Werk Vâridat bereits bekannt war.
Bedreddins Werke
Trotz der Fülle der Literatur über Bedreddin, der vielen Monographien und der kaum mehr zu überblickenden kleineren Arbeiten und Würdigungen liegt bis heute keine geschlossene Aufarbeitung der Werke und somit auch der Theologie Bedreddins vor. Diese Lücke kann auch im Rahmen dieser Arbeit nicht geschlossen werden. Überhaupt war Bedreddin längst nur noch ein Mythos. Seine Anhänger waren, zumindest nach den offiziellen fetwas orthodoxer Gelehrter und Religionsoberhäupter (Scheich-ül-islam), Ungläubige und Unruhestifter, die blutigst verfolgt werden sollten und wurden. Die Bedreddinforschung begann dann sehr spät, in der Hauptsache in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, zunächst mit F. Babinger, Ş. Yaltkaya, A. Gölpinarli und F. Köprülü. Ein unvollendeter Kommentar (şerh) Muhammed Nur´s, dem vielleicht wichtigsten Sufi der letzten Jahrhunderte, zu Vâridat war nur wenigen zugänglich. Auszüge finden sich bei A. Gölpinarli. Obwohl F. Babinger die Werke Bedreddins fast vollständig ignoriert, gebührt ihm doch die Auszeichnung, diese Person wieder ans Tageslicht gebracht zu haben.
Eine Liste der Werke Bedreddins enthält das Mânakibnâme des Halil und die Chroniken des Taschköprülüzâde. Diese sind: 1. Ukudü´l-cevâhir, 2. Latâif-ül Işârât, 3. Camul ´ul fusû´leyn, 4. Teshil, 5. Nûrü´l kulûb tesfiri und 6. Vâridat.
Die umfangreichsten Arbeiten Bedreddins betreffen das Gebiet der Rechtsprechung. In Camul ´ul fusû´leyn, einem breit angelegten Werk, das in seiner Zeit als Heeresrichter des Musa Tschelebi (1413) innerhalb von zehn Monaten verfaßt wurde und vermutlich für die Hand des Richters bestimmt war, begründet er seine Auffassung von der Unabhängigkeit des einzelnen Richters gegenüber der Tradition und der weltlichen Macht (den Herrscher eingeschlossen). Er erklärt darin eine Urteilsfindung, die nicht auf der eigenen Überzeugung des Richters gründet, sondern aufgrund der Überzeugung einer anderen Person zustande gekommen ist, als verwerflich und sündhaft. Er bestärkt den Richter, auch beim Heranziehen traditioneller Urteile, die veränderten Rahmenbedingungen in die Urteilsfindung einzubeziehen. Der Versuch Bedreddins, eine Zweiteilung der Macht durch die Stärkung der Autonomie des Rechts zu erreichen, findet sich erst wieder fortgesetzt mit dem Mecelle-i Ahkâm-i adliye. Das Werk wurde in den Jahren 1869-1886 im Zuge des Übergangs zur konstitutionellen Monarchie in der Endzeit des osmanischen Reiches zusammengestellt.
Bedreddin strebte in seinem Rechtswerk nach allgemeingültigen Aussagen und Standortbestimmungen, während sich die juristischen Handbücher bis in das 19. Jahrhundert hinein eher auf eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Fällen und Urteilen beschränkten. Da mir die juristischen Werke Bedreddins selbst nicht zugänglich sind, beschränken sich die Angaben auf die wenigen Ausschnitte, die bei Ş. Yaltkaya und N. Kurdakul wiedergegeben sind.
Weil Bedreddin sich nicht mit der Zusammenstellung bestehender Urteile begnügte, sondern nach Grundsätzen für die Urteilsfindung suchte, gehört er für N. Kurdakul zu den bedeutendsten Juristen des Landes. Er bezeichnet die Vorgehensweise Bedreddins als zukunftsweisend. Die herausragende Rolle Bedreddins in der Rechtsgeschichte ist nicht von der Hand zu weisen. Dies bestätigen auch die vielen Abschriften, die bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts hinein von seinen Werken hergestellt wurden. Besonders oft wurden die Werke Camul’ ul fusu’leyn und Teshil, die beide jeweils ca. tausend Seiten umfassen, abgeschrieben. Es liegen noch mindestens zehn undatierte Abschriften dieser Werke vor. Während von den juristischen Werken in unregelmäßigen Abständen neue Abschriften angefertigt wurden, wurde das im Vergleich bescheiden anmutende Büchlein Vâridat von seinen Anhängern sorgsam verborgen gehalten, der Besitz von der orthodoxen Geistlichkeit unter Strafe gestellt. Aber auch das Infragestellen der Tradition in der Urteilsfindung des Richters und die Möglichkeit, das tradierte Recht notfalls nach den Bedingungen der Zeit abzuändern, mußte die Konservativen unter der Geistlichkeit empören.
Bei Teshil, das er 1415 beendete, handelte es nach den eigenen Angaben Bedreddins um einen Kommentar des eigenen Rechtswerkes Latâif-ül Işârât, in dem er sich mit der juristischen Wissenschaft auseinandergesetzt habe. Über die Entstehungsgeschichte des Teshil schreibt er: „Ich, der als Sohn des Richters von Simavne bekannte Mahmud, Sohn Isra´ils, ein schwaches Geschöpf Gottes: Er soll ihn von den Händen der Unterdrücker und ihrer Helfer retten, seine Schande bedecken und Trauer und Unglück von ihm abwenden und entfernen. Gott ermöglichte mir, mein juristisches Werk mit dem Titel Latâif ül-işârât fertigzustellen (...) Dem Leser fiel es schwer, dieses Werk zu verstehen. Um das Verständnis der Gründe, die zum Verfassen Anlaß waren, zu erleichtern, darin enthaltene und schwer verständliche geheime Bedeutungen zu klären und die diesbezüglich festgestellten Stellen zu abzuarbeiten, aber auch um eine negative Aufnahme meines Buches zu verhindern, habe ich ohne Zögern mit ihrer Erklärung und Interpretation begonnen (...) Dabei habe ich an die Tausend feine und kleine juristische Angelegenheiten mitgeteilt. Die Bemerkungen, die ich mit Ekval betitelt habe, stammen, falls keine anderen Hinweise vermerkt sind, von mir (...) und sind keine Wiedergabe von Erzählungen oder nur auswendig Gelerntes“.
Das Werk selbst ist weiterhin verschollen. Es scheint auch zunächst nicht positiv aufgenommen worden zu sein, weshalb er sich wohl auch genötigt sah, der negativen Aufnahme, durch eine erkärende Selbstkommentierung seines Werkes, den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Vâridat
Das Mittelalter besaß gegenüber den individualistischen Tendenzen der neuzeitlichen Renaissance noch einen ausgeprägten sozialen Charakter. Der Einzelne fand sich eingegliedert in Kirche, Zunft und Sitte. Nicht der Mensch als solcher, nicht die unmittelbare Wirklichkeit, sondern die Welt des Glaubens, der Lebensgestaltung und die Erwartung des Jenseits dominierte. Der Glauben und seine Institutionen waren Heilsanstalten, die, universalistisch und kosmopolitisch gestimmt, über Seligkeit und Verdammnis des Einzelnen befanden. Die Rolle der Kirche übernahm im Islam die gläubige Gemeinde, darin sichtbar der Richter, der religiöse Würdenträger und die Überlieferungen (Hadith). Die islamische Geisteswissenschaft des Mittelalters konzentrierte sich hauptsächlich auf die Schriftauslegung. Sie beschränkte sich dabei vor allem auf die Interpretation abstrakter Begriffe aus dem Koran oder den Überlieferungen (Hadith). Dabei dienten ausgewählte Zitate aus diesen Werken als Zeugen für die eigene Auslegung, die zumeist auch anhand konkreter Beispiele dargelegt wurden, denn experimentelle Analysen waren verpönt und verboten. Erscheinungen waren auf der Grundlage des Korans und der Vorstellung Gottes als Erschaffer und Leiter dieser Prozesse zu betrachten. So anerkannte auch Bedreddin den Koran und die Überlieferungen als Basiswerk. Nur verhält es sich mit diesen Werken so, dass sich mit ihnen, je nach Auswahl und Herangehensweise, fast jeder Gedanke ohne große Probleme verworfen aber auch bestätigt werden kann.
Zwar tritt Bedreddin auch für eine konkrete Wissenschaft ein, ging aber nicht weiter darauf ein. Nach bisherigem Wissensstand über die Studienzeit Bedreddins, gehörte die Interpretation abstrakter religiöser, philosophischer und ethischer Begriffe zum Inhalt seines Studiums. Er galt als ein hervorragender fikh-Gelehrter. Fikh-Gelehrte leiteten das Wissen über die weltlichen und jenseitigen Angelegenheiten aus dem Koran und dem Hadith ab.
In seinem religiös-philosophischen Werk Vâridat bleibt Bedreddin in seiner Themenwahl und in der Methode dieser Tradition treu und konzentriert sich auf die urreligiösen Themen Erschaffung, Universum, das Verhältnis Gott-Mensch, Engel, Träume, Glaubensvorschriften, Tod und Jenseits. Vâridat ist ein Wort arabischer Abstammung und hat die Bedeutungen „Erinnertes“, „das an das Innere Scheinende“, „Einsichten“. Vâridat ließe sich ohne Probleme auch als „Offenbarungen“ wiedergeben. Vâridat ist eine Schriftgattung, die sich ausschließlich mit religiösen Fragen im sufistischen Sinne befaßt und den Eindruck einer Art vom sufistischem Katechismus macht. Ş. Yaltkaya schreibt über den Typus des Vâridat: Die Sufis machen eine Reihe geistiger Stadien durch, die sie das Beschreiten des Pfades (sülük) nennen. Den Träumen, die sie in den verschiedenen Stadien dieses Pfades haben, aber auch den Eingebungen in der Meditation, messen sie eine große Bedeutung bei. Sie deuten diese als himmlische Zeichen und als die unsichtbare geistige Inspiration. Genauso wie Politiker ihre Memoiren schreiben, tragen sie diese Inspirationen unter den Namen Vâridat oder Vâkiat zusammen.“
Ş. Yaltkaya beurteilt den Vâridat Bedreddins sehr hastig. Er schreibt: „In diesem Buch, das für viel Unruhe gesorgt hat, gibt es keine einzige Orginalität. Bedreddin hat in seinem Buch keinen einzigen neuen Gedanken formuliert.“ H.-J. Kissling schließt sich dieser Meinung an. Allein jedoch die Tatsache, wie intensiv und wieviele Jahrhunderte hinweg um dieses Werk gestritten wurde, dürfte genügen, die Bedeutung dieses Werkes aufzuzeigen. In diesem Werk spricht Bedreddin seine Thesen deutlich aus, wie z.B. die Relativierung der Begriffe des Jüngsten Gerichtes und damit zusammenhängend die Ablehnung der Schöpfungsgeschichte. Mag sein, dass diese Vorstellungen sich innerhalb der Sufivorstellungen im Rahmen der islamischen Mystik wiederfinden lassen. Auch die Nähe zwischen den Vorstellungen Bedreddins und Ibn Arabîs ist kaum zu bestreiten. Trotzdem sind diese Ideen mit all ihrer Konsequenz dargelegt und diskutiert worden. Sie mögen nicht neu sein. Auch alte, längst dargelegte Gedanken werden neu, wenn sie zur rechten Zeit und am richtigen Ort wiederholt werden. Deshalb kann auch Ş. Yaltkaya nicht umhin, zu formulieren: „weil Bedreddin diese Gedanken zum ersten Mal in die Welt des Tasavvuf brachte, wurde er abgeurteilt“.
Das Werk Vâridat polarisierte seine Leser stark. So schrieb Nureddin Zâde Muslihüddin Mustafa (gest. 1573), ein Anhänger des Balî aus Sofia (Balî war selbst Opfer der islamischen Inquisation ): „Die von Bedreddin stammende und als »Vâridat« bekannte Abhandlung ist eine Probe für den Menschen. Man kann es nur ablehnen oder anerkennen. Ein Teil des Volkes ist der Abweichung heimgefallen und hat diejenigen, die ihnen folgten vom rechten Weg abgebracht. Ein Teil hat geschwiegen, weil es die Stützen des Islam nicht kannte, ja selbst von diesen [Schweigenden: d.Verf.] glaubte ein Teil, dass auch die Weisen wie Seyh-i Ekber [Ibn Arabî: d.Verf.] von seinem [Bedreddins: d.Verf.] Glauben sei. Gott behüte, können sich Tiere zu Engeln gesellen?“
Nureddin Zâdes Worte lassen erahnen, welche Bedeutung diesem Werk lange Zeit zukam. Für Yavsî Muhammed Muhiyiddîn Imâdi (gest.1516), der Vater des berühmten Scheich-ül-islam Kanunî Sultan Süleymans, Ebussuûd Efendi, ist Bedreddin ein Sultan in den Reihen der Wissenden von Gott und Glauben. Er lobt das Werk Vâridat in höchsten Tönen. Ganz anders der Sohn, Ebussuûd Efendi, der als ranghöchster Geistlicher zur berühmtesten Figur islamischer Inquisition emporstieg. Er übte dieses Amt von 1545 an über 30 Jahre aus. Auf ihn gehen Bedreddin und sein Vâridat betreffende Rechtsurteile zurück, worin die Anhänger Bedreddins als offenkundig Ungläubige eingeschätzt wurden, die getötet werden müssen.
Am Ende des Yavsî-Kommentars findet sich ein weiterer Text in arabischer Sprache zugefügt: „Diese Zeilen wurden aus der Schrift unseres Herren, dem weisen Scheich Filibeli Halvetî Nureddin Zâde übertragen, gesegnet sei sein Geheimnis. Dieser sagte: Dank sei Gott, dass er uns mitteilte, dass das deccâl [das einäugige Ungeheuer, das am Tage des Jüngsten Gerichts auftauchen und alle Muslime töten soll: d.Verf.] erscheinen werde, und dass er uns die Befähigung gab, zwischen denen zu unterscheiden, die den rechten Weg gefunden haben und denen, die davon abgekommen sind; durch seine geliebten Propheten und mit der geistigen Führung des Sultans der Gottfürchtigen, Muhammed kündete er in seinem die Wahrheit erklärenden Buch [dem Koran: d.Verf.], dessen Bedeutungen unmißverständlich sind, die Nachricht von der großen Auferstehung, ihren Zeichen und die Nachricht von der Erweckung der verfaulten und verfallenen Leichen.“ Über das Werk Vâridat führt er fort: „Dieses Buch gehört dem als Sohn des Simav bekannten Scheich Bedreddin, dessen Gebeine sich bis zum Tage des Jüngsten Gerichts auf der vom Weg abgekommenen und den Menschen vom richtigen Weg abbringenden Welt in Auflösung befinden. In diesem Buch hat er die Auferstehung geleugnet, die Unanfänglichkeit der Welt [auch des Universums: d.Verf.] festgestellt, denn er glaubte, dass seine miserablen Einbildungen die Erfindungen des unvergänglichen Gottes auf der vergänglichen Welt seien. Doch handelt es sich dabei um die Verlockungen des Fleisches, das dem Schlechten nachhängt. Es sind Sachen, die sich der Teufel ausgedacht hat. Alle von seiner Sorte sind vom rechten Weg abgekommen.“
Interessant ist diese Zufügung, weil sie selbst wieder zusätzliche Randnotizen enthält, die zeigen, dass die Diskussion des Werkes über viele Jahrhunderte hinweg weitergeführt wurde und dieses Werk das gleiche Merkmal trägt, wie sein Verfasser, nämlich stark zu polarisieren. Somit kann man Nureddin Zâde nur zustimmen, dass dieses Werk wohl seine Leser vor die Probe des Zustimmens und Ablehnens stellte. H. Er bemerkt in der Einleitung zur Neuausgabe von Ş. Yaltkayas Arbeit über Vâridat, dass man alle, die über Vâridat ihre Meinung kundtun in zwei Gruppen einteilen könne: Diejenigen, die Vâridat loben und diejenigen, die es herabsetzen.
Wichtig ist dem Yasvî-Kommentar ein ebenfalls in arabischer Sprache zugefügter weiterer Text eines gewissen Dschan, der hier wiedergegeben wird. Dieser äußerte die Vermutung, dass sich hohe Geistliche genötigt sahen, sich öffentlich von Bedreddin und seinem Werk zu distanzieren, um möglichen Repressialien aus dem Weg zu gehen.
„Die Worte dieses Scheichs sind nicht mit Einsicht gesagt. Ich glaube, er hat mit der Zunge gesagt, was sein Herz nicht teilt, denn er, auch sein Ahn, der weise Scheich, hingen dem Seyh-i Ekber Ibn Arabî an, gesegnet sei sein Geheimnis, lehrten seine Bücher, insbesondere das Buch mit dem Titel Füsus ül-Hikem, ließen es von ihren Schülern merken, verlangten, dass diese gelesen wurden und liebten ihn so, wie sie das Leben in ihrem Körper liebten. Dieses offenbart, dass dieses Wort nicht mit Einsicht, sondern dem Volke zuliebe gesagt wurde. Denn alle Bücher des Seyh-i Ekber sind über die Einheit (tevhid) (...) Auch die Worte des Bedreddin, der diese Wahrheit erreicht hat, gesegnet sei sein Geheimnis, auch seine Kommentare dieser Worte, sind wie seine [also Ibn Arabîs: d.Verf.] Worte. (...) Dieses schrieb Dschan.“
Dem Urteil Dschans schließt sich dann auch A. Gölpinarli an: „Die Worte des Dschan sind wirklich richtig. dass Nureddinzâde Ibn Arabî achtet, Bedreddin aber mit scharfen Worten attackiert, ist nur kontradiktiv zu nennen.“
Weiter gibt Ş. Yaltkaya eine Anektode wieder, die aufzeigt, wie die orthodoxen Kreise gegen dieses Werk immer polemisierten: Ibn Arabî bekam, während er den Sommer in Manisa verbrachte, Besuch von einem Imam, der einen schlimmen Geruch verbreitete. Als sie an seinen Kleidern nichts finden konnte, fiel ihm „Vâridat“ aus der Tasche. Ibn Arabî untersuchte es und sagte, dass der schlechte Geruch von diesem Buche komme und dieses daher verbrannt werden müsse. Der Imam weigerte sich. Als der Imam sich umdrehte, bemerkte er, dass in diesem Moment sein Haus brannte.
Vom Scheichülislam der Jahre 1846-1854, Hadschi Ahmet Arif Hikmet Efendi, wird berichtet, dass dieser, falls er von der Existenz einer Ausgabe des Vâridat Bedreddins hörte, dieses aufkaufen und verbrennen ließ.
In der islamischen Geisteswelt wird in der Einschätzung einiger Gelehrter, wie z.B. Ibn Arabîs, ein intensiver Streit darüber geführt, welchem politischen Lager sie zuzurechnen sind. Berühmtheiten hat man lieber im eigenen Lager als an einem anderen Ort. Zunächst bemühten sich die islamisch-orthodoxen Gelehrten Ibn Arabî anzuerkennen und Bedreddin abzulehnen. Heute hat sich die Lage gewandelt. Das islamische Lager in der Türkei versucht gegenwärtig mit Vehemenz den Gelehrten Bedreddin aus dem heterodoxen Lager herauszulösen und in das islamische Lager zu intergrieren.
Über die Form des Vâridat
Das Vâridat Bedreddins läßt keine klare Gliederung erkennen. Als roter Faden zieht sich die Darlegung eines inneren Sinnes bzw. der tieferen Bedeutung religiöser Begriffe aus den heiligen Schriften. Dabei widersprechen sich viele Absätze derart, dass wir zunächst vermuten müssen, dass es sich bei dieser Arbeit um eine nachträgliche Zusammenstellung seiner Vorträge handelt, die vermutlich durch seine Schüler zusammengetragen wurden. Dabei mischen sich verschiedene literarische Elemente: Exempel, Sprichwörter, Zitate, Gebete. Die Erzählform liegt nahe, wenn es sich - wie auch A. Gölpinarli meint - um Antworten auf Fragen handelt, die während einer Vorlesung, möglicherweise von seinen Schülern, gestellt wurden.
Eine Sorgfalt in der Argumentation, in der Gliederung und bei der detaillierten Zeitangabe, die seinen übrigen Werken nachgesagt wird, ist nicht zu erkennen. Dieses veranlaßt N. Kurdakul zu der Annahme, dass dieses Werk nicht von einem so bedeutenden Juristen stammen könne.
Vâridat ist tatsächlich ein Konglomerat häretischer Vorstellungen und Gedankengänge, die mit einem feinen Netz aus allgemeingebräuchlichen religiösen Floskeln, Hinweisen auf die Worte des Propheten, auf heilige Bücher und Texte verdeckt gehalten sind. Das Heranziehen anerkannter Werke diente sicherlich auch der persönlichen Absicherung des Autors. Die weiter oben zitierten Erläuterungen Bedreddins zu seinem Werk Letâif ül-işârât klingen selbst nach einer Verteidigungrede. Er fühlte sich genötigt, einem negativen Urteil zuvorzukommen. Es ist aber auch die Methode der Zeit.
Während N. Kurdakul aufgrund formeller Kriterien das Werk Vâridat den Schülern Bedreddins zuschreibt, weist B.N. Kaygusuz zurecht auf die Gefahren allzu freier Meinungsäußerung hin: „Doch sollten wir mit Erbarmen bedenken“, schreibt er, „dass es in unserer Zeit relativ leicht ist, alles zu sagen. Doch vor 500 Jahren, in einer Zeit als man selbst im Westen daran glaubte, dass die Erde eine unbewegliche Scheibe darstelle und der Despotismus und der Fanatismus am meisten verschmolzen waren, war es sehr gefährlich, jede Wahrheit offen auszusprechen und den Menschen Richtungen aufzuzeigen, die sie noch nicht verstanden. Bedreddin, so ist zu vermuten, hätte später seine Anschauungen vervollkommnet. Nur haben die von uns etwas bagatellisierten Wahrheiten im Vâridat und seine freien Gedanken und Glaubensansichten diesem großen türkischen Mystiker, in der Bürde seines politischen Amtes, keine Zeit und Möglichkeit gelassen, weiterzuschreiten und haben ihm das Leben gekostet.“
Vâridat ist kein Werk der Rechtswissenschaft. Daher sollte es trotz aller Kritik gegenüber der Form nicht unbeachtet bleiben, dass es sich bei diesem Werk zunächst um eine ganz andere Textgattung handelt, die eine ganz andere Zielgruppe hat. In den Sufikreisen wurde es denn auch durchaus positiv aufgenommen. Bei dem Chronisten Taschköprülüzâde heißt es über Bedreddin und sein Vâridat: Die zwei Werke in der Wissenschaft der Mystik mit dem Titeln Meseret-ül kulûb [ein Werk Ibn Arabîs: d.Verf.] und Vâridat sind außergewöhnliche Werke, die keiner bewerkstelligen kann, und beide befinden sich in seinem Vâridat.“ Bedreddins Werk wird hier zu den Basiswerken der Mystik gezählt und er in seinem Rang in diesen Kreisen mit Ibn Arabî gleichgesetzt.
Natürlich werden von einigen Autoren auch Vermutungen geäußert, warum der Rechtswissenschaftler Bedreddin solch ein mystisches Werk verfasst habe. B.N. Kaygusuz vermutet, dass eine Veränderung in den Ansichten des Scheichs dieses Werk erklären könnten. Solche Vermutungen können erst dann sicher geklärt werden, wenn die Werke Latâif-ül Işârât und Camü-ul fusûleyn gemeinsam mit Teshil auf die in Vâridat vertretenen Thesen hin untersucht werden. Die von Bedreddin selbst gemachten Angaben in Teshil besagen jedenfalls, dass die Themen, mit denen sich das Werk beschäftigt, sich keinesfalls von denen im Vâridat unterscheiden. In Vâridat wendet sich Bedreddin vermutlich den gleichen Themen zu, jedoch eher von einem religiös-philosophischen Blickpunkt heraus.
Im Vâridat stellt Bedreddin Elemente orthodoxer wie auch sufistisch-heterodoxer Anschauung meist unvermittelt nebeneinander. Seine Argumente bestreitet er zumeist aus den heiligen Schriften des Islams. Paradoxerweise finden sich selbst die Gedankengänge, die von einem orthodoxen Standpunkt her die Grundlage für ein Todesurteil hätten bilden können, mit Stellen aus dem Koran und den Überlieferungen belegt. Wo er seine Thesen nicht mit einem Beleg aus den heiligen Büchern absichern kann und er mit seiner Ansicht in einen offenen Widerspruch mit der sunnitisch-orthodoxen Betrachtung zu geraten droht, weicht er aus. Die Botschaft sei verschleiert, behauptet er. Dieses Vorgehen rechtfertigt er gleich zu Beginn des Werkes. Er verweist auf den „wissenden Sufi“. Dieser könne gezwungenerweise dem Volke seine Botschaft nur in einer verständlichen und zugleich auch verschleierten Form erklären. Seine Quellen hält er aber geheim. Macht er sie bekannt, bringen sie ihn um. Es ist sehr undeutlich, ob Bedreddin mit „sie“ die herrschenden Kräfte oder die herrschende Meinung seiner Zeit anspricht, so dass dem „wissenden Sufi“, der seine Quellen offenlegt, auch seine eigenen Zuhörer hätten zur Gefahr werden können.
Die heterodoxen Sufis waren sich in der Regel durchaus bewußt, dass es gefährlich werden konnte, ihre letzten Mysterien denen zu enthüllen, die nicht ihren mystischen Pfad (tarikat) durchschritten hatten. Der Druck, dem sich oppositionelle Gelehrte ausgesetzt fühlten, war wohl stark genug und zwang in der Folge viele, ihre Thesen mit doppeldeutigen Ausdrücken, Anspielungen sowie mit dem Mittel des Paradoxen zu verhüllen.
Doch wäre es zu einfach, in den mehrdeutigen Anspielungen in der mystischen Literatur lediglich eine Schutzmaßnahme des Autors zu sehen. Besonders das Paradoxe war nicht zuletzt auch eine vielfach angewandte Methode innerhalb der Mystik und ein durchaus wiederkehrender Baustein dieser Esoterik. Der Insan-i kâmil (der erfahrene, weise, wissende Mensch), dem die Geheimnisse hinter den Wörtern, Gleichnissen aber auch hinter den Erscheinungen bekannt sind, der hinter den „Schleier“ blicken kann und sich durch diese „Einsicht“ von den übrigen Menschen abhebt, ist ein fester Bestandteil bedreddinischer und heterodox-mystischer Lehre. Die Vorstellung von einem Schleier, der die Wahrheit verhüllt, findet sich auch in der orthodoxen Mystik, die jedoch weiter auf der strengen Erfüllung des Verhaltenskodexes beharrt, die der Koran und die Überlieferungen dem Einzelnen vorschreiben. Wir halten viele dieser Ansichten für gnostisch im Sinne der außerordentlichen Rolle, die dem Erkennen darin zukommt.
Die vorliegenden türkischsprachigen Übersetzungen des Vâridat sind sehr unterschiedlich in Gliederung und Begrifflichkeit. Zudem machen sie keine gesicherten Angaben über ihre Quellen. Es wäre daher oft angebrachter, von diesen Übersetzungen als kommentierte Wiedergaben zu sprechen. Da weder das Orginal noch eine Abschrift zugänglich waren, werden in dieser Arbeit nur Aussagen verwendet, bei denen sich die verschiedenen Übersetzungen größtenteils decken. Deshalb wird im folgenden Abschnitt auch auf Orginalzitate aus dem Vâridat verzichtet. Wörtliche Entnahmen aus den Übersetzungen sind kursiv dargestellt.
Die Thesen Bedreddins (Vâridat)
Die Vorstellungen, die Bedreddin in seinem Werk Vâridat darlegt, heben sich zwar nur in wenigen Positionen von den üblichen Arbeiten im Rahmen der islamischen Mystik ab, doch diese wenigen betreffen die Kernfragen des islamischen Weltbildes. Sie lassen sich anhand seiner Ausführungen im Vâridat als Thesen formulieren:
- Der Prophet ist notwendigerweise ein Didakt.
- Das Jenseits und die Auferstehung sind als Symbole aufzufassen. Sie sind keine Wahrheiten im naturalistischen Sinne.
- Die beiden Welten, das Diesseits und das Jenseits, sind zeitgleich. Es handelt sich bei diesen um parallele Welten.
- Die Begriffe Hölle, Paradies, Sünde und Wohltat haben lediglich eine symbolische Bedeutung.
- Es gibt keine Wieder-Auferstehung ehemals toter Körper.
- Der Sinn einer Handlung ist immer der Form vorzuziehen.
- Am Ende des Pfades der Erkenntnis steht der wissende Mensch. Dieser ist der von den Formen und Formalien der Welt befreite Idealmensch (Insan-i kamil).
Das Dilemma der Propheten
Die Propheten sind auch für Bedreddin zweifelsohne Abgesandte Gottes. Sie müssen sich jedoch bei der Verkündung göttlicher Wahrheit der Vielfalt in der menschlichen Verstehenskraft anpassen, um überhaupt verstanden zu werden. Eine Konsequenz dieser These Bedreddins ist, dass die heiligen Schriften somit auf die Stufe des menschlichen Verstandes geholt werden und somit das Unzulänglichkeiten des Menschen gegenüber Gott teilen. Wenn das geschriebene oder überlieferte Wort der Propheten das Resultat einer pädagogischen Reduktion widerspiegelt, sind sie nicht mehr wörtlich zu befolgen, sondern stets nach ihrem Sinn zu befragen. Ihre Bedeutung ist offen.
Bedreddin vertritt, dass jeder Mensch nur im Maße seiner Erkenntnisfähigkeit begreifen könne und der einfache Mensch deshalb auf Bilder und Gleichnisse angewiesen sei. Der Koran liefert dieser Vorgehensweise in der Sure 2,26 eine gewisse Legitimität, doch der Boden ist sehr wacklig. Hier heißt es: „Gott schämt sich nicht, irgendein Gleichnis zu prägen, sei es auch mit einer Mücke. Diejenigen nun, die glauben, wissen, dass es die Wahrheit ist (und) von ihrem Herren (kommt). Diejenigen aber, die ungläubig sind, sagen: `Was will Gott mit einem solchen Gleichnis?´ Er führt damit viele irre. Aber er leitet damit (auch) viele recht. Und nur die Frevler führt er damit irre“. Diese Sure wird auch von orthodoxer Seite herangeführt, um die sogenannten „Haarspalter“ zu kritisieren, diejenigen die die Gleichnisse zum Gegenstand genauer Überlegungen und Interpretation machen und sich nicht mit der buchstabengetreuen Bedeutung zufriedengeben.
Der Umgang mit der Heiligen Schrift beschäftigt auch Baruch Spinoza, Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie aus Spanien. In seinem „Theologisch-politischem Traktat“ weist auch Spinoza auf das Dilemma hin, dass man die breite Masse nicht durch einen Appell an die Vernunft anspricht, sondern durch Anregung der Einbildungskraft, in Sinnbildern, Gleichnissen und Parabeln. So müsse die Heilige Schrift in zweierlei Sinne verstanden und ausgelegt werden. Sie hat eine Oberfläche voller Wunder für das Volk. Hinter diesen erblickt der Philosoph aber tiefe und ewige Gedanken, die oft sogar im Widerspruch zu der Oberfläche erscheinen. Somit dürften wir die Propheten nicht immer wörtlich nehmen, sollten es auch nicht tun, denn sie haben die Wahrheit eingekleidet, um verstanden zu werden, aber auch um - wenn wir die warnenden Wörter Bedreddins in Vâridat heranziehen - nicht getötet zu werden.
Die Propheten vergleicht Bedreddin in einem Gleichnis mit Eltern. Um ihre Kinder zum Guten zu leiten, erschrecken sie sie mit unwirklichen Dingen oder ermuntern sie mit unmöglichen Erwartungen. Kurz gesagt, sie führen sie irre. Er weist damit auf ein Paradoxum hin. Der Prophet befindet sich hier in dem Dilemma des Aufklärers, dessen Wahrheit von der Zielgruppe nicht verstanden wird. Er muß daher seine Wahrheit pädagogisch darbieten und schafft dadurch gezwungenermaßen Bilder, die selbst zum Zweck geworden, die Menschen irreführen. Hier verteidigt Bedreddin, um die Sure 2, 26 wieder aufzugreifen, die Position des Propheten und des Frevlers zugleich. Man muß die Worte der Propheten deuten, um zum Kern zu gelangen und erst zu verstehen, was sie eigentlich zu sagen beabsichtigten. Der Prophet mußte Gleichnisse benutzen. Sie müssen daher notwendigerweise auf ihren eigentlichen Sinn zurückgeführt werden.
Ähnlich dachten einige Aufklärer, so z.B. Voltaire. Die Funktion Gottes sahen sie darin, die Menschen davon abzuhalten, ungestraft schlecht zu sein. „Wie allgemein bekannt“, schreibt Roy Porter in seiner Kurzdarstellung der Aufklärung, „war auch Voltaire überzeugt, dass Dienstboten -und Ehefrauen- unbedingt fromm sein müßten, wenn es ihnen an Gottesfurcht fehle. Sie kannten also die Vorteile der Frömmigkeit, und so überrascht es nicht, dass viele philosophes einem Zweiklassensystem das Wort redeten, mit einer klaren irrationalen Religion für die Elite und einem melodramatischen Glauben, um Kopf und Herz des niederen Volkes zu lenken“. Eine Staatsreligion ist dem Aufklärungsgedanken daher nicht ganz fremd.
Für Bedreddin sind die Worte der Propheten und gereinigter Menschen wahr, viele Menschen deuteten diese nur falsch. Die heiligen Bücher stellen für ihn keineswegs den besten Weg dar, zu einem Verständnis der göttlichen Wahrheit zu kommen. Glaubst du, dass du mit dieser verwirrten Seele Gott und die Propheten kennst und mit Lesen der Bücher auch ihre Bedeutung verstanden hast?, fragt er und führt fort: Solange du dich mit dem Unterricht beschäftigst, entfernst du dich vom Verständnis der Wahrheit.
Das Meister-Schüler Verhältnis
Bedreddin hat ein gestörtes Verhältnis zum Buch oder besser zu der Vorstellung, mithilfe eines Buches zur Wahrheit oder Weisheit zu gelangen. Das Verhältnis zum Buch unterscheidet zwischen dem Weisen und den übrigen Menschen. Im Verständnis des heiligen Wortes existiert ein Zweiklassensystem. Diese Trennung führt er wieder zusammen: Zu der Erkenntnis, dem Licht, gelangt man zuallererst durch die Liebe, nicht durch Wissen alleine. Doch bis dahin hält sich der gewöhnliche Gläubige an das Buch. Die heiligen Schriften sind demzufolge lediglich eine Vorstufe.
Das Werden des Lichtes erklärt er so: Ein aus einem in der Seele (im Herzen) verborgenen Fettstück entstandener Docht entflammte sich und schmolz derart, dass die Seele (das Herz) zum Licht wurde. Die Seele (das Herz) erfaßte alle Leuchten, das ist die Erklärung, warum sie Licht wurde. Es ist das Innere, das Selbst des Menschen, das als das Göttliche in jedem zum Pfad der Erkenntnis wird. Es wird etwas entzündet, dass schon immer da ist, ein göttliches Reservoir im Menschen. Hier befindet sich Bedreddin auf gnostischem Pfad.
Bedreddin sieht es als notwendig an, auf dem Wege des Pfades der Erkenntnis auf die Weisen und Meister zu hören. Für Außenstehende sei der Weg verschlossen. Da der Weg [auch Lehre: d.Verf.] der Propheten außer den Velî [=heilige Personen, auch eine andere Bezeichnung für Insân-i kâmil: d.Verf.] verschlossen ist, ist das übrige Volk auf diesen [Wegen: d.Verf.] blind. Sie wissen nicht, wohin sie treten. Die Velî hingegen sehen diese Wege durch keşf [bedeutet Offenlegung, Enthüllung; das sich Öffnen des inneren Auges, das kalb gözü genannt wird und einem die Geheimnisse der beiden Welten freigibt :d.Verf.].
Kalb nennt man auch den Ort, in den Gott hineinpaßt, obwohl er nicht in Himmel und die Erde hineinpaßt. Kalb umfaßt auch die Bedeutungen wenden, drehen, verändern, Seele, Erbarmen, Gewissen und Herz. Die Verkörperung des Kalb ist der Insân-i kâmil. Sie laufen auf diesen [Wegen: d.Verf.] sicher mit Hilfe des kalb gözü und gehen weiter. Betrachtest du die Lehre, dem das Volk nachgeht, wirst du sehen, dass sie voller Mutmaßungen und Zweifel ist.
Die Absage an eine Erkenntnis, die nur dem Buch - sei es auch ein heiliges Buch - entstammt, korrospondiert mit der Vorstellung, auf Mittler zwischen Gott und dem Menschen verzichten zu können. Dabei ist nicht unwesentlich, dass die Velî glaubten, ihre Eingebungen ohne Mittler von dem gleichen Engel zu erhalten, der schon den Propheten die Offenbarungen überbrachte. So gesehen handelte es sich bei diesen um religiöse Autoritäten, die in der Hierarchie den Rang direkt nach den Propheten beanspruchten, aber auf seine Mittlerrolle nicht angewiesen waren. Sie hielten sich für die Propheten der Gegenwart ohne Offenbarungschrift. Halladsch-i Mansurs Äußerungen, dass er aus der gleichen Quelle schöpfen wolle, wie die Propheten, entstammt der gleichen Anschauung. Das Wissen durch keşf ist das Ergebnis der Entschleierung und des Schauens in die gayb alemi, die verborgene Welt. Diese Welt des Verborgenen existiert parallel zu der sichtbaren Welt und ist von diesem durch einen Schleier getrennt.
Mit dem Vorwurf, sie beanspruchten für sich die Prophetenwürde, gingen Vertreter der Orthodoxie daher gegen mehrere bedeutende Mystiker vor, so z.B. gegen Halladsch-i Mansur, Nesimî usw. Die Gefahr, die darin steckt, wenn auf die Mittlerfunktion des Propheten und des Korans verzichtet wird, läßt sich an einem fetwa des 16. Jahrhunderts ablesen: „Frage: Wenn Jemand einem Anderen sagt: »Finde mir Gott…«, und dieser ihm sagt: »Wenn du den Koran zum Wegweiser nimmst und dem Propheten folgst, wirst du Gott finden…«, der erste aber spricht: »Wozu braucht man diese? Ich finde ihn auch ohne sie…«, oder sagt »Ich habe ihn bereits gefunden.« Wie soll man mit einem solchen verfahren? Antwort: Er ist ein Ungläubiger, er muß getötet werden.“
Nach der islamischen Doktrin ist der Islam die letzte und deshalb auch die einzige vollständige göttliche Offenbarung. Sie stützt sich dabei auf die Grundannahme, dass Wissen an Glauben und Ergebenheit gekoppelt ist und dass „die Geschichte der Menschheit von Propheten bestimmt wird“. Insofern verfügen nach islamischer Vorstellung auch die Christen und die Juden als Schriftbesitzer (ahl al-kitab) über Offenbarungen. Diese gelten jedoch als verfälscht oder unvollständig. Gott habe seinem letzten Gesandten Muhammed sein vollständiges Wissen offenbart, das im Koran schriftlich fixiert wurde. „Der Koran macht deutlich, dass es keine anderen Quellen des Wissens gibt“. Zum orthodoxen Islam gehört weiter das Prinzip der unbestreitbaren Autorität des wörtlich zu verstehenden Korans. Bei Bedreddin und in heterodoxen Kreisen werden der Koran und die heiligen Texte zu Basiswerken, die erst über den Umweg der Interpretation verstanden werden können. Ihre Autorität wird jedoch nirgends in Frage gestellt. Der andere Weg, zur Wahrheit zu gelangen, bleibt das Entschleiern der Offenbarung mit Hilfe eines Meisters.
Die Rolle des Meistes beschreibt Bedreddin durch einen Vergleich: Der Verlanger nach Wahrheit ähnelt dem Kranken, die Vollkommenheit der Gesundheit, die Dummheit der Krankheit und der mürşid [myst. Lehrer, Meister :d.Verf.] dem meisterhaften Arzt. Der Kranke hat sich für seine Heilung dem Meister unterzuordnen, denn es ist unbedingt notwendig, allen Vorschlägen und Befehlen des Scheichs und des mürşid Folge zu leisten und sich diesen sofort zuzuwenden, wenn es die Absicht ist, die Beziehungen zur Welt und zum Ich [Er benutzt das Wort nafs, das auch körperliches Verlangen bedeuten kann. d.Verf.] abzubrechen und das Gewünschte zu erreichen.
Im ersten Blick scheint hier das Freiheitliche, das Bedreddin vielerorts aus der besonderen Position des Menschen innerhalb der Schöpfung ableitet, auf der Strecke zu bleiben. Die Meister- Schüler-Beziehung ist ein wesenliches Merkmal des Sufismus. „Ohne den Meister ist kein Weg zu finden, er ist die conditio sine qua non, kann aber auch - was gelegentlich vorkommt – schon lange verstorben sein. Erschlossen wird eine Art von Überbewußtsein, was nicht ohne Folgen für des Bewußtsein und das Unbewußte bleibt. (…) Oft hat nicht nur der Meister, sondern auch der Schüler schon eine wissenschaftliche Ausbildung hinter sich. (…) Es kann auch vorkommen, dass der Schüler seinem Meister intellektuell überlegen ist. Ausschlaggebend ist das nicht. Ausschlaggebend ist einzig und allein, dass der Meister sich als Meister, der Schüler sich als Schüler bewährt, d.h. jeder seiner Position in der Kette gerecht wird. (…) Autoritätsprobleme gibt es deshalb kaum, weil der Schüler frei ist in der Wahl des Meisters.“
Betrachten wir diesen Weg als eine Selbstfindung und den Weisen als einen Therapeuten, läßt sich hier eine Parallele zur Vorstellung der Individuation C.G. Jungs feststellen. Die Individuation geht von einem Begriff des Selbst aus, das als ein empirischer den Gesamtumfang aller psychischen Phänomene, Erfaßbares und Unerfaßbares bzw. noch nicht Erfaßbares, also Bewußtes und Unbewußtes in seiner Gesamtheit umfaßt. Die Individuation wird hier als ein seelischer Entwicklungsprozeß zum Einzelwesen verstanden. Sie bedeutet den Weg, zu einem von der Kollektivpsychologie unterschiedenem Wesen, zum Einzelwesen, und insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, führt er zum eigenen Selbst. Dieser Prozeß enthält demnach sehr wirkliche Gefahren. „Der Analytiker aus der Schule C.G. Jungs erfährt in seiner Praxis, dass der Individuationsvorgang (...) als ein sehr schwieriger und gefahrvoller Weg empfunden werden kann. Der Betreffende sieht sich dem gegenüber, was sich aus dem Unbewußten in Gestalt von Bildern, Vorstellungen, Träumen und Ideen kundtut. Das ArchetypArchetypische flutet gleichsam aus den sonst unbewußt bleibenden Seelentiefen empor. Der Mensch darf sich nicht unvorbereitet oder führerlos in dieses Abenteuer hineinbegeben.“ Dies trifft natürlich nicht nur auf C.G. Jung zu, sondern auf alle, die sich einem Analytiker anvertrauen.
Die Wahrnehmung des Verstandes hat zwei Erscheinungsformen: Entweder durch sehen und denken oder auf dem Wege der Enthüllung mit dem inneren Auge. Es ist falsch, der Seite, die sich auf Gedanken und Sehen stützt, allzusehr zu vertrauen. Dem Sehen und Denken mischt sich viel Täuschung und Einbildung. Wenn ein Mensch seine ganze Beschäftigung mit der Seite des Gedankens und Sehens eingrenzt, kann er sich von den Störungen der Täuschung und Einbildung nicht retten. Und er wird die Wahrheit der Dinge nie entdecken. Der zweite Weg ist noch sicherer. Aber er ist viel schwieriger als die anderen. Denn hierfür muß man sein Inneres reinigen, sich zu Gott wenden und sich den Propheten anschließen. Dann vereinigt sich der Verstand mit dem Inneren [auch die Übersetzung als Herz ist möglich: d.Verf.] und dem gönül [Gönül beinhaltet viele Bedeutungen: Herz, Seele, Gefühl, Liebe, Zuneigung. d.Verf.]. Im Geiste [zihin bedeutet auch Verstandeskraft: d.Verf.] steigt ein geistiges Licht, eine Enthüllungswachheit. Und alle Wirklichkeit erscheint offen und deutlich. Das Enthüllen der Geheimnisse führt zu einer spekulativen Annäherung an die Dinge der sichtbaren Welt, die neue Facetten bekommt und stark relativiert, also gewendet und gedreht wird. Während dieser Handlungen, so Bedreddin, ist der anleitende Meister unverzichtbar.
Das Vorschriftenwerk der Religion
Bei religiösen Pflichten fragt Bedreddin nach dem inneren Sinn. Dieser ist entscheidend, nicht die Form. Das Gebet wird erst sinnvoll, wenn sich durch ihn Seelen dem Wahren nähern. Sonst bleibt es nur eine leere Hülle. Die äußere Form eines Gebetes ist lediglich von sekundärer Bedeutung. Alle Gebete und Fürsprachen [auch Bittgaben: d.Verf.] sind nur Mittel, die Moral zu verbessern und das Innere [auch das Selbst: d.Verf.] zu reinigen. Es gibt keine festgelegte Zeit, Begrenzung oder Bedingung des Gebetes. In welcher Form es auch ausgeführt wird, es entspricht dem Willen Gottes. Das Ziel, das sich in der erklärten Notwendigkeit des Gebetes findet, ist die Seelen von ihrer vergänglichen Existenz zu lösen und sich dem höchsten Wesen, das keinen Anfang hat, zuzuwenden. Auch wenn du mit einer sich an das Vergängliche klammernden Seele tausend Jahre betest, hast du kein heilbringenden Gewinn [sevapla ilgili kazanç]. Über das Gebet führt er weiter aus: Einige Menschen beten andere Menschen an, und wieder andere Gold -und Silbergeld, einige Dinge des Essens und Trinkens oder Höhe [Ansehen :d.Verf.] und Lob bietenden Dinge und glauben, dass sie Gott anbeten. So ist es für ihn folgerichtig, wenn er in Vâridat auch den von heterodoxen Gruppierungen bevorzugten und von der Orthodoxie schwer verfolgten Gebetstanz (semâh) in Schutz nimmt. Wenn Menschen, deren Wesen rein ist, einen schönen Ton hören, wenden sich ihre Seelen zu Gott. Ihr Inneres entleert sich von den diesseitigen Sorgen und wird erfüllt von der Liebe Gottes. Kann eine Tätigkeit, fragt Bedreddin, die einen Menschen zu Gott führt, verboten werden. Kann ein solches Vorgehen einem Muslim entsprechen? Diese Form des Gebetes (semâh) hat in der Alevî-Tradition, besonders in ländlichen Gegenden, bis heute überlebt. Sie wird von der Orthodoxie mit Weingenuß und sexuellem Libertismus in Zusammenhang gebracht, was heute jedoch keineswegs mehr zutrifft.
Die bewußte Mißachtung der Gebetsvorschriften ist auch ein Charakteristikum der berühmten Bektaschî-Witze in Anatolien. Drei kurze seien hier genannt:
- Ein Hodscha sieht, wie ein Bektaschî innerhalb des Ramadanmonats seinen Durst an der Tränke stillt. Erbost stellt er ihn zur Rede: „Jetzt ist dein Fasten weg!“ Darauf der Bektaschî: „Das Fasten ist weg, aber dafür ist das Leben wiedergekehrt.“
- Ein Mewlevî, ein Bektaschî und ein streng gläubiger Hodscha bekommen nach einer Sitzung Süßspeise angeboten. Sie einigen sich, dass diese Speise demjenigen gehören soll, der den erhabensten Traum träumt. Sie gehen schlafen. Am nächsten Morgen fragt der Bektaschî:
- Erzählt, welchen Traum hattet ihr?
Der Mewlevî, behutsam seine Kopfbedeckung anlegend:
- Gesegnet sei, ich stieg in den Himmel!
Der Hodscha:
- Im Traum war ich im Himmel.
Darauf der Bektaschî:
- Ja ihr weisen Herren! Ich sah in der Nacht, dass der eine Weise in den Himmel stieg und der andere im Paradies spazierte. Sie werden bestimmt nicht in diese endliche Welt zurückkehren, dachte ich, stand auf und habe die Süßspeise verputzt.
- Einmal besucht ein Bektaschî einen rechtgläubigen Bekannten. Dieser betet regelmäßig. Als der Bektaschî das bemerkt, ruft er ihn mit einer Frage jedesmal zu sich: - Bring mir Wasser! - Gib mit Tee! - Komm mal kurz! usw. Nach fünfmaligen Rufen ist der Freund erbost und möchte wissen, warum er ihn immer beim Gebet unterbricht. Darauf der Bektaschî: „Du rufst doch immer Gott. Glaubst du denn, er freut sich immer fünfmal am Tag gerufen zu werden?“
Das Gott-Mensch-Verhältnis
Die Vorstellung Gottes ist bei Bedreddin nicht eindeutig. Sie ist mal pantheistisch, mal monistisch, geistig, monotheistisch oder es handelt sich um eine andere Sphäre, um ein geheimes Universum. Das Ganze ist in ihm, er zugleich im Ganzen. Er ist in Allem und zugleich ist er Alles, ihm begegnet man in Allem, sei es die Blume, das Gestein oder der Mensch. Alles ist ohne Anfang und ohne Ende. Vergänglich ist nur die jeweile Form der Verkörperung.
Auch wenn Bedreddin es nicht ausdrücklich nennt, läßt sich aus seiner Vorstellung, dass das Verkörperlichte nur scheinhaft, also nur der Ausdruck einer Konzentration zu Mustern ist, die, wenn die Konzentration sich wieder auflöst, nur den unvergleichen Gott (Hakk) übriglassen, sein Gottesbild erahnen. Gott ist eine Ursubstanz, die sich in den sichtbaren Formen des Diesseitigen ausdrückt. Damit wäre auch die Schöpfungsgeschichte selbst als ein einmaliger Akt nicht mehr zu halten. Zwar spricht er oft vom Akt der Schöpfung und den Absichten eines schöpferischen Gottes, der einen ausgeprägt antropomorphischen Charakter bekommt, doch ist seine Vorstellung von den beiden Welten durchaus geeignet, Gott als ein undefinierbares, gestaltloses und getriebenes Etwas zu sehen, dem die Schöpfung entspringt, ohne dass es dafür einer besonderen Absicht bedarf. Aus diesem Grunde kann die Welt für Bedreddin nur ohne Anfang und ohne Ende sein. Er gerät auch an dieser Stelle in einen Widerspruch mit der Vorstellung des Jüngsten Gerichts.
Die Form als Konzentration zu Mustern aus einem undefinierten Etwas entspringt einem Willen. Das Etwas, das Gott ist, hat auch einen Willen. Er schreibt: Der Wille Gottes ist wesensbedingt, kann nicht mit Worten, Buchstaben, auf Arabisch oder in einer anderen Sprache erklärt werden. Wesensbedingt bedeutet hier, dass eine Existenz dieses nur sich selbst schuldet und keinen weiteren Grund als sich selbst benötigt. Es bedeutet aber zugleich auch eine Abhängigkeit, nicht anders sein zu können. Gott kann sich nicht dagegen wehren, eine Form anzunehmen. Er läßt sich aber nicht auf seine jeweilige Form reduzieren. Im Wesen Gottes ist die Neigung des Aus-Sich-Tretens und des Sichtbar-Werdens, die sich in sichtbaren Dingen verwirklichen. Auch die Liebe entstammt dieser Neigung und ist wesensbedingt. Also ist auch die Neigung wesensbedingt, wie der Wille Gottes. Gott als der Urgrund, mit der Neigung ausgestattet, sich zu Formen zu konzentrieren und aus sich heraus zu treten, hat folglich keinen Anfang. Daraus folgt auch, dass die Welt kein Ende besitzen kann - eine den Ankündigungen des Koran deutlich widersprechende Position.
Der Weg vom gewöhnlichen Menschen zum Weisen, vom Schicksal und der Entschlossenheit
Der Mensch steht unbestreitbar im Mittelpunkt bedreddinischer Anschauung und nimmt auch innerhalb der Schöpfung den höchsten Rang ein. Bedreddin führt an dieser Stelle seine Gottesvorstellung nicht konsequent weiter und bleibt in der Abhängigkeit alttestamentarischer Darstellungen. Unser Prophet, schreibt er, verkündete: Ohne Zweifel, Gott schuf Adam nach seinem Ebenbild. Dies ist auch so im Alten Testament. Die wirkliche Bedeutung dieser Verkündung heißt: Gott erschuf den Menschen nach seiner Erhabenheit. Das Abbild in der Überliefung ist nicht sensoriell gemeint, sondern geistig. Auf der Stufe Gottes hat dieser keine sichtbare Form. Gott ist auf dieser Stufe fern von allen sinnlich erfaßbaren Bildern. Sinnlich erfaßbare Bilder gehören in die Wirklichkeit dieses âlem [Sphäre, Universum,Welt: d.Verf.]. Das Abbild besteht auf diesen Stufen aus dem Eigentlichen [in der türkischen Übersetzung icyüz = tiefe Bedeutung, eigentlicher Sinn, inneres Gesicht, wirkliche Ursache: d.Verf.] Und das Eigentliche des Menschen ist nach dem Ebenbild Gottes. Es ist nicht das Aussehen des Menschen, das ihn zum Ebenbild Gottes macht, sondern das „Eigentliche“, „das innere Gesicht“ des Menschen. Die Gnostik würde von einem inneren Lichtfunken sprechen. Über die Koransure zum Beweis göttlicher Kraft (Sehen diejenigen, die an unserer Kraft zweifeln nicht, dass wir mit unserer Kraft Land und Himmel getrennt haben) schreibt er: Die Interpreten geben diesem Satz die gleiche Bedeutung. Andere sagen: Mit Himmel ist Sonne gemeint. Mit diesem Vers beabsichtigte man zu sagen: Wir haben die Erde von der Sonne getrennt. Nach unserer Meinung sind Himmel und Erde zwei verschiedene Sphären (âlem). Und diese beiden Sphären (âlem) sind im Selbst des Menschen versammelt. In diesem Falle ist mit Himmel und Erde der Mensch gemeint. Aus dem Vers leite ich folgende Bedeutung ab: Im Samen und Gebärmutter waren Himmel und Erde vereinigt, wir haben diese Quelle beseelt und sie voneinander getrennt. An diesen Quellen haben wir die Anteile der Erde und des Himmels verdeutlicht. Er spricht hier vom Körper-Seele-Problem und der diesbezüglichen Dualität des Menschen.
Den Vers, Gott lehrte Adam die Namen aller Dinge, interpretiert er: dass, was dem Menschen gelehrt wurde und von ihm gewünscht wurde, dass er sich damit auszeichnet, waren die eigenen Namen Gottes, wie hörend, sehend, wissend usw. zu sein. Das bedeutet, der Erhabene Gott erschuf den Menschen - nicht die Engel -, damit dieser Wissen, Stärke, Hören, Sehen, Wollen, Wünschen und entsprechende Namen vollständig erlangen möge. Der eigentliche Ruhm des Menschen gründet sich darauf, dass er diese göttlichen Namen erlangte. Außer ihm hat kein lebendiges oder lebloses Wesen solch eine Teilhaftigkeit erlangt. Diese göttlichen Namen beschreiben das Ich des Menschen, das in der Mystik eine unbeabsichtigte Stärkung erfährt. Dazu später.
Der Mensch bleibt, obwohl er die Verkörperung des inneren Gesichtes des Göttlichen ist, weiterhin ein Zwitter, pendelnd zwischen Gott-Sein und Erdenwesen-Sein. Der Mensch benötigt die Einsicht und die Erkenntnis um sein Wesen. Am Ende eines solchen Prozesses steht die Stufe des insan-i kâmil, des wissenden oder weisen Menschen. Diese Vorstellung erinnert an einigen Stellen an den Philosophen bei Platon. Nur ist der insan-i kâmil von der Erfüllung religiös vorbestimmter Rituale und Vorschriften entbunden, da ihm das verschleierte Geheimnis selbst sichtbar geworden ist. Wer auf Erden sollte ihm noch den Weg weisen? Der wissende Mensch ist das erkennende Zwischenglied zwischen Gott und seiner Gemeinde.
Den insan-i kâmil beschreibt er gleich zu Beginn Vâridats. Er wird darin einem gewöhnlichen, unwissenden Menschen gegenübergestellt und folgt in den Aufzählungen gleich den Propheten. Den insan-i kâmil zeichnet aus, dass sein Kern freigelegt ist und er über die Befähigung verfügt, hinter die Geheimnisse, auch die im Worte, zu schauen. Er kann den Sinn hinter den Prophetenworten ersehen und ist nicht an den Verhaltenskodex der Religion gebunden.
Die Entbindung von religiösen Vorschriften entspricht durchaus dem Koran. Darin finden sich vielfältigste Hinweise, die die Glaubensvorschriften indivualisieren. Doch Bedreddin geht weiter. Für ihn ist die Tugend der Inbegriff guter Eigenschaften, die Sündhaftigkeit dagegen ist alles das, was die Seele beunruhigt und du nicht wünschtest, dass andere Leute von dir wüßten. Lege deine Hand auf deinen Busen und befrage dein Herz. Alles, was in deinem Herz Unruhe verursacht, das mögest du unterlassen. Wollte man es verkürzen, hieße es: Folge deinem Gewissen und du folgst Gott. Man benötigt kein Buch, das die Sünde definiert, dass Selbst weiß es.
Der insan-i kâmil schaut hinter den göttlichen Schleier. Wie jedoch wird das Geheimnis entschleiert? Sich dem verschleierten Geheimnis nähern heißt für Bedreddin weiter, zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein zu pendeln, sich vom Sichtbaren, das scheinbar und vergänglich ist, zu lösen und dem Fluß der Zeit zu entgleiten, um in der Stille der Zeit zum Ursprung und zum Ende zu schauen und dabei gleichzeitig Zeuge zu werden vom Sich-Wundern des Menschen. Hier zeigt sich Bedreddins Nähe zu Vorstellungen der Bâtinî, die an anderer Stelle dieser Arbeit gesondert dargestellt werden. Der Weg zur Erkenntnis der verschleierten Wahrheit ist ein schwieriger. Der Erkennende ist ein Reisender. Er muß gefährliche Orte überwinden und das Licht erreichen. F. Attars berühmte Vogelreise beschreibt diese gefahrenvollen Täler der Erkenntnis. Am Ende der Reise erkennt der Mensch den Ursprung aller Dinge. Er erkennt das Eigene als das Ziel, denn das „Eigentliche“ des Menschen ist das Ebenbild Gottes.
Wenn der wissende Mensch sagt, schreibt Bedreddin, ich habe es gemacht, ich habe es geordnet, so sagt er deshalb die Wahrheit. Der Wissende kennt nämlich den Ursprung aller Dinge und weiß, dass es Gott gewesen ist und Gott in ihm spricht. Wird das Selbstgespräch des Menschen zu einem Dialog mit Gott, ist der Weg zum Ausspruch Halladchs nicht weit, der sagte, er sei Gott (oder in anderer Übersetzung: die absolute Wahrheit). Wer Gott in sich sieht und entdeckt, hat kein individuelles, kein vereinzeltes Schicksal, ihn bestimmt ein allgegenwärtiges Schicksal. Er selbst wird zum Schicksal. Diese Ansichtigen sind sehr dicht bei dem griechischen Mystiker Symeon die Neue Theologie (949-1022) anzusiedeln. Die Unausweichbarkeit des Müssens, des dem Schicksal Ausgeliefert-Seins bekommt die zusätzliche Eigenschaft des Entschlusses gegenüber dem Zukommenden, dadurch einen bizarren und paradoxerweise auch einen individuellen Sinn. Man ist hier an das Bild des Menschen und seinem Geschick bei Homer erinnert. In der Vorstellung der Alevîs der Türkei findet sich eine solche Deutung des Schicksals: Das Schicksal ist nur nachträglich ein Schicksal, nur nachträglich mußte es so kommen, so werden. Seine These schränkt Bedreddin aber schnell wieder ein: Sagt dies aber ein Unwissender, schreibt er, steht er im Widerspruch mit der Wahrheit, denn der Unwissende denke, er selbst oder seine Werkzeuge hätten die Handlung vollzogen, oder ihm wäre die Handlung in irgendeiner Weise vorgeschrieben gewesen. Er wisse nicht von Gott und befinde sich lediglich in der Welt der Formen. Bedreddin versucht den wissenden Menschen gegenüber einem plumpen Individualismus in Schutz nehmen. Nur wer kann wissen, aus welchem Standpunkt und welchen Beweggründen heraus ein Mensch eine Handlung begeht oder wie dieser zur begangenen Handlung steht? Bedreddin durchbricht zwar die Vorstellung von der Ergebenheit (= Islam) gegenüber dem Vorschriftenwerk und lockert die Fremdbestimmung des Menschen, in dem er ihm Verantwortung über sein Tun einräumt, teilt aber anschließend die Menschen ein in Gewöhnliche und Erkennende. Hier ist er fast ein Gnostiker.
Bedreddins Absage an die Jenseitsvorstellung des Korans
Das Diesseits und das Jenseits sind für Bedreddin zwei Aspekte einer Welt, die zusammen Gott darstellen. Sie sind jederzeit da. Es handelt sich hierbei um die bekanntesten Gedanken Bedreddins. Sie betreffen das Jenseits und den symbolischen Gehalt der Begriffe aus dem Glaubensapparat (z.B. Engel, Paradies). Insbesondere in den Fragen des Jenseits setzt er sich entschieden von der Orthodoxie ab. Die islamische Vorankündigung des Jüngsten Gerichts und der Auferstehung von den Toten wird für ihn durch die immer gegenwärtige Einheit des Seienden gegenstandslos. Wisse, verkündet er, dass es sich mit der Angelegenheit des Jenseitigen nicht so verhält, wie es die Unwissenden denken. Diese Dinge betreffen die Sphäre [evren: d.Verf.] des Unsichtbaren [gayb= auch des Verlorenen oder des Geheimen: d.Verf.], der Engel und Seelen [melekût: d.Verf.] und nicht, wie gewöhnliche Leute denken, die Sphäre der Sinne. Paradies, Gespielinnen [Hûriler: d.Verf.], Paläste, Bäume, Früchte, Flüsse, die Qual und das Feuer und ähnliche solcher Dinge, die uns schriftlich überliefert sind und in den Schriften verbreitetet werden, können nicht mit der vordergründigen Bedeutung dieser Wörter erklärt werden. Nachdem dieser Körper und seine Teile sich verstreuen und verschwinden, können sie nicht mehr in ihre Form wiederkehren, sich nicht wieder zusammenfügen und ganz werden [und ihre alte Form annehmen ], nicht existieren. Tote aufzuwecken hat nicht dieses zum Zweck. Wo befindest du dich, ey Verwirrter. Die Weisheiten der Wahrheit [gerçeğin olgunluklari = auch als Stufen der Wahrheit übersetzbar :d.Verf.] sind anders als du denkst.
Bedreddins Vorstellungen, dass weder Gott noch die Welt über einen Anfang und ein Ende verfügen und der Schöpfungsakt auf die Auflösung und die Neuverdichtung der göttlichen Substanz zurückzuführen ist, macht eine Rückkehr zu fundamental islamischen Positionen unmöglich. Dabei gehört die Vorankündigung des Jüngsten Tages (Yaum al-qiyama) zu den wichtigsten Grundsätzen des islamischen Bekenntnisses. An diesem göttlich festgesetzten Tag soll - laut Vorankündigung - alles Leben dieser Welt enden und Gott, der Herr des Weltgerichtstages, über die wiedererweckten Menschen zu Gericht sitzen. Erst die Akzeptanz dieser „Tatsache“ macht den Muslimen aus.
Bedreddin löst sich teilweise von der Vorstellung eines drohenden und strafenden Gottes. Die Androhung eines Weltgerichtstages, als einer Institution mit Gott als höchstem Richter dient sicherlich auch der Durchsetzung der ethischen Vorschriften der Religion. Mit der erzieherischen Funktion des Weltgerichtstages beschäftigt sich der orthodox-islamische Denker Sayyid Abu-l A´la Maudoodi in seiner islamischen Fibel. Ein Mensch ohne die Erwartung eines Jenseits mag denken, schreibt er, „dass dem Gehorsam und auch dem Ungehorsam das gleiche Ende bevorsteht, denn nach dem Tode des Menschen lösen sich beide in nichts auf“. Er fragt sich: „Wie kann man erwarten, dass er sich [dann: d.Verf.] mit dieser Geisteshaltung all diesen Unbequemlichkeiten und Mühen aussetzt (…) und Sünden vermeidet“.
Genau auf das Bild des reduzierenden und durch Lob und Strafe lenkenden Propheten richten sich die Bemerkungen Bedreddins. Er muß widersprechen, weil damit dem Menschen gerade die Fähigkeiten abgesprochen werden, die nach seiner Darstellung das Angesicht Gottes, sein Ebenbild ausmachen, also Wissen, Stärke, Hören, Sehen, Wollen, Wünschen usw. Das weltliche Leben wäre somit zu einer ständigen Prüfung für ein jenseitiges Dasein reduziert. Er befürchtet, man würde nur des zu erwartenden Lohnes im Jenseits wegen und nicht vom Herzen glauben. Man müßte dann I. Goldziher recht geben, wenn er ausführt: „Die mohemmedanische Eschatologie kultiviert in ihrem Weltbilde nur die pessimistische Seite, die optimistische Seite ist für die Auserwählten in das Paradies gelegt. Für die irdische Welt hat es keinen Hoffnungspartikel übrig.“
Dem Sichtbaren setzt Bedreddin das Geheime gegenüber. Die Sphäre dieses Unsichtbaren entspringt Bedreddins Kosmogonie. Er unterscheidet zwei Welten, eine Welt des Sichtbaren und eine des unsichtbaren Geistes (alemi-gayb, melekût), die der Engel und der Seelen. Gott sagte: Das Unsichtbare [el-Gayb: d.Verf.] kennt nur Gott. Er nennt die unsichtbare Welt auch das Land der Träume. Hierher gehören die gereinigten Gattinnen [Hûri: d.Verf.], Paläste, Früchte und ihnen Gleichendes. Auch der Dschin [Geistwesen: d.Verf.] gehört in die Welt der Träume, obwohl die, die ihn sehen, glauben ihn in dieser Welt gesehen zu haben. Doch ihn gibt es nur in der Kraft der Träume. Auch die geheime Welt ist in seinem Wesen Gott. Sein Geheimnis ist nur scheinbar. Alle Daseinsstufen befinden sich in der Welt der Dinge, wenn diese Dinge verschwinden, bleibt nichts außer den Seelen [ruh: d.Verf.], und die entkleideten, abstrakten Wesen übrig.
Bedreddin kritisiert die Analogie des Autors des Mirsadü’l-Ibad, der die Körper mit dem Zuckerrohr, die Seele mit ihrem Zucker gleichsetzt. Es handelt sich um persichen Scheich Necmeddin-i Râzi aus dem 13. Jahrhundert. Diese in seinem berühmtesten Werk Mirad-ül Ibâd Min-el Mabde-i Il-al Mîâd dargelegte Analogie wurde von vielen zitiert. Gott schuf danach die Seelen vor allen Körpern. Dieser gehe davon aus, kritisiert Bedreddin, dass die Seele auch ohne Körper sein könne. Doch der Körper des Menschen war Geist [ruh, auch Seele: d.Verf.] und entwickelte sich durch die Konzentration der Muster. Verschwinden die Muster kommt er seinem Wesen zu, und es bleibt nur der unvergleichliche Gott [Hakk: d.Verf.]. Hier finden sich deutliche Parallelen zu der Monade-Vorstellung des Giordano Bruno. Es gibt nach Bedreddin weiter weder einen Willen noch Körper (ne maksûd, ne mevcûd). Alle Wesen sind, wenn sie auch jeweils einen Gegensatz darstellen, mit Gott verbunden; ihre Unterschiedlichkeit ist das Ergebnis der Phasen [auch Abstufungen: d.Verf.]. Gott ist in diesen aber auch im Abstand zu diesen. Wenn Gott sich „im Abstand zu diesen“ befinden kann, müssen wir den Musten eine gewisse Unabhängigkeit von Gott zusprechen. Das Sein und Nicht-Sein besteht aus dem Entweichen der Form aus der einen Materie und seinem Ersatz durch eine andere. Dieser Vorgang ist ohne Anfang und ohne Ende. Daher sind die Welt und das Jenseits nominell. Das Sichtbare wird [in der Regel: d.Verf.] als die vergängliche Welt bezeichnet, das Unsichtbare als das ewige Jenseits. In Wirklichkeit gibt es für beide kein Sich-Aufbrauchen. Weil das Nominelle jedoch dominierte, wurde die Welt als endlich, das Jenseits als bleibend bezeichnet. Auch das Sichtbare der Welt ist also ohne Ende. Die Welt und das Jenseits sind einander entgegengesetzt. Jeden Anfang nennt man Welt und ihr Ende Jenseits. Zum Beispiel bei Ehebruch, Raki, Wein und ähnlichen Dingen stellt sich ein süßer Geschmack ein. Nach dieser Freude überkommt den Menschen ein Gefühl der Scham und des Bereuens. Diesen [süßen: d.Verf.] Geschmack nennt man Welt und das Bereuen das Jenseits. Dies, obwohl beide sich in dieser Welt [âlem] ereignen. Du kannst alle Tätigkeiten und ihre Ergebnisse damit in Verbindung bringen. In der Zeit der Gesundheit des Propheten, schreibt er über die Datierungen des Jüngsten Tages, haben einige Menschen die Erscheinungen wie deccâl und dabbe erwartet, die sie aus dem Koran und den Überlieferungen entnommen hatten.[ Deccâl, falscher Messias, gemeinsam mit dabbe, einem Fabelwesen, kündigt er das Ende der Welt und den Tag des Jüngsten Gerichts an: d.Verf.] Wie denn auch sei, diese Erwartungen haben sich in bekannten und detaillierten Büchern enthalten. Die Menschen nach ihnen erwarteten, dass deccâl und der dabbetülarz genannte Tier, die als Zeichen des Jüngsten Gerichtes gelten, in ihrer Zeit erscheinen werden und das Jüngste Gericht hineinbrechen würde. Einige hatten für dieses Ereigniss das 3. Jahrhundert [nach islamischer Zeitrechnung: d.Verf.] angesetzt. Die anderen sagten, dass der Mehdi sich in ihrer Zeit zeigen würde und datierten seine Ankunft auf die Zeit zwischen den siebten und achten Jahrhundert. Genauso wie wir uns bereits im 8. Jahrhundert befinden und nichts von dem Vorausgesagtem eingetroffen ist, werden wieder viele Jahre vergehen und nichts wird sich zeigen, und die erwartete Auferstehung der Toten wird niemals passieren. Bedreddin hat eine eigene Deutung des Jüngsten Tages. Nach dem, was wir wissen, schreibt er, bedeutet kiyamet [der Jüngste Tag] das Auslöschen der Erscheinung einer Person und seiner [Herrschaft über die] Attribute. Wenn du wünschst, kannst du für den Tod jedes beliebigen Menschen sagen: Sein Jüngster Tag ist hineingebrochen. Die Auferstehung ist es, einen dem Gestorbenen Ähnelnden auf die Welt zu bringen. Der Jüngste Tag ist für ihn nichts anderes als der Tod des Einzelnen.
Unklar bleibt in der Jenseitsvorstellung Bedreddins, was er mit dem Land der Träume meint. Ist damit ein zu erstrebendes Ziel gemeint, ein Ort vielleicht, der durch Meditation und Trance sichtbar wird, oder bezieht er sich lediglich auf eine Sphäre der Einbildung und Vorstellungskraft des Menschen? Das Jenseits setzt er gleich mit der Auflösung der konkreten Form der göttlichen Substanz. Da sich die Seele und die Substanz nach seiner Ansicht nicht aufteilen lassen, beginnt nach der Auflösung ein neues Zusammenfügen der Substanz. Da dieser Prozeß ohne Anfang und Ende sich immer fortsetzt, ist alles beseelt und göttlich. Der Mensch hat die Kraft der Einsicht, denn im Grunde ist er ein Mensch-Gott.
Wesentlich ist Bedreddins Unterscheidung der Erscheinungsformen Gottes. Als Kriterium verwendet er das Verhältnis des Menschen zu seiner Tat. Agiert er, ist er der Schöpfer und Erschaffer. Als Reagierender ist er das Geschöpf, der Sklave. Wer sich als den Ausgangspunkt der Aktivität begreift und in dem Antrieb Gott weiß, handelt als Gott. Deshalb sind alle Tätigkeiten von Gott, die Erscheinungen sind seine Mittel, in der Erscheinung des Sklaven ist nur Gott zu finden. Nur wenn das Geschöpf glaubt, eine andere Begabung, Kraft oder Wesen gefunden zu haben, nennt man dies Unwissenheit. Es irrt sich, wenn es glaubt, der Tätige und seine Arbeitsmittel seien jeweils unterschiedliche Dinge. Das Arbeitsmittel ist, weil der Tätige ist. Seine Tätigkeit erscheint wegen seiner Verbundenheit mit Gott wie selbst gemacht. In diesem Grade ist die Tätigkeit in ihrer Erscheinung vom Menschen, in Wahrheit bei Gott.
Bedreddin bleibt im Rahmen der mystischen Einheitsvorstellung und führt sie konsequent fort. Außer Zweifel ist das Vorhandensein des Ganzen im Ganzen. Alles Sein ist im Wesen in Einheit, alle Dinge sind in jedem Ding. Siehst du nicht, dass im Samen der ganze Baum und in allen Einzelheiten des Baumes der Samen vorhanden ist? Aus dem Samen wird Baum, aus dem Baum der Samen. Alle Welten verwirklichen sich im Wesen; das Wesen verwirklicht sich als Gesamtheit in den Welten. Alle Welten finden sich im einzelnen Staubkorn. Soweit dieses gewußt, das Vorhandensein des Ganzen im Menschen verstanden, dieses Geheimnis dementsprechend erhellt wird und sich dann auftut, unter welchem Schleier sich der Mensch befindet, in dem Maße wird sich der Sinn des Satzes „Ich war ein geheimer Schatz, liebte es gewußt zu werden und schuf die Menschen, damit sie mich kennen“ erhellt werden. Derjenige, der es weiß und der es versteht, ist wieder er selbst, niemand sonst.
Betrachtet man an dieser Stelle den Korintherbrief des Apostels Paulus, wird in der Frage der Auferstehung die Nähe zu Bedreddin erkennbar. Paulus schreibt: „Aber, wird jemand sagen, wie sollen denn die Toten auferstehen? Mit welchem Leibe sollen sie daherkommen? Du Tor, was du säest, wird nicht lebendig, wenn es nicht zuvor gestorben ist. Und was immer du säen magst, du säest nie den Körper, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa von Weizen oder von einer anderen Fruchtart. Gott aber gibt ihm einen Körper, wie Er gewollt hat, und für jede Samenart hält Er eine andere besondere Form bereit, und für jeden einzelnen Samen einen besonderen Körper.“ In den ersten christlichen Mysteriengemeinden war durch die Todeserstehung eine völlige Verwandlung in einen Geistleib gemeint. Denn Christus ist im Geist vorhanden, so dass ein „im Geist sein“ einem „mit Christus sein“ gleichkommt, und die gereinigte Seele Christus anzieht. Diese bilden den geistigen Leib für Christus, der sich durch charismatische Begabungen in den Gemeinden sichtbar macht. Ähnlich wie Erasmus von Rotterdam, der eine universal wirksame Pädagogik des Heiligen Geistes (der Lehrer) zu einem der wesentlichen Elemente des Glaubens macht, dem die Schriftauslegung Rechnung tragen muß, operiert auch Bedreddin. Er sieht die Begriffe Paradies und Hölle als von den Menschen falsch gedeutet, weil sie diese mit Bildern ihrer erlebten Wirklichkeit füllen, wie in Träumen, die nur Diesseitiges neu verweben. Du bist ein mit verschiedenen Früchten irregeführtes Kind, denn man macht solche angenehmen Vergleiche, damit das Kind sich nicht vom Unterricht abwendet. Der Heilige Geist bei Erasmus handelt ebenso. Erasmus schreibt: „Die göttliche Weisheit lallt mit uns, und wie eine besorgte Mutter paßt sie sich in ihrer Wortwahl unserer Unmündigkeit an: Milch gibt sie denen, die noch Kinder in Christo; leicht Kost reicht sie den Schwachen. Du aber strenge dich an, heranzuwachsen, um auch feste Speise zu erhalten. Die göttliche Weisheit neigt sich zu deiner Niedrigkeit hinab, du aber deinerseits richte dich zu ihrer Höhe!“
Den Lohn für gläubiges Leben verlagert Bedreddin daher vom Jenseits in ein diesseitiges, selbstverantwortetes, also göttlich-ethisches Verhalten. Er muß sich gefragt haben, ob Gott das Recht hat, den Sünder, dem er selbst dieses Schicksal auferlegt hat, auch dafür zu bestrafen, denn es ist nicht Gott, der den Menschen irreführt, sondern Iblis, der Teufel und Gott ist der Willensverteidiger eines jeden Menschen. Doch wozu in der Einheitvorstellung Gottes der Teufel zuzurechnen ist, verschweigt Bedreddin wohlwissentlich. Hier löst sich die Einheit des Seins und grenzt in üblich-orthodoxer Manier den Teufel, Iblis, vom Göttlichen ab. Bedreddin hält es, mit seiner Deutung der Begriffe Hölle und Paradies eher mit der Mystikerin Rabi´a, von der folgender Satz erhalten ist: „Wenn du Frieden erlangen willst, gib der irdischen Welt Verzicht, und wenn du wahre Ehre erlangen willst, verzichte mit einem »Gott ist größer« auch auf die jenseitige Welt. Er führt vielerorts den Gedanken der Einheit des Seins konsequent fort, kann oder will sich aber von vielen Motiven des Glaubens nicht trennen.
Ergebung bedeutet Emanzipation
Bedreddin legt seltsamerweise der Allmacht Gottes Beschränkungen auf. Dafür muß er das Göttliche wieder zum allmächtigen Herren verwandeln. Erst dann kann er seine Macht einschränken. Bedreddin bemerkt über den Allmächtigen: Er kann nichts wollen, was der Qualität der Dinge widerspricht. Sein Wollen verwirklicht sich entsprechend der Natur der Dinge. Der Allmächtige ist also nicht allmächtig. Wenn man Bedreddins Vorstellung von der Auflösung und Verdichtung der göttlichen Substanz zugrundelegt, könnte man meinen, das aus Gott Entstömende emanzipiert sich anschließend, so dass es, wenn aus der göttlichen Substanz ein Körper geworden ist, dieser nicht mehr vom Allmächtigen voll kontrollierbar ist. Es kann eigentlich nur die durch Verdichtung entstandene Form sein, die durch ihre Eigenart sich dem Einfluß Gottes entzieht. Das Göttliche entzieht sich durch die Formfindung dem Göttlichen. Dieser Gedanke hatte sich im Begriff „Abstand“ bereits angedeutet. Auf den Menschen bezogen bedeutet dies zunächst, dass Bedreddin sich gegen das übertriebene Abhängigkeitsgefühl ausspricht, das den Einzelnen zum Spielball göttlicher Lust macht.
Dem Menschen gesteht Bedreddin dabei einen eigenen Willen zu, der paradoxerweise mit der Willenslosigkeit korrospondiert, denn alle Tätigkeiten des Menschen und selbst das Sein, ist Gott selbst. Zunächst spricht er ihm jeglichen Willen ab: Gott ist es. Aber dieser ist im erkennenden Selbst. Jede Tätigkeit ist Folge eines Wunsches. Den Wunsch selbst führt er auf das Erscheinen innerer und äußerer Gründe zurück. Wunsch und Wille sind göttliche Eigenschaften im Menschen. Wenn es Gründe gibt, schreibt er, zeigt sich der Wille. Der Wille selbst macht eine Tätigkeit notwendig. Der einfache Mensch glaube nicht, dass er Gott in seinem eigenen Bild findet. Doch komme er nicht umhin, sich zu seinen Taten zu bekennen. Wer eine Tätigkeit ausführt, sollte wissen, dass diese von ihm selbst ausging. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen Gott und dem Menschen, also auch keinen in der Freiheit. Daher sollte der Mensch akzeptieren, dass er selbst Gott ist und den Willen und die Tätigkeit sich selbst zuschreiben. Was man Gott zuspricht, steht auch dem Menschen zu. Bedreddin durchlöchert das Dogma der fatalistischen Gebundenheit des Einzelnen an ein vorbestimmtes göttliches Schicksal (kismet) und begründet zugleich eine neue Abhängigkeit. Aus dieser Gebundenheit kann es kein Entweichen geben, behauptet er. Bedredddins Vorstellungen korrospondieren im Spiegelbild mit der „Geworfenheit“ Martin Heideggers.
Aus der Erkenntnis der Gebundenheit schöpft Bedreddin seine Lehre von der Freiheit. Es ist durchaus schwierig auf dieser Basis der Welt überhaupt einen Sinn zuzusprechen. Diese Welt in der Art der Orthodoxie als eine Prüfung für das eigentliche jenseitige Leben anzusehen, die entsprechend Lohn oder Strafe nach sich zieht, ist ausgeschlossen. Das Werk ist ein sich ausgestaltendes Selbst Gottes. Der Erkennende ist quasi ein freier Sklave, geworden aus und zur Metamorphose. Doch zugleich verfallen gesellschaftliche und religiöse Formensysteme zur Farce und werden auf den Einzelnen zurückgeworfen, der nur aus sich heraus, aus dem Göttlichen in ihm bestehen kann. Und um gut und sündhaft zu unterscheiden, ist das Individuum zum Selbstgespräch gezwungen. Am Ende der bedreddinischen Lehre steht jedenfalls der wissende Mensch, frei von vorgeschriebenen Ritualen, mit dem aus seiner Wesensgleichheit mit Gott resultierenden Freiheit des Willens und Wollens, denn dieser kann sagen: Ich habe es gemacht. Al-Halladsch hatte dies folgendermaßen formuliert: „Ich bin der, den ich liebe, und der den ich liebe, ist ich.“
Bedreddin ermutigt die Menschen sich selbst von geistlichen Würdenträgern nicht irreführen zu lassen. Diese Gesichtspunkte sind für das West-Ost-Verständnis von großer Bedeutung. Wenn R. Steiner im Vergleich der Seelenarten des Morgenlandes und der des westlichen Menschen den abendländischen den Vorzug gibt, stützt er sich auf die größere Möglichkeit der Entfaltung des menschlichen Ichs in Freiheit. Dieses sieht er eher in der abendländischen Mentalität. Das Ich als das bewußte Subjekt ist fast rein geistiger Natur. Diese deutliche Abgrenzung erscheint Anbetracht der anatolisch-heterodoxen Glaubensrichtungen überzogen und einseitig. C.G. Jung folgt der gleichen Bewertung, weist jedoch auf das Ergänzungsbedürfnis der vom Intellekt beherrschten Mentalität des Abendländers hin. „Der eine unterschätzt die Welt der Bewußtheit, der andere die Welt des Einen Geistes.“ Die Immanenz Gottes gehört heute zu den spannendsten Fragen, die zu einer weiteren Annäherung und zu eher östlichen Gedanken und zur Mystik führen können.
Bedreddin bricht mit seinen Vorstellungen ohne Zweifel auch mit dem Dogma des islamischen Rechts, das das Verhältnis der Menschen untereinander und zur weltlichen Herrschaft regelt und auch das Gewissen und den Weg zu Gott strengen kollektiven Regeln unterwirft. Wir müssen, um die Anfeindungen gegen ihn zu verstehen, uns vergegenwärtigen, dass es sich bei ihm – wenn auch nur für eine kurze Zeitspanne - um den höhsten Richter des Landes handelte. Solche Gedanken waren und sind für die sunnitische wie auch schiitische Orthodoxie Gotteslästerungen. Jenen ist gemeinsam, dass sie die Schöpfung als einen Willensakt Gottes sehen, den Menschen zwar als Ebenbild Gottes bezeichnen, ihm jedoch die Fähigkeit absprechen, selbständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; daher die Gebote. Der orthodoxe Islam spricht zwar vom Recht des Einzelnen über das Ich (Li nafssika ‘alaika haqqun = Du selbst hast dir gegenüber Rechte), beginnt diese aber zugleich zu regeln, indem er sehr detaillierte Bestimmungen über ein sittlich-geistiges Leben festsetzt und so ein mögliches Vakuum, worin Freiheit gedeihen könnte, wieder ausfüllt.
Zusammenfassende Bemerkungen
Bedreddins Lehre fügt sich - ungeachtet der vielen darin enthaltenen Widersprüche - fast ausnahmslos in das Weltbild der anatolischen Bektaschîs und der ihnen ähnelnden heterodoxen Bewegungen ein. Dass sein Name im Zusammenhang mit diesen keine Erwähnung findet, kann man darauf zurückführen, dass diese durchaus städtische Ausprägung islamischer Heterodoxie zu Bedreddins Lebzeiten noch nicht unter diesem Namen existierte. Die Lebensphilosophie der Bektaschis ist in der heutigen Türkei noch sehr lebendig.
Die Bedreddin zugesprochene Christenfreundlichkeit ist aus seinen Werken nicht ableitbar und ist nicht als eine innere Hinneigung zum christlichen Glauben zu verstehen, sondern zeigte vielmehr die Sehnsucht nach einem Ausgleich der Religionen. Er deutet die Religionen als eine Vielfalt des Einen und steht damit den Gedanken Nikolaus von Kues nahe. N. von Kues, einer der bedeutenden Philosophen der Frührenaissance, behauptete, dass alle Religionen in ihrer Weise den gleichen Gott suchen und dass jenseits der Verschiedenheiten eine einzige göttliche Wahrheit existiert. Er fand diese göttliche Wahrheit jedoch letzten Endes wieder im Christentum. Bedreddin schreibt über die verschiedenen Richtungen im Glauben sehr lapidar: Denke mal über die Glaubensansichten der Menschen nach! Wer sie nicht gekostet hat, was weiß er schon? Unbestreitbar dürften es neben seinen weiten Reisen die Einflüsse ihm nahe stehender Personen gewesen sein. Er hatte eine christliche Mutter und heiratete in Ägypten eine Christin, über die leider nicht mehr bekannt ist, als dass sie Sklavin im Hause des ägyptischen Königs war. Das Mânakibnâme seines Enkels betont, dass es seine christliche Schwägerin Maria war, die ihn auf den Weg der Sufis brachte.
Das Neue in den Gedanken Bedreddins bestand weniger in der Einmaligkeit seines Lehrsystems, denn vielen Teilen begegnet man auch schon bei Ibn Arabî. In Anatolien ausgeprägt finden sie sich bei dem weiterhin sehr oft besungenen Volksdichter und Sänger Yunus Emre (13. Jh.). Es sind vielmehr die Schlußfolgerungen, die er aus den überkommenen religiös-philosophischen Theoremen zieht. Seine Bedeutung für die osmanische Geschichte ist daher auch an die regionalen, sozialen und politischen Bedingungen geknüpft, also an den Boden auf den dieser Samen fiel. Seine Ideen entwickelten sich in den Grenzgebieten zwischen Islam und Christentum. Ob sie jedoch als Ausdruck einer neuen wohlgeordneten Gesellschaft gesehen werden können, wie es E. Werner betont, ist schwer nachzuvollziehen, zumal das Wohlgeordnete nur innerhalb des Rechtssystems einigermaßen ankündigt. Dies zeigt sich nur teilweise freiheitlich. Seine Erziehungsvorstellungen sind wiederum eher als autoritär zu bezeichnen. Seine Ansichten fanden an den Grenzregionen auch deshalb Anklang, weil sie neben der Toleranz auch viele Berührungspunkte mit den Vorstellungen der Gnostiker, der Paulikianer, der Messianer und anderer in dieser Region verbreiteter religiöser Bewegungen enthalten.
Weblinks
Literatur
Mesut Keskin: Die Toleranzidee in der anatolischen Heterodoxie am Beispiel Scheich Bedreddin Mahmud Isra'ils mit Bezügen zur interkulturellen Erziehung. Dissertation an der FU Berlin, Mikrofiche-Ausg.: 2001.