Der Begriff Kanzlerdiktatur wurde erstmals von zeitgenössischen liberalen Kritikern zur Kennzeichnung der Regierung des deutschen Reiches unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck verwendet, um dessen antiparlamentarisches Herrschaftssystem zu charakterisieren. Anfangs waren damit vor allem die letzten Tage Bismarcks Regierungszeit gemeint. Heute wird der Begriff auch im Bezug auf die Verfassung des deutschen Reiches verwendet. (vgl. auch Deutsches Kaiserreich).
Der Begriff im Bezug auf die Verfassung
Das Deutsche Reicht hatte als Bundesinstitution einen aus einen aus Vertretern der Mitgliedsstaaten gebildeten und beschlossenen Bundesrat unter dem Vorsitz des Königs von Preußen, eine parlamentarische Bundesvertretung, den "Reichstag", und eine rudimentäre Bundesexekutive, geführt und geleitet von dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck als Kanzler. Hier zeigt sich das Machtstreben Bismarcks, denn rein verfassungstechnisch gesehen, führte der preußische Außenminister die Geschäfte des Bundesrats und war somit der Vorgesetzte des Kanzlers. Deshalb war Bismarck nicht nur Kanzler sondern auch preußischer Ministerpräsident und Außenminister in einer Person. Auch war der Reichskanzler war zwischen 1871 und 1918 allein dem Deutschen Kaiser - und nicht etwa was nahe liegend wäre dem Reichstag - verantwortlich. Einzig allein der Kaiser als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches berief und entließ den Reichskanzler.
Der Begriff an sich
Vor allem nach der innenpolitischen Wende von 1878/79 und der Hinwendung Bismarcks zu den Konservativen nahm die Kritik der Liberalen am Reichsgründer zu. Franz Freiherr von Roggenbach sprach von einem „allmächtigen Gewalthaber.“ Eugen Richter und Eduard Lasker sprachen von einem „Usurpator“ und „Diktator“ und beklagten das „autokratische Element (...) in der Form des Scheinkonstitutionalismus.“ Ähnlich äußerten sich auch Gustav von Mevissen und Friedrich Kapp. Der Begriff wurde in den 1880er Jahren nicht im exakt verfassungsrechtlichen Sinne gebraucht, da sich formal nichts an der untergeordneten Stellung des Kanzlers geändert hatte.
In der Folge wurde der Begriff auch von konservativen Gegnern Bismarcks wie Hans Lothar von Schweinitz, von ausländischen Diplomaten wie Lord Ampthill und später von Historikern aufgegriffen. Selbst Friedrich Meinecke, alles andere als ein Bismarckfeind, formulierte das Bismarck „auch im neuen Reich eine Art von Diktatur“ ausüben würde.
Bismarck selbst hatte zu dieser Charakterisierung beigetragen als er schrieb: „In allem, nur nicht dem Namen nach, bin ich Herr in Deutschland.“
Der Begriff in der Moderne
Bismarck war nicht der letzte Kanzlerdiktator des deutschen Reiches. Auch Adenauer hat eine Kanzlerdiktatur geführt. Zum einen, da er zeitweilig Kanzler und Außenminister gewesen war. Zum anderen war auch sein Führungsstil, zwar nicht so strikt wie der des eisernen Kanzlers, aber auch autoritär und undemokratisch.
Literatur
- Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des ersten Weltkrieges. 1849-1914. München, 1995. S.362f.
- Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen, S.1988.