
Die afroasiatischen Sprachen (früher auch als hamito-semitisch oder semito-hamitisch bezeichnet) bilden eine Sprachfamilie, die im Norden Afrikas und in Westasien verbreitet ist. Das Afroasiatische besteht aus fünf oder sechs separaten Zweigen mit etwa 350 Sprachen (davon sind rund 40 ausgestorben) und besitzt etwa 350 Mio. Sprecher.
Das Afroasiatische ist eines des vier großen Phyla afrikanischer Sprachen, die Joseph Greenberg in seinen Arbeiten von 1950 bis 1963 etabliert hatte und die noch heute die Basis aller klassifikatorischen Arbeit in Afrika bilden.
Hauptzweige, Gliederung und geografische Ausbreitung
Die Primärzweige des Afroasiatischen
Man unterscheidet heute in der Regel folgende sechs Primärzweige des Afroasiatischen:
- Afroasiatisch > 354 Sprachen, davon 43 ausgestorben, 347 Mio Sprecher: Nord-Afrika, Naher Osten
- Ägyptisch-Koptisch † > 1 Sprache, ausgestorben: Ägypten
- Berberisch > 24 Sprachen, davon 5 ausgestorben, 13,5 Mio Sprecher: Nordwest-Afrika
- Semitisch > 62 Sprachen, davon 28 ausgestorben, 261 Mio Sprecher: Nord-Afrika, Naher Osten, Arabien, Malta, Äthiopien
- Kuschitisch > 47 Sprachen, davon 2 ausgestorben, 38 Mio Sprecher: Nordost-Afrika
- Omotisch > 27 Sprachen, 4 Mio Sprecher: Äthiopien, Sudan
- Tschadisch > 193 Sprachen, davon 7 ausgestorben, 31 Mio Sprecher: Südwest-Tschad, Süd-Niger, Nord-Nigeria
Das Omotische wurde früher zum Kuschitischen gerechnet, durch Arbeiten von H. Fleming erhielt es den Status eines separaten Zweiges. Das Bedscha wird meistens als Zweig des Kuschitischen aufgefasst, wenige Forscher sehen in ihm einen möglichen sechsten Primärzweig des Afroasiatischen. Die in Äthiopien gesprochene Sprache Ongota (Birale) gehört sehr wahrscheinlich auch zur afroasiatischen Familie und etabliert (nach H. Fleming) einen unabhängigen weiteren Zweig.
Zur Bezeichnung
Die Bezeichnung "Afroasiatisch" geht auf Joseph Greenberg zurück. Sie hat die irreführende und auch rassistisch belastete alte Benennung "Hamito-Semitisch" abgelöst. Diese ist irreführend, da sie eine Zweiteilung dieser Sprachfamilie in "semitische" und "hamitische" Sprachen suggeriert, die nicht existiert.
Älteste Belege
Die früheste belegte afroasiatische Sprache ist das Alt- bzw. - genauer - Frühägyptisch, dessen älteste Zeugnisse bis zum Ende des 4. vorchristlichen Jahrtausends zurückreichen. Einige Jahrhunderte später setzt die Überlieferung des Semitischen, zunächst des Akkadischen und im 2. Jahrtausend v. Chr. westsemitischer Idiome ein. Zwar lassen sich einige Wörter, die sich bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. im Ägyptischen finden, wie z. B. dng „Zwerg“, als Lehenwörter aus afrikanischen Zweigen des Afroasiatischen deuten, doch sind Texte in diesen Sprachen erst aus wesentlich späteren Zeiten überliefert. Die Zugehörigkeit der aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt stammenden numidischen Inschriften aus Nordafrika zu den Berbersprachen ist unsicher, die frühesten Belege für das Kuschitische, Tschadische und Omotische finden sich sogar erst im Mittelalter bzw. der Neuzeit. Trotz diesem enormen zeitlichen Abstand zwischen den frühesten Zeugnissen des Ägyptischen und afrikanischer Sprachen von vier Jahrtausenden steht das Altägyptische dem Proto-Afroasiatischen nicht unbedingt näher als erst wesentlich später niedergeschriebene Idiome wie das Hausa oder das Somali.
Typologie
Im Proto-Afroasiatischen war – wie in den Einzelsprachen - mit großer Sicherheit der flektierende Sprachbau vorherrschend. Einige Eigenschaften der afroasiatischen Sprachen, wie die unterschiedliche Behandlung transitiver und intransitiver Verben, können darauf hinweisen, dass das Proto-Afroasiatische eine Ergativsprache gewesen sein könnte. Verben und Nomina des Ägyptischen und Semitischen sind auf drei- und im Ägyptischen auch zweikonsonantigen Wurzeln aufgebaut, während in den anderen Zweige zweikonsonantige Wurzeln die Regel sind. Daher ist unklar, ob das umfangreiche System der Wortbildung, die das Ägyptische und Semitische gemein haben, auf die Protosprache zu übertragen ist. Eine mögliche Lösung dieses Problems stellt die Interpretation des dritten Wurzelkonsonanten als Affix dar (besonders Ehret 1995).
Phonologie
Konsonanten
Die meisten bzw. alle afroasiatischen Hauptzweige haben neben stimmhaften und stimmlosen konsonantischen Phonemen auch eine dritte Reihe, die in den meisten Sprachen durch Glottalisation, teilweise auch durch Pharyngalisierung realisiert wurden und als emphatisch bezeichnet werden. Ebenfalls in allen Sprachen sind pharyngale Frikative ([ ], [ ], [ ]) vorhanden. Das Konsonantensystem des Proto-Afroasiatischen wird übereinstimmend mit etwa 33/34 Phonemen und teilweise auch velarisierten, palatalisierten und sonstigen Varianten rekonstruiert. Die Lautkorrespondenzen der Hauptzweige untereinander sind jedoch in zahlreiche Fällen unsicher, besonders gravierend sind die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Ägyptischen, die sich stark auf die innerägyptologische Diskussion auswirken. So ist umstritten, ob das Ägyptische emphatische Konsonanten aufwies und ob das ägyptische Phonem Vorlage:Unicode, das spätestens seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. den Lautwert [ ] besaß, auf proto-afroasiatisches [ ] oder eine Reihe stimmhafter Plosive und Frikative zurückgeht.
Vokale
Hinsichtlich der Vokale sind wenige Gemeinsamkeiten erkennbar. Das Semitische und Ägyptische weisen klar drei Grundvokale a, i und u auf, die Beziehungen dieser Vokale zu denen anderer Sprachen sind kaum gesichert. Zwar sind einige afroasiatische Sprachen Tonsprachen, doch ist unklar, ob das Proto-Afroasiatische deshalb ebenfalls eine Tonsprache war.
Morphologie
Nominalmorphologie
Zu den sichersten Gemeinsamkeiten in der Nominal- und auch Pronominalmorphologie gehört ein feminines Bildungslement -t: mittelägyptisch sn.t „Schwester“.
Kuschitisch, Berberisch und Semitisch haben außerdem ein Kasussystem gemeinsam, von dem sich mögliche Spuren auch im Ägyptischen und Omotischen finden, wobei die Interpretation des ägyptischen Befundes mit Ausnahme des möglichen Reflexes des Nominativs als -w in der Ägyptologie umstritten ist.
Funktion | Suffix | Einzelsprachliche Reflexe | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Semitisch | Kuschitisch | Berberisch | Ägyptisch (strittig) |
Omotisch | ||
Absolutiv | *-a | *-a (Akkusativ) |
*-a | *a- | *-a | |
Nominativ | *-u | *-u | *u- | -w | *-u | |
Obliquus | *-i | *-i (Genitiv) |
*-i | *-i | *-i |
Andere Kasus wie ein Lokativ/Terminativ auf *-Vorlage:Unicode (akkadisch -iš, ägyptisch -js) sind unsicher und wurden daher hier nicht aufgeführt.
Alle Zweige des Afroasiatischen kennen die Numeri Singular und Plural, im Semitischen und Ägyptischen kommt ein Dual hinzu. Die Pluralbildung erfolgt allgemein, mit Ausnahme des Ägyptischen, in dem sich ein Suffix -w durchgesetzt hatte, auf vielfältige Art und Weise. Aufgrund ihrer großen Verbreitung können die Suffixe -n, -w und -t und die Pluralbildung durcg Veränderung der Vokalstruktur (beonders nach dem Muster CVCaC u.ä.), Konsonantengemination und Reduplikationen als proto-afroasiatische Merkamle angesehen werden:
- Mit -w: Semitisch: akkadisch šarrū (< *šarruw) „Könige“, ägyptisch nbw.w „Herren“, berberisch mess-aṷ „Herren“, mess-aṷat „Herrinen“, Tschadisch: Hausa itaat-uuwà „Bäume“
- Mit -a-: Proto-Semitisch *kilāb- „Hunde“, Kuschitisch: Beja bak „Ziegen“, Tschadisch: Ngizim gimsak „Männer“
Über die ganze Sprachfamilie verbreitet sind außerdem einige Präfixe zur denominalen bzw. deverbalen Nominalbildung, beispielsweise *ma-, das zur Bildung von Nomina loci, instrumenti und agentis dient:
- lokal: ägyptisch *mVorlage:UnicodesVorlage:Unicoder „Ohr“ zu sVorlage:Unicoder „schlafen“.
- Instrumental: altsüdarabisch mbhVorlage:Unicodet „Eingang“ zu bhVorlage:Unicode „betreten“, ägyptisch *mVorlage:Unicode3q.t „Leiter“ zu j3q „hinaufsteigen“.
- In Nomina agentis: proto-semitisch *musallim- „einer, der ganz macht“ zu *salim „ganz, gut“, ägyptisch *mVorlage:Unicode3jw „Widersacher“ zu Vorlage:Unicode3j „sich widersetzen“.
Pronomina
Personalpronomina
Sehr konsistent ist das System der Personalronomina. Den Kern bildete die folgende, in allen Zweigen erhaltene Reihe (Tabelle im Wesentlichen nach Hayward 2003; für das Ägyptische sind rekonstruierte vokalisierte Formen, für das Omotische Formen aus modernen Sprachen angegeben):
Person | Proto-Afroasiatisch | Ägyptisch | Semitisch | Berberisch | Kuschitisch | Tschadisch | Omotisch |
---|---|---|---|---|---|---|---|
1. Sg. | *i, *yi | -j | -*ii, *-yaʾ (Genitiv), *-nii (Akkusativ) | -i, -in | *-yV | *wa, *ni | yin |
2. Sg. m. | *ku, *ka | *-ku | *-ka | -k | *ku | *ka | |
2. Sg. f. | *ki | *-ki > -Vorlage:Unicode, *kim > Vorlage:Unicodem > Vorlage:Unicoden | *-ki | (k)m | *ki | *ki, *kim | |
3. Sg. m. | *si | *-su | *-šu | -s | *-su / *-sa | *ši | iz-n |
3. Sg. f. | *si | *-si | *-ši | -s | *-sii | (*ta) | iž-n |
1. Pl. | *nV | *-ina | *-nV | -nVorlage:Unicode | *nV | *mu | in |
2. Pl. m. | *kuuna | *-kiina | *-kumu | -un | *kun(V) / *kin(V) | *ku, *kun | |
2. Pl. f. | *-kina | -unt | |||||
3. Pl. m. | *kuuna | *-sina | *-šumu | -sn | *ʔisun(V) / *ʔisin(V) | *su, *sun | íš-n |
3. Pl. f. | *-šina | -snt |
Daneben zeigen das Semitische, das Ägyptische, Kuschitische und Berberische Reste einer zweiten Reihe, in der offenbar ein Element *ʔan- mit den Personalsuffixen des Suffixkonjugation des Verbs verknüpft wurde: proto-semitisch *ʔan-aaku, ägyptisch *ʔăn-ắk, berberisch nə-kki „ich“.
Die Demonstrativpronomina werden in den mesisten afroasiatischen Sprachen aus genusanzeigenden Elementen *n-, *k- (Maskulinum), *t- (Femininum) und weiteren kleinen Elementen zusammengesetzt: Somali (Kuschitisch) kan (m.), tan (f.), kuwan (pl.), altägyptisch pn (m.), tn (f.), jpn (pl. m.), jptn (pl. f.), nn (neutrisch) „dieser, -e, -e“.
Verbalmorphologie
Konjugation
In der Verbalmorphologie zeigen sich zwischen den Primärzweigen ähnliche Unterschiede wie sie schon bei der Substantivdeklination erkennbar wurden: Semitisch, Kuschitisch und Tschadisch besitzen die Präfixkonjugation, mit dem ursprünglich die beiden Aspekte Perfekt und Imperfekt konjugiert wurden, in den westsemitischen Sprachen wurde sie auf das Imperfekt begrenzt.
Im Ägyptischen haben sich keine Spuren der Präfixkonjugation erhalten, stattdessen findet sich hier schon seit den frühesten Texten die (ägyptische) Suffixkonjugation, die keine Personalkonjugation kannte, aber das pronominale Subjekt durch suffigierte Personalpronomina ausdrückte: sVorlage:Unicodem=f „er hört“, sVorlage:Unicodem.n nVorlage:Unicoder „der Gott hörte“. Die Evolution dieser Art der Konjugation ist umstritten, in Frage kommen hauptsächlich mit Nomen rectum als logisches Subjekt versehene Nomina actionis und Partizipien.
Das Tschadische besitzt zwar eine Konjugation durch präverbale Morpheme, doch ist diese genetisch mit der Präfixkonjugation nicht verwandt, vielmehr stellen die Personapräfixe des Tschadischen modifizierte Formen der Personalpronomina dar. Beispiel: Hausa kaa tàfi „du gingst“. Im Omotischen erfolgt die Konjugation auf verschiedene Weise durch pronominale Elemente, im Yemsa könnten sich die Personalpräfixe der Präfixkonjugation immerhin in Form von Suffixen erhalten haben.
Neben der Präfixkonjugation besaß das Proto-Afroasiatische noch eine zweite Konjugationsmethode, in der die Personen durch Suffixe unterschieden wurden. Diese Art der Konjugation hat sich im Semitischen, Ägyptischen und Berberischen erhalten, sie verlieh dem Verb offenbar eine stativische Bedeutung.
Aspektstämme
Fast alle afroasiatische Sprachen unterscheiden zwei Aspektstämme: einen perfektiven und einen imperfektiven Aspektstamm. Der perfektive Stamm war meist der Grundstamm, der Imperfektstamm wird meist, was als erster Greenberg entdeckte, durch Gemination des mittleren Konsonanten und a-Ablaut gebildet: Semitisch: Akkadisch ikbit (Perfekt) – ikabbit (Imperfekt); Berberisch: Tamasheq: ifəɣ (Perfekt) – iffaɣ (Habitual); Kuschitisch: Afar: -erd- (Perfekt) - -ard- (Imperfekt); Tschadisch: Ron: mot – mwáat (Habitativ).
Bildung
Allen Hauptzweigen des Afroasiatischen ist ein aus Affixen bestehendes System zur deverbalen Verbalbildung gemeinsam. In allen Familien findet sich ein Affix *-s-, das zur Bildung kausativer, faktitiver und transitiver Verben diente: ägyptisch smn „festsetzen“ zu mn „bleiben“; Berberisch ssxdm „arbeiten lassen“ zu xdm „arbeiten“; Kuschitisch: Sidamo: raʔ-is- „(etwas) kochen“ zu raʔ- „kochen“ (intransitiv); Omotisch: Aari: lanqs- „müde machen“ zu lanq- „müde sein“. Weitere weit verbreitete Affixe sind *-t-, *-m- und *-n, die Reflexivität, Reziprozität, Passivität, Intransivität und das Medium ausdrücken.
Syntax
Wortschatz
Der allen Zweigen gemeinsame Wortschatz dürfte mehrere hundert Lexeme groß sein, seine Rekonstruktionen (Cohen 1947, Diakonoff 1988, Ehret 1995, Orel-Stolbova 1995) weichen jedoch, nicht zuletzt aufgrund der Unsicherheiten hinsichtlich der Rekonstruktion der Lautkorrespondenzen, stark voneinander ab. Beispiele für sehr sichere Wortgleichungen sind:
Literatur
Afroasiatisch
- Carleton T. Hodge: Afroasiatic - A Survey. Mouton, The Hague 1971.
- Christopher Ehret: Reconstructing Proto-Afroasiatic (Proto-Afrasian): Vowels, Tone, Consonants, and Vocabulary. University of California Publications in Linguistics 126, California, Berkeley 1996. ISBN 0520097998 (das heutige Standardbuch für Proto-Afroasiatisch; aber im Bereich des Ägyptischen problematisch)
- Igor M. Diakonoff et al.: Historical-Comparative Vocabulary of Afrasian. St. Petersburg Journal of African Studies. Nos. 2-6, 1993-7.
- Vladimir E. Orel and Olga V. Stolbova: Hamito-Semitic Etymological Dictionary: Materials for a Reconstruction., Brill, Leiden 1995. ISBN 9004100512. (Verwendetes Material teilweise unzuverlässig; die auf das Ägyptische angewendeten Lautregeln sind veraltet)
- Marcel Cohen: Essai comparatif sur la vocabulaire et la phonétique du chamito-sémitique. Champion, Paris 1947. (von historischem Interesse)
Afroasiatisch im Kontext afrikanischer Sprachen
- Bernd Heine und Derek Nurse: African Languages. Cambridge University Press 2000.
- Bernd Heine, Thilo C. Schadeberg und Ekkehard Wolff: Die Sprachen Afrikas. Buske, Hamburg 1981.
- Joseph Greenberg: The Languages of Africa. Mouton, The Hague and Indiana University Center, Bloomington 1963.