Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist die erweiterte und revolutionierte Theorie Parsons´. Luhmanns Theorie ist gekennzeichnet von der Abwendung vom Handlungsbegriff und der Hinwendung zur Kommunikation als dem Zentrum der Systemtheorie (kommunikationstheoretische Systemtheorie).
Ausgangspunkt
Luhmann beschreibt seinen systemtheoretischen Ausgangspunkt als „operationsbasierte Systemtheorie“ oder auch als „operative Systemtheorie“. Der Operationsbegriff spielt in Systemtheorie daher eine zentrale Rolle und er verfolgt daher ein dezidiert "operatives Systemmodell" (im Unterschied zu "retiven Systemodellen", die vom Netz als einheitsstiftendes Muster ausgehen). Ebenso wie ein System über Operationen definiert ist, sind Operationen über das System definiert. Systeme sind daher nur über Operationen denkbar, ebenso wie Operationen nur über Systeme denkbar sind: „Nur ein System kann operieren, und nur Operationen können Systeme produzieren.“ Die Einheit eines Systems wird einzig über die Verkettung von gleichartigen Operationen hergestellt. Die Typengleichheit operativer Elemente ist notwendige Bedingung für die Einheit eines operativen Systems, da es über keine (räumliche) Grenze im herkömmlichen Sinne verfügt. Luhmanns Systemmodell basiert daher auf einem temporalisierten Systemmodell und räumliche Phänomene des Sozialen haben innerhalb seines Systemmodells keinen Platz. Luhmann konzentriert sich daher auf die Abfolge von sozialen Operationen, von denen er nur die Kommunikation als "die einzig genuine soziale" Operation betrachtet.
Kommunikation
Die soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann bedient sich eines variierten Verständnisses von Kommunikation, welches nicht dem gängigen Modell der Informationstheorie entspricht. Kommunikation kommt zustande, wenn in einem Gesamtprozess aus Information, Mitteilung und Verstehen die bewusste Selektivität einer Seite zu einer weiteren wahrgenommenen Selektivität der anderen Seite führt. Information ist Auswahl auf einem Hintergrund möglicher Auswahlen (Kontingenz). Erst aus beidem zusammen entsteht (die) Information. Diese wird in einer die Systemgrenzen überschreitbaren Form mitgeteilt, in der Hoffnung, dass die andere Seite diese Mitteilung und die darin enthaltene Information versteht, also die Differenz zwischen Mitteilung und Information prozessieren kann. Offen ist, ob das daraus resultierende bzw. von der anderen Seite gewählte anschließende Verhalten der Erwartung der ersten Seite entspricht. Die weitere Prüfung, Bestätigung oder Korrektur kann tatsächlich nur durch weitere Beobachtung und insbesondere nur durch weitere Akte von Kommunikation geschehen, sodass das Ganze erst in einem gegenseitigen Prozess zeitliche Existenz gewinnt. (Im Sinne der soziologischen Systemtheorie ist ein Gesamtprozess aus Informieren, Mitteilen und Verstehen eine Differenzeinheit. Dieser schließen sich weitere Differenzen an.)
Derartige Kommunikation stabilisiert sich einerseits im Wechselspiel gegenseitiger Erwartungen und erweitert sich andererseits fortlaufend durch die so geschaffenen Möglichkeiten weiterer Bezugnahmen. Sie ist ,bedroht' durch inadäquate, falsche, ungewollte Selektionen, Auswahlen, Antworten und grenzt sich, wenn sie erfolgreich ist, gegen diese ab. Kommunikation ist also ein Phänomen, welches auf der Basis von einzelnen Selektionen zweier Seiten zu einer komplexeren, sich selbst stabilisierenden neuen Gesamtsituation führt, die als neues emergentes System gesehen wird.
Luhmann sagt: Systeme (z.B. soziale Systeme) operieren.
Beispiel:
- Wenn ein Fernsehsprecher etwas sagt und jemand fühlt sich als Adressat, hat Kommunikation stattgefunden.
- Hört jemand jemanden etwas sagen, fühlt sich aber nicht angesprochen, hat keine Kommunikation stattgefunden.
Operationen
Beispiele:
- Denken ist eine Operation des Systems Bewusstsein
- Sprache ist kein System, sondern ein Medium, hat also keine Operationen. Vermittlung ist eine Funktion des Mediums.
Kommunikation ist dabei kein Ergebnis menschlichen Handelns, sondern ein Produkt sozialer Systeme. Luhmann teilt die Kommunikation in drei Elemente auf (Selektionsprozess):
Die Kommunikation wird durch Verbreitungsmedien (Sprache, Schrift, Buchdruck, Massenmedien) vollzogen. Sprache als grundlegendes Kommunikationsmedium ist binär kodiert, d.h. jede Aussage kann als Affirmation (Bejahung) oder Negation (Verneinung) interpretiert werden.
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, Helmut Willke spricht hier von Steuerungsmedien, ist ein zentraler Bestandteil der Theorie sozialer Systeme des Soziologen Niklas Luhmann. Auch Richard Münch vertritt eine solche Theorie, jedoch mit abweichendem Inhalt.
Nach Luhmann erscheinen beispielsweise Macht, Geld, Liebe, Kunst und Sport als Kommunikationsmedien. Diese haben alle die gleichen Eigenschaften und Strukturen. Damit sind in der Theorie die Medien untereinander gut vergleichbar. In „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ legt Luhmann die am besten ausgearbeitete Theorie der Kommunikationsmedien vor.
Er unterscheidet zwischen Verbreitungsmedien, die die Reichweite der Kommunikation steigern, und Erfolgsmedien. Zu denen zählen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Sie stellen die Lösung für ein Problem dar, das die Evolutionstheorie innerhalb der Gesellschaftstheorie Luhmanns aufwirft. Nach dieser steigert im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung die Sprache die Verständlichkeit der Kommunikation. Damit sinkt jedoch zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass Kommunikation erfolgreich ist. Schriftlichkeit der Kommunikation dehnt die zeitliche Reichweite von Kommunikationen aus. Für eine Kommunikation ist keine Interaktion, also Anwesenheit, mehr erforderlich. Die Wahrscheinlichkeit eines Kommunikationserfolgs sinkt weiter.
Unwahrscheinliche Kommunikation
Erfolgreiche Kommunikation bedeutet, dass die Selektionen einer Kommunikation als Prämisse für folgende Kommunikationen übernommen werden. Luhmann versteht Kommunikation als die Synthese einer dreistelligen Selektion. Ein Initiator entscheidet über Information und Mitteilung. Daran kann sich ein Verstehen anschließen. Erfolg bedeutet nun, dass beispielsweise eine ursprünglich selegierte Information verstanden und als Grundlage von Folgekommunikationen angenommen wird. Auf Basis der Selektion des ersten Initiators wird nun eine weitere dreistellige Selektion angeschlossen. Im Verlaufe der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung entstehen Problemlagen, die die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in spezifischer Weise lösen: Eine Zahlung etwa sorgt dafür, dass jemand ein begehrtes Gut überhaupt hergibt. Aber wie kann eine Zahlung - heute codiert in Währungen - dazu motivieren? Luhmann beantwortet dies mit der Erwartbarkeit von Folgekommunikationen. Kann Ego nicht voraussetzen, dass die von Alter empfangene Zahlung weiter eintauschbar bleibt, wird Ego die Zahlung nicht annehmen. Ist die Anschließbarkeit von Kommunikation, in diesem Beispiel die Zahlung, hingegen gewährleistet, wird Ego motiviert, eine Zahlung anzunehmen. Das ist es, was Kommunikationsmedien generell leisten: Die Verknüpfung von Selektion und Motivation. Sie transformieren unwahrscheinliche Konstellationen in Wahrscheinlichkeiten.
Ausdifferenzierung der Kommunikationsmedien
Von dieser Grundannahme einer Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation erarbeitet Luhmann in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ eine Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Er entwirft zunächst die Differenzierung von Kommunikationsmedien. Sie vermitteln zwischen den beiden Positionen einer doppelt kontingenten sozialen Situation. Und dies tun sie in je einer Weise, die sich danach unterscheiden, ob sich die Positionen Alter und Ego als handelnd oder erlebend voraussetzen. So ergeben sich vier denkbare Vermittlungsfunktionen, für die Luhmann einige in modernen Gesellschaften ausdifferenzierte KM beschreibt. Macht etwa vermittelt zwischen Alters Handeln und Egos Handeln.
Links
Tabellarische Übersicht: Steuerungsmedien auf der Ebene des sozialen Systems
- Personen sind keine Systeme, sondern Identifikationspunkte der Kommunikation. Gesellschaft konstituiert und reproduziert sich also durch Kommunikation und ist darin auf Anschlussmöglichkeiten für weitere Kommunikationen angewiesen, wobei Kommunikation nicht ohne Gesellschaft zu denken ist. Diese zirkuläre Definition grenzt sich bewusst von deduktiven Methoden der klassischen Wissenschaft ab. Die Gesellschaft wird als sich selbst beschreibendes (autopoietisches) System betrachtet, das seine eigenen Beschreibungen enthält.
Autopoiesis
Soziologie
Autopoiesis ist ein Schlüsselbegriff in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann (*1927, †1998). Luhmann übernahm den Begriff Autopoiesis in den frühen 80er Jahren und übertrug das Konzept auf die Betrachtung sozialer Strukturen.
Seine zentrale These lautet, dass soziale Systeme
- ausschließlich aus Kommunikation bestehen (nicht aus Subjekten, Akteuren, Individuen o.ä.),
- sich in einem ständigen, nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen - daher bezeichnet Luhmann sie auch als autopoietische Systeme.
Luhmann beobachtete, dass Kommunikation in sozialen Systemen ähnlich abläuft wie die Selbstreproduktion lebender Organismen: Ähnlich wie diese nur Stoffe aus der Umwelt aufnehmen, die für ihre Selbstreproduktion relevant sind, nehmen auch Kommunikationssysteme in ihrer Umwelt nur das wahr, was zu ihrem „Thema passt“, was an den Sinn der bisherigen Kommunikation „anschlussfähig“ ist. „Sinn“ ist für Luhmann ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität: In der unendlich komplexen Umwelt wird nach bestimmten Kriterien nur ein kleiner Teil herausgefiltert; die Grenze eines sozialen Systems markiert somit eine Komplexitätsdifferenz von außen nach innen. (Statt von einem „autopoietischen System“ mit einer „Grenze“ spricht Luhmann gelegentlich auch von einer „Form“ mit einer „Innen-“ und einer „Außenseite“, wobei er das sehr abstrakte „Kalkül der Form“ des Logikers George Spencer-Brown heranzieht.)
Die Kommunikation bezieht sich nur scheinbar direkt auf die Umwelt. Tatsächlich bezieht sie sich nur auf die von ihr nach ihren eigenen Gesetzen wahrgenommene innere Abbildung der Umwelt, also letztlich auf sich selbst. Diese Selbstbezüglichkeit, auch als Selbstreferenzialität oder Autoreferenzialität bezeichnet, betrachtet Luhmann als typisch für jede Kommunikation und analog zum Phänomen der Autopoiesis in der Biologie. Die Begriffe selbstreferenzielles System und autopoietisches System sind daher in den meisten Fällen austauschbar.
Luhmann definiert soziale Systeme seit der Übertragung des Autopoiesis-Begriffs auf seine Theorie in den frühen 80er Jahren (in der Rezeption auch als Luhmanns „autopoietische Wende“ betrachtet) nicht mehr als „offen“ (d.h. im direkten Austausch mit der Umwelt), sondern als „autopoietisch geschlossen“ bzw. „operativ geschlossen“. Die Wahrnehmung der Umwelt durch ein System ist daher laut Luhmann immer selektiv. Ein System kann seine spezifische Wahrnehmungsweise der Umwelt nicht ändern, ohne seine spezifische Identität zu verlieren.
In der Geschlossenheit und ausschließlichen Selbst-Interessiertheit der Systeme unterscheidet sich die Luhmann'sche Systemtheorie grundsätzlich von der strukturfunktionalistischen Systemtheorie Talcott Parsons', laut der in jeder Gesellschaft vier Systeme vorhanden sind, die jederzeit in einem intensiven Austausch miteinander stehen, und zudem jeweils einen eigenen wichtigen Beitrag zur Integration und dem Fortbestehen einer überwölbenden Gesamtgesellschaft leisten (siehe AGIL-Schema).
- „Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen“ (Luhmann 1986: 269).
Typisch für jedes autopoietische System ist laut Luhmann, dass es sich selbst jeweils mithilfe eines zweiwertigen (binären) Codes von der Umwelt abgrenzt und so seine Identität im Prozess der Selbstreproduktion aufrechterhält. Als binäre Codes von einigen gesellschaftlichen Großsystemen schlägt Luhmann vor: Wirtschaft - zahlen/nicht-zahlen; Politik - Macht/keine Macht; Religion - Immanenz/Transzendenz; Rechtssystem - Recht/Unrecht; Wissenschaftssystem - wahr/unwahr, (Massen-)Medien - Information/Nichtinformation u.a.
Da diese Systeme jeweils nach eigenen Gesetzmäßigkeiten arbeiten, hält Luhmann Eingriffs- bzw. Steuerungsversuche eines Systems in ein anderes grundsätzlich für problematisch: Die Wirtschaft kann etwa von der Politik nur sehr bedingt gesteuert werden oder auch umgekehrt. Das Gesetz der Autopoiesis setzt laut Luhmann den Bemühungen einer rationalen, ethischen, gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse enge Grenzen - daher gilt Luhmann etwa im Vergleich zu Jürgen Habermas oder Ulrich Beck als politisch ausgesprochen konservativ (was umstritten ist, denn der hier wertende Begriff „konservativ“ setzt die Begriffswelt der Handlungstheorie voraus).
siehe auch Systemtheorie, soziales System, Soziologische Systemtheorie und Niklas Luhmann
Differenz und Beobachtung
Gesellschaft besteht also nicht aus handelnden Subjekten, Grundlage der Theorie ist vielmehr ein sich selbst beobachtendes Beobachtungssystem. Am Anfang dieser Theorie steht also keine einheitliche Perspektive, sondern die Differenz (Systemtheorie) von Beobachtendem und Beobachtetem. Deren Einheit ist die Operation der Beobachtung, die sich als Kommunikation vollzieht. Beobachtung ist dabei immer eine systeminterne Operation, also eine Konstruktion eines Systems. Dabei ist die Beobachtung immer an die gewählte Unterscheidung gebunden, sie kann also nicht sehen, was sie nicht sehen kann („blinder Fleck“). Diesen blinden Fleck kann nur ein Beobachter zweiter Ordnung (Second Order Cybernetics, Second Semiotics) beobachten (wobei auch dieser Beobachter wegen seines eigenen blinden Fleckes nur sehen kann, was er sehen kann, usw.). Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung gelangt man zu einer „polykontexturalen“ Welt.
Als Leitdifferenz setzt Luhmann die Unterscheidung von System und Umwelt. Systeme werden dabei im Sinne Maturanas und von Foersters als autopoietisch d.h. selbstreferentiell und operativ geschlossen verstanden. Eine „Weltgesellschaft“ stellt dabei den Gesamthorizont von vernetzten Kommunikationen dar. Gesellschaft ist hier das umfassende System, das sich in funktionaler Weise ausdifferenziert und somit Systeme im System erzeugt, die ihre Umwelt in Form einer spezifischen binären Codierung beobachten (z.B. Recht/Unrecht im Rechtssystem, Wahr/Falsch im Wissenschaftssystem, Allokation/Nichtallokation im Wirtschaftsystem, Glauben/Nichtglauben im Religionssystem oder Regierung/Opposition im politischen System). Diese Codes bilden lediglich den kontexturellen Rahmen, innerhalb dessen das Teilsystem Formen ausbilden kann. Der Code sorgt für die operative Schließung des Systems. Für die Offenheit des Systems sorgen Programme, also die Bedingungen, nach denen für die eine oder andere Seite einer Entscheidung optiert wird. Als Beispiel für ein Systemprogramm können etwa Theorien in der Wissenschaft genannt werden, die über eine Zuordnung zu den Codewerten wahr / falsch entscheiden.
Differenz
Differenz ist ein epistemologischer Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann. Er bezeichnet, dass etwas von etwas anderem unterschieden oder getrennt werden kann.
Dieser Begriff ist damit sehr abstrakt gefasst. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, dass die beispielsweise mit der Sprache bezeichneten Dinge in sich, für sich, an sich bereits eine Wesenhaftigkeit haben, die ihre Unterscheidbarkeit sicherstellt. Jede Unterscheidung muss in die Welt eingeführt werden. (Luhmann liest demnach den Beginn des ersten Schöpfungsberichts der Genesis so, dass darin ausgedrückt wird, dass die Welt erst durch die erste Unterscheidung zwischen Tag und Nacht wird; der Mensch, der zu unterscheiden lernt – das Böse und das Gute –, wird aus dem Paradies vertrieben.) Luhmann beruft sich für diese Grundposition auf George Spencer Brown und seine distinction (Unterscheidung), doch greift er auch gewisse Gesichtspunkte der Betrachtungen auf, die Jacques Derrida zum Ausdruck différance entwickelt.
Luhmanns Zuspitzung und Präzisierung des Konzeptes korrespondiert mit einer konstruktivistischen Beschreibung der Welt. Mit einer Differenz etabliert man gewissermaßen erst die Möglichkeit eines Zugriffs. So ist die Unterscheidbarkeit einer Blume durch nichts Wesenhaftes an ihr vorgegeben; es gibt nicht die Blume, deren Existenz sich als solche einem Beobachter aufdrängen kann; selbst die Tatsache, dass ein Mensch aus den Sinnesdaten letztlich eine Blume zu einem Objekt macht (und nicht etwa nur die Blüten oder die Blume von der Wiese nicht unterscheiden kann), ist keineswegs durch irgendetwas erzwungen. Es ist demnach auch nicht zu begründen und zu erklären, wie eine Differenz in die Welt kommt; sie emergiert.
Auch Differenz ist nur als Differenz, als Unterscheidung zwischen Differenz und Identität zu begreifen. Identität meint dabei im engeren Sinne, dass etwas von etwas anderem nicht unterschieden wird. Damit bezeichnet es auch das (zumindest kurzzeitige) Fixieren von etwas, um es weiteren Operationen zugänglich zu machen.
Differenz ist im wesentlichen gleichwertig mit dem systemtheoretischen Begriff der Unterscheidung, doch akzentuiert Unterscheidung die Operation, während die Differenz die Getrenntheit oder Geschiedenheit selbst bezeichnet. Auf ähnliche Weise ist der Begriff mit der Medium-Form-Unterscheidung verknüpft. Eine Unterscheidung lässt sich auch auffassen als eine Verwendung einer Form im Sinne der Medium-Form-Unterscheidung; die Differenz ließe sich, wenn man sich eine Form wie George Spencer Brown verbildlicht, als die Trennlinie auffassen.
Wichtige Differenzen für die soziologische Systemtheorie sind System/Umwelt, Erleben/Handeln, Aktualität/Möglichkeit (Sinn), Medium/Form.
Beispiel: Markt, Privatleben der Mitarbeiter sind Umwelten einer Unternehmung
siehe auch Funktionale Differenzierung
Trivia
Luhmanns Systemtheorie wird vor allem in Deutschland und Italien rezipiert.
An der Weiterentwicklung der soziologischen Systemtheorie arbeiten in Deutschland vor allem die Soziologie-Professoren und Schüler Luhmanns Rudolf Stichweh, Peter Fuchs und Dirk Baecker.
Fritz B. Simon führt in Unterschiede, die Unterschiede machen folgenden Witz an:
- Was ist der Unterschied zwischen einem Nilpferd? Gibt keinen, an Land und im Wasser geht es.
- Was ist der Unterschied zwischen einem Krokodil? An Land geht es, im Wasser schwimmt es.
- Was ist der Unterschied zwischen einem Krokodil und einem Nilpferd? Beim Krokodil gibt es einen Unterschied, beim Nilpferd nicht.
Soziale Systeme
Soziale Systeme sind dabei die komplexesten Systeme, die Systemtheorien behandeln können. Soziale Systeme vermitteln durch Komplexitätsreduktion zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der Komplexitätsverarbeitungskapazität des einzelnen Menschen. In einem sozialen System entsteht also im Vergleich zur Umwelt eine höhere Ordnung mit weniger Möglichkeiten, die durch eine Grenze stabilisiert wird. Die Einschränkung der im System zugelassenen Anschlussmöglichkeiten für Kommunikation werden als Struktur des Systems bezeichnet. Von der Struktur sind die System-Prozesse zu unterscheiden, die eine selektive zeitliche Anordnung von Einzelereignissen beinhalten.
Luhmann unterscheidet drei besondere Typen sozialer Systeme:
- Interaktionssysteme,
- Organisationssysteme und
- Gesellschaftssysteme. Die Gesellschaft ist dabei ein System höherer Ordnung, ein System „anderen Typs“. Sie umfasst die anderen Systeme, ohne dass sie in ihr aufgehen.
Wichtige, kommunikativ erzeugte Unterscheidungen sind für Luhmann etwa
- Zentrum/Peripherie,
- Interaktion/Organisation,
- stratifikatorische/funktionale Differenzierung.
Strukturelle Kopplung
Unter „struktureller Kopplung“ versteht Niklas Luhmann in seiner funktionalen Systemtheorie die nicht-ontologische Beziehung zwischen Systemen.
Nach Luhmann sind soziale Systeme sowohl offen als auch geschlossen, dies erläutert er in seinem Konzept der Autopoiese: alle Elemente, aus denen sie bestehen, erzeugen sie selbst. Psychische Systeme erzeugen Gedanken (als Ereignisse, die operativ gehandhabt werden), psychische Systeme können aber nicht kommunizieren; soziale Systeme erzeugen Kommunikationen (als Ereignisse, die operativ gehandhabt werden), soziale Systeme können dagegen nicht denken. Deshalb gehören nach Luhmann psychische Systeme (also Menschen) zur Umwelt sozialer Systeme. Soziale Systeme (Interaktionen, Organisationen und Funktionssysteme wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst, Erziehung und dergleichen) sind mit psychischen Systemen durch Sprache (die selbst kein System ist) strukturell gekoppelt. Strukturelle Kopplung löst das Problem, dass selbstreferentielle Systeme nicht in ihrer Umwelt, also auch nicht innerhalb anderer Systeme operieren können, dennoch aber scheinbar aufeinander abgestimmte Entwicklungen zu beobachten sind. Nach Luhmann sind diese aber nicht Ergebnis von Durchgriffskausalitäten, wozu die Systeme außerhalb ihres die System-Umwelt Grenze konstituierenden Codes operieren müssten, was sie (nach Luhmann) nicht können. Strukturelle Kopplung zwischen Systemen und ihrer Umwelt besteht dann, wenn das jeweilige System Erwartungsstrukturen aufbaut, die es für bestimmte Irritationen sensibler macht. So kann das politische System beispielsweise alle Informationen im Medium Geld (Code: Zahlung/Nichtzahlung) zwar nicht beobachten, weil sein Code der von Regierung / Opposition ist, aber es kann sich Aggregierungsdaten schaffen (wie das BSP, die Steuerquote oder das Staatsdefizit), wodurch es irritiert wird. Hohes Staatsdefizit wird dann als machtrelevant registriert, die Irritation also im systemeigenen Code in Information umgesetzt. Diese Vorgänge erzeugen 'structural drift', also eine Entwicklung verschiedener Systeme, die so aussieht, als hätten gegenseitige Eingriffe stattgefunden.
Selektion
Im Bestreben eines Systems sich in seiner operativen Geschlossenheit funktional an seine Umwelten anzupassen, ist es gezwungen, aus der Vielzahl von Möglichkeiten der Selbstmodifikation einige zur Realisation auszuwählen. Dieser Vorgang wird in der soziologischen Systemtheorie Selektion (von Anschlussmöglichkeiten) genannt und dient vorrangig zur Produktion von Sinn.
Medium-Form-Unterscheidung
Niklas Luhmann hat als letzte produktive Theorie-Figur die Unterscheidung Medium/Form als einen wesentlichen der tragenden „Balken“ in sein Theoriegebäude eingezogen. Er hat dabei in durchaus selbständiger Weise eine Figur von Heider abgewandelt. Heider (1926) unterschied zwischen Ding und Medium. Danach sind „Dinge“ feste Kopplungen in lose gekoppelten „Medien“. Einleuchtende Beispiele nach Heider wären zum Beispiel: Fußspuren im Sand, hier sind die lose gekoppelten „Elemente“ des Sandes das Medium, und die Fußabdrücke, die ja eine gewisse Dauer haben (zum Beispiel am Strand), sind die fest gekoppelte Form im Medium Sand. Ein anderes Heider-Beispiel: Luftmoleküle (als Medium) und die Schallwellen als „Form im Medium“. Zu beachten ist dabei, dass die „Elemente“ des Mediums durch Formung nicht verbraucht werden.
Luhmann setzt nun der „alteuropäischen“ Unterscheidung Substanz/Form die systemtheoretische Unterscheidung Medium/Form entgegen. Auch hier bei Luhmann gilt: Die „Elemente“ des Mediums sind lose gekoppelt und verbrauchen sich nicht, die „Form im Medium“ ist fest gekoppelt und - als Ereignis oder Zustand - von mehr oder weniger langer Dauer in der Zeit. Der wesentliche Unterschied bei Luhmann zu Heider ist: Sowohl „Medium“ als auch „Form“ sind bei Luhmann keine ontologischen Entitäten. Und: Die Unterscheidung Medium/Form ist selbst eine Form! Und: Formen können selber wieder zu Medien werden!
Standardbeispiel: Im Medium der Buchstaben sind die Wörter Formen; im Medium der Wörter sind die Sätze Formen; Im Medium der Sätze können ausgesprochene oder geschriebene Gedanken oder gar Erzählungen Formen werden und „sein“. Medien sind sozusagen immer Formen zugrunde liegender Medien.
Beispiel 2: Eine Radiowelle besteht aus einer Trägerwelle, die die zu übermittelnde Information „trägt“. Die Trägerwelle wird mit der zu übermittelnden Information moduliert. Modulation bedeutet die Abbildung der Informationsstruktur auf dem elektromagnetischen Feld aus dem die Trägerwelle besteht. Die Trägerwelle entspricht hier dem Medium, die Modulation der Form.
Es ist aber auch möglich Information (Form) zu übermitteln, indem die Trägerwelle selbst ein- und ausgeschaltet wird, dann wird die Trägerwelle selbst vom Medium zur Form. Das Raumzeitkontinuum, das die Trägerwelle „trägt“ ist dann das Medium.
Auch eine doppelte Modulation ist denkbar: Die 100 MHz Trägerwelle wird mit einer 10 MHz Trägerwelle moduliert, die 10 MHz Trägerwelle wird dann mit der zu übermittelnden Information moduliert. Die erste 100 MHz Trägerwelle ist für die zweite 10 MHz Trägerwelle das Medium, die 10 MHz Trägerwelle ist für die Information (Form) das Medium. Für die 100 MHz Trägerwelle ist die 10 MHz Trägerwelle die Information. Für das Raumzeitkontinuum ist die 100 MHz Trägerwelle die Information (Form).
Ungelöstes Rätsel: Wovon ist das Raumzeitkontinuum die Form?
Resonanz
Resonanz ist eine Übertragungsmöglichkeit (für Prozesse) aufgrund der Gleichartigkeit miteinander verbundener Systeme bzw. von direkt benachbarten Systembestandteilen innerhalb eines Systems - siehe im Einzelnen: Resonanz (Luhmann).
Kontingenz
Kontingenz (spätlateinisch: Möglichkeit) ist ein in der Philosophie und in der Soziologie, vor allem der Systemtheorie (Niklas Luhmann, Talcott Parsons) gebräuchlicher Begriff, um die prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenserfahrungen zu bezeichnen. Die soziale Welt wird als eine unter vielen möglichen wahrgenommen, die weder zufällig noch notwendig ist. Selbst die Wahrnehmung der Welt ist kontingent, beruht auf Unterscheidungen und Konstruktionen, welche auch anders sein und gemacht werden könnten. Die prinzipielle Offenheit menschlicher Einstellungen und Handlungen, die zu Komplexität führt, wird durch Bildung von sozialen Systemen reduziert.
Ein Spezialproblem der Kontingenz ist die doppelte Kontingenz. Sie beschreibt die gesteigerte Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation, wenn zwei Systeme ihre Mitteilungshandlungen jeweils von den unbekannten Erwartungen des Gegenübers abhängig machen.
Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann sieht eine Zunahme der Komplexität des Sozialen im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Handlungsoptionen haben zugenommen und müssen zunehmend individuell begründet werden. Somit sind Kontingenzerfahrungen wahrscheinlicher geworden.
Luhmann nahm diesen Begriff im Sinne von Aristoteles auf, welcher Kontingenz als nicht notwendig und nicht beliebig sah. Was wie oben schon angedeutet bedeutet: es könnte auch anders sein.
Siehe auch: Kontingenz (Philosophie)
Beobachtung
Beobachtung ist ein zentraler Begriff in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der der Beobachterabhängigkeit Rechnung trägt. Beobachtung ist die Unterscheidung und anschließende Bezeichnung. Der Kern des Begriffs liegt also im Konzept der Differenz (Systemtheorie). Die Bezeichnung ermöglicht, die Unterscheidung gleichsam festzuhalten und für weitere Operationen (Anschlüsse) verfügbar zu machen.
Anschluss
Anschluss ist in der Soziologie ein Fachbegriff aus der Systemtheorie von Niklas Luhmann und bezeichnet die in einer sozialen Begegnung, auf eine Selektion der anderen Seite folgende, selbst gewählte Selektion. Diese Selektionen beziehen sich aufeinander.
Die Anschlussfähigkeit ist die Kapazität von Systemen zu gewährleisten, dass sich an die Selektionen eines Systems weitere anschließen können. Alle sozialen Systeme reproduzieren sich über Kommunikation (z. B. Wirtschaftssystem oder Politik) oder Handlungen (Medizin und Erziehungssystem). Dies gelingt nur, wenn die einzelnen Einheiten aneinander anschlussfähig sind, was durch einen systemspezifischen Code geleistet wird, der als zentrale Logik (Leitunterscheidung) aller Kommunikation zugrunde liegt und sie als systemzugehörig erkennbar macht. Im Wirtschaftssystem beispielsweise sorgt der Code Zahlen/nicht Zahlen dafür, dass die Kommunikationen sich auf sich selbst beziehen, und sich selbst reproduzieren kann, also dass auf jede Zahlung eine neue erfolgt. Dies funktioniert über das generalisierte Kommunikationsmedium Geld, das die letzte Zahlung mit der jetzigen verknüpft. Würde das Geld nicht mehr akzeptiert, folgt der Zahlung keine weitere Zahlung mehr und das System hätte seine Anschlussfähigkeit verloren. Die Anschlussfähigkeit innerhalb eines Systems wird als Selbstreferenz bezeichnet, im Gegensatz zum fremdreferentiellen Bezug auf die Umwelt (Welt, andere Systeme).
Doppelte Kontingenz
Doppelte Kontingenz ist ein Fachterminus der soziologischen Systemtheorie, der von Talcott Parsons eingeführt und von Niklas Luhmann übernommen wurde.
Damit wird die Situation bezeichnet, in der sich zwei Seiten einer sozialen Begegnung befinden können. Jede Seite betrachtet den in Punkten noch ungewissen Fortgang des Verhaltens der jeweils anderen Seite (d.h. deren Kontingenz). Und jede Seite löst diese in Punkten auf (oder manchmal vielleicht auch nicht). Beide Seiten wählen im allerweitesten Sinne durch Vollzug ihres 'eigenen Geschehens', also durch ihre im Rahmen der Begegnung vollzogenen Aktivitäten, auch den Fortgang des Geschehens im Lichte der anderen Seite. Und diese schließt mit einer wie auch immer zu deutenden Selektion von Aktivität an. Kommunikation wird erst entstehen, wenn hier das gemeinsame Geschehen aus einer generellen Beliebigkeit enthoben wird und durch beide Seiten dauerhaft auf etwas Bestimmtes geführt wird. Dieses Bestimmtsein, welches eine beträchtliche Reduktion der ursprünglich als möglich erachteten Kombinationen aller Spielarten von Geschehen darstellt, ist Bedingung, Weise und Ergebnis von Kommunikation.
Luhmann betrachtet (lt. Luhmann) wie Parsons die Ausgangslage einer sozialen Begegnung als Problem der doppelten Kontingenz. Er sieht im Gegensatz zu ihm die in einer solchen Lage vollzogene Kommunikation als aus sich selbst heraus entstehendes Phänomen von Kontingenzreduktion (Unsicherheitsminderung), das keiner weiteren sozialen Vorbereitung bedarf, ja bedürfen kann. Denn dies würde bereits weitere Begegnung erfordern oder in die sozialen Partner eine Art Vorwissen oder Übereinkunft (Übereinwissen) hineininterpretieren, die angesichts der Verschiedenheit (und der inneren Komplexität) der sozialen Partner absolute Illusion ist.
Da sich beide Seiten an dem Verhalten des jeweiligen Gegenübers orientieren und dieses Gegenüber an seinem Gegenüber, ergibt sich im Zusammenhang der doppelten Kontingenz eine Art „Nullstelle“, an welcher Kommunikation unwahrscheinlich ist. Das Verhalten ist sowohl für das Gegenüber als auch für die Seite selbst kontingent. Im Alltag wird diese Unsicherheit zum Beispiel durch die Geschichte der Zusammenkunft, Sozialisation oder Organisation überwunden.
Literatur
- Helmut Willke: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. 4.überarb. Aufl. Stuttgart, 1993.
- Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht, Köln; Weimar; Wien 2003.
Für absolute Luhmann-Neulinge wohl die hilfreichste Einführung
- Detlef Krause: Luhmann-Lexikon, Stuttgart 2001.
Übersichtliche Einführung plus Lexikonteil mit wichtigen Begriffen
- Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU, Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main 1999.
Glossar mit knappen Begriffserläuterungen, sehr nützlich
- Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 3. Auflage Januar 2004, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
- Latka, Thomas: Topisches Sozialsystem. Heidelberg 2003.
Eine Einordnung Luhmanns Systemtheorie in den Kontext anderer Systemtheorien