Über den Charakter der Tonarten
Sieht man von der antiken Beschreibung über die Wirkung bestimmter Modi ab, sind Beschreibungen vom Charakter einiger Dur- und Molltonarten durch Komponisten und Musiklehren seit Ende des 17. Jahrhunderts bekannt, jedoch nicht als Systematik für alle Tonarten. Bei Rousseau (1) (J. Rousseau, 1691, S. 24) findet sich eine Beschreibung von 11 Tonarten, bei Charpentier (2) (M.-A. Charpentier, um 1692, f. 13r-13v) 18 und bei Masson (3) (Ch. Masson, 1697, S. 8ff) 8. Der Deutsche J. Mattheson (4) beschreibt 1713, S. 236-252, sehr umfangreich die bis dahin gebräuchlichsten 17 Tonarten.
C. Matthaei stellte 1652 in einer Abhandlung Äußerungen älterer Theoretiker zu den Kirchentonarten zusammen die sich mit den Äußerungen oben genannter sehr ähneln, das heißt: Die Empfindung der Komponisten gegenüber bestimmten Tonarten ist einerseits tradiert, gelernt und nachempfunden und wurde in die aufkommenden Dur-Moll Geschlechter versucht zu übertragen.
Beispiel
- Matthai: Dorisch = "ernsthaft, wichtig, ehrwürdig und andächtig".
- Rousseau: d-moll = "serieux".
- Charpentier: "grave et devot".
- Masson: "grave, melé de gayeté".
- Mattheson: "devot, ruhig, groß, Gravität..."
Auf Grund früherer vorhandener Stimmungssysteme (Mitteltönig) konnten bestimmte Instrumente nur in einem engen Radius von Tonarten dargestellt werden. Diese älteren Stimmungssysteme ließen bei gewissen Tonarten sehr klare und reine Stimmungen zu, mit zunehmender Entfernung von der 0-Ebene des Quintenkreises jedoch wurden sie unsauberer und damit unbrauchbarer, bzw. wurden die "entfernteren" Tonarten bewusst zur Textausdeutung eingesetzt (etwa Trauer oder Klage = "Missstimmung"), etwa auch um die Auflösungen der Dissonanzen hernach umso reiner wirken zu lassen. Die Erfahrung des gebräuchlichen Einsatzes von Trompeten etwa in der Tonart D-dur erzeugte eine subjektive Assoziation mit D-dur = "strahlend".
Keine der bisher genannten Autoren jedoch gibt eine explizite Erklärung dafür, woher die beschriebenen Tonarten ihren besonderen Charakter haben. Der Organist Johann Heinrich Buttstett kritisierte 1716 daher die durch Mattheson vorgelegte Tonartenlehre. Hierauf folgte erstmalig eine Untersuchung zu allen 24 Tonarten in Bezug auf den Verwandschaftsgrad der Tonarten untereinander (Mattheson: "Hoehe und Tieffe der Tonarten", 1717, S. 73 und Mattheson 1731, S. 157-161).
Die zur Zeit Bach´s aufkommende "Wohltemperierte Stimmung", welche den Zwölferkreis aller Töne stimmungsmässig komplett erschließt läßt fortan auch die harmonischen Funktionen, die sich aus der Quintbeziehung von Tonarten ergeben, musiktheoretisch wie praktisch erfassen, zumal die Komponisten nun entsprechende Modulationen und Kompositionen in allen Tonarten verwenden konnten. (zum Beispiel J. S. Bach "Das Wohltemperierte Clavier", Teil I = 1722, Teil II = 1744).
In der Harmonielehre gipfelte diese Entwicklung schließlich in dem lapidaren Lehrsatz des Harmonielehrers Max Reger, daß "auf jede Harmonie (kann) jede beliebige Tonart folgen" könne.
Somit aber war auch der "Charakter" der bis dahin verwendeten "Stimmungen" in den Tonarten verloren gegangen, denn die nun mögliche gleichschwebende Wirkung aller Tonarten verflachte auch deren zuvor bewusst verwendeten und wahrnehmbaren Charakter von "rein" und "unrein", wie er ja bereits auch in der Lehre von der Linearität der Scalen (Melodiebildung) zwischen "Konsonant" und "Dissonant" etwa durch G.B. Palestrina überliefert war. Bach`s Arbeit (und Studie) über die "Wohltemperierung" zollt daher beiden Anschauungen ihren Tribut: Einerseits beruft er sich ganz offensichtlich auf tradiertes Wissen zum Charakter der Tonarten, etwa indem er gestisch und geradezu in Gebährdensprache rhetorisch entsprechend der einzelnen Tonarten "argumentiert", andererseits stellt er -historich ganz modern- alle 24 Tonarten gleichberechtigt nebeneinander.
Die Konstante der überlieferten Anschauungen zur Tonartencharakteristik reicht (gerade auch mit dem Verweis auf Bach´s Werk) bis weit in die Epoche der musikalische Spätromantik hinein, da die Musikschaffenden sowohl durch Hörerfahrung als auch musiktheoretische Arbeiten beeinflußt worden waren.
Das oben genannte Beispiel D-dur wurde in seiner traditionellen Bedeutung auch dann noch in seinem "Charakter" bewahrt, als beispielsweise die ursprünglich enge Kopplung von Tonart und Instrumentenklang aufgrund von Neuentwicklungen im Instrumentenbau (Ventiltrompete) nicht mehr zwingend gegeben war. So wählt noch Richard Strauss in op. 35 1897 für den Don Quixote die Tonart D-dur für seine "Fantastischen Variationen über ein ritterliches Thema" und komponiert Lieder kriegerischen Inhaltes in D (Husarenlied, op. I, Soldatenlied op.10).
Während also auf der einen Seite es bis in die neuere Zeit hinein Verfechter einer Lehre der Tonartencharakteristik gegeben hat (und scheinbar verfasste auch Johann Sebastian Bach seine Tonarten-Studien in dieser Tradition), fand die Charakterisierung der Tonarten auch immer Kritiker.
Robert Schumann fasste beide Haltungen 1853 wie folgt zusammen:
"Man hat dafür und dagegen gesprochen; das Rechte liegt wie immer mitten innen. Man kann ebenso wenig sagen, daß diese oder jene Empfindung, um sie sicher auszudrücken, gerade mit dieser oder jener Tonart in die Musik übersetzt werden müsse (z. B. wenn man theoretisch beföhle, rechter Ingrimm verlange Cis moll und dgl.), als Zelter'n beistimmen, wenn er meint, man könne in jeder Tonart jedes ausdrücken. (...) Der Proceß, welcher den Tondichter diese oder jene Grundtonart zur Aussprache seiner Empfindungen wählen läßt, ist unerklärbar, wie der schaffende Genius selbst, der mit dem Gedanken zugleich die Form, das Gefäß gibt, das jenen sicher einschließt.(...)".
Die Beispiele für bewusste Verwendung (tradierter) Tonartencharakteristika dagegen ließen sich unendlich fortführen. Verwiesen sei unter Anderem auf vertiefende Arbeiten von:
Literatur
- Friedrich Wilhelm Marpurg: Versuch ueber die musikalisches Temperatur. Breslau 1776.
- Georg Joseph Vogler: "Ausdruck (musikalischer)"; in: Deutsche Encyclopaedie oder Allgemeines Real=Woerterbuch aller Kuenste und Wissenschaften [...]. Band 2. Frankfurt/Main 1779.
- Schubart: "Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst". Wien 1806 [entstanden 1784/85].
- [Georg Christoph Kellner]: "Etwas von Toenen und Tonarten"; in: Magazin der Musik, hrsg. von Carl Friedrich Cramer, Jg. 2, Hamburg 1786.
- R. Wustmann: "Tonartencharakteristik zu Bachs Zeit, Bach-Jahrbuch 1911.
- H. Beckh "Die Sprache der Tonart", Stuttgart 1977
- H. Ruhland: "Ein Weg zur Erweiterung des Tonerlebens", Verlag Die Pforte, Basel 1981, ISBN 3-85636-060-3
Linktipp
Eine Gesamtübersicht über Äußerungen zur Tonartencharaktären durch Komponisten und Theoretiker über mehrere Epochen hinweg bietet:
Fußnoten
- (1) Jean Rousseau: "Méthode claire, certaine et facile pour apprendre à chanter la Musique". Paris 1691.
- (2) Marc-Antoine Charpentier: "Règles de composition" [Ms. Paris, Bibl. Nat. nouv.acq.fr.6355-6356]
- (3) Charles Masson: "Nouveau Traite des Regles de la Composition de la Musique". Paris 1697.
- (4) Johann Mattheson: "Das Neu-eröffnete Orchester". Hamburg 1713.
--Praelude 13:52, 12. Mai 2004 (CEST)(Autor)