Kurzgeschichte

moderne literarische Form der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt
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Die Kurzgeschichte (eine Lehnübersetzung des englischen Begriffs short story) ist eine besondere, moderne literarische Form der Kurzprosa, deren Hauptmerkmal in einer starken Komprimierung des Inhaltes besteht.

Merkmale

Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die bei jeder Kurzgeschichte vorkommen müssen, und „Kurzgeschichte“ als Begriff ist nicht trennscharf. Die gegenwärtige literarische Praxis der Kurzgeschichtenschreiber entscheidet über die Merkmale, die mit dem Begriff „Kurzgeschichte“ in Verbindung gebracht werden. Handlung und Konflikt können sich völlig in einen Menschen verlagern, so dass diese innere Handlung bedeutsamer ist als das rein äußere sichtbare Geschehen (Wechselwirkung). Trotzdem lassen sich einige Merkmale finden, die allerdings nicht immer auftreten:

  • Die Geschichte soll in einem Leseakt gelesen werden können.
  • Die erzählte Zeit beträgt meist nur wenige Minuten oder Stunden.
  • Keine oder nur sehr kurze Einleitung (Exposition); sofortiger Einstieg in die Handlung (in medias res)
  • Konfliktreiche Situation, geprägt von vielen Emotionen.
  • Ein oder zwei Hauptpersonen stehen im Mittelpunkt (es gibt jedoch auch Kurzgeschichten mit deutlich mehr Hauptpersonen). Zudem werden die Personen fast nicht beschrieben.
  • Die Geschichte spielt nur an wenigen Orten.
  • Ein entscheidender Einschnitt aus dem Leben der handelnden Person oder Figur wird erzählt.
  • Chronologisches Erzählen hauptsächlich im Präteritum. Zudem gibt es keine Zeitsprünge.
  • Einsträngige Handlung.
  • Wenig Handlung.
  • Themen sind Probleme der Zeit.
  • Meist gibt es einen Glückswechsel (Peripetie).
  • Die Figuren sind Menschen, die nicht herausragen oder heldenhaft auftreten.
  • Offener Schluss oder eine Pointe => Der offene Schluss „zwingt“ den Leser förmlich dazu, über das Geschehen nachzudenken, denn es bleiben noch Fragen übrig - der Leser muss zwischen den Zeilen lesen.

Geschichte

Kurzgeschichten entstanden als short stories im Bereich der anglo-amerikanischen Literatur (z. B. Edgar Allan Poe; Sherwood Anderson; F. Scott Fitzgerald; Ernest Hemingway, William Faulkner; Sinclair Lewis) und setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland durch.

In Deutschland entstanden in der Nachkriegszeit bedeutende Kurzgeschichten z. B. von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Ilse Aichinger, Hans Bender, Elisabeth Langgässer, Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Wolfgang Weyrauch, Heinz Piontek und Gabriele Wohmann. Ab Mitte der 1960er-Jahre hat diese literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung verloren. Weitere Komprimierung und Reduktion führten zur Kürzestgeschichte; Verfasser solcher Texte sind unter anderem Peter Bichsel, Kurt Marti, Helga M. Novak und Thomas Bernhard.

Zitate

  • „Uns fehlt der Optimismus des 19. Jahrhunderts, zu glauben, diese Welt ließe sich auf fünfhundert Seiten einfangen; deshalb wählen wir die kurze Form!“ (Jorge Luis Borges)
  • „Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist.“ (Vicente Aleixandre)
  • „Mein hartgesottener Ehrgeiz kann nicht ablassen von dieser Form. Nimmt man sie wirklich ernst, dann wird die Kurzgeschichte - das ist meine Meinung - zur schwierigsten aller Prosaformen, denn keine andere verlangt vom Autor soviel Disziplin.“ (Truman Capote)
  • „Je mehr Du kürzest, desto häufiger wirst Du gedruckt.“ (Anton Tschechow)
  • „Ein Kunstwerk kann sozusagen nicht kurz genug sein, denn auf seiner gedrängten Kürze beruht sein Wert.“ (Gilbert Keith Chesterton)
  • „Da gibt es Kurzgeschichten, die lesen sich wie ein Achtzeiler von Goethe, randvoll mit sprachlichen, gedanklichen und gefühlsmäßigen Beziehungen und Verdichtungen. Andere wieder erscheinen so komprimiert, daß sie beim Lesen zerknallen wie Handgranaten.“ (Wolfgang Liebeneiner)
  • „Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit mich kurz zu fassen!“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Literatur

Textsammlungen

  • Erzählte Zeit. 50 Kurzgeschichten der Gegenwart. Hrsg. von Manfred Durzak. Reclam, Stuttgart 1980 [u.ö.]. (mittlerweile vergriffen)
  • Schlaglichter. Zwei Dutzend Kurzgeschichten. Mit Materialien. Hrsg. von Herbert Schnierle-Lutz. Klett, Stuttgart 2001.
  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2003. ISBN 3-15-018251-4 [33 Geschichten aus dem Zeitraum 1945 - 1965.]
  • Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2005. ISBN 3-15-018387-1 (30 Texte aus dem Zeitraum von 1965 bis 2004.)

Interpretationen

  • Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2004. ISBN 3-15-017525-9 [33 Interpretationen zu den Texten der 2003 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
  • Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2006. ISBN 3-15-017531-3 [Interpretationen zu den 30 Texten der 2005 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
  • Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte? Reclam, Stuttgart 1993. ISBN 3-15-015030-2
  • Rainer Könecke: Interpretationshilfen: Deutsche Kurzgeschichten 1945-1968. 2. Auflage. Klett, Stuttgart/Dresden 1995.
  • Rainer Könecke: Deutschsprachige Kurzprosa zwischen 1945 und 1989. Interpretationen, thematische Bezüge sowie Überlegungen zu ihrem produktionsorientierten Einsatz in der gymnasialen Oberstufe. Klett, Stuttgart/Dresden 2006.
  • Bernd Matzkowski: Wie interpretiere ich Fabeln, Parabeln und Kurzgeschichten? Basiswissen Klassen 11-13. Mit Texten. Bange, Hollfeld 2005.
  • Paul Nentwig: Die moderne Kurzgeschichte im Unterricht. Georg Westermann, Braunschweig 1967 [u.ö.].
  • Franz-Josef Thiemermann: Kurzgeschichten im Deutschunterricht. Texte - Interpretationen - Methodische Hinschweise. Kampus, Bêchum 1967 [u.ö.].

Forschungsliteratur

  • Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte. In: Deutsche Rundschau 87 (1961) Heft 1. S. 61-66.
  • Hans Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 205-225.
  • Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 226-245.
  • Jan Kuipers: Zeitlose Zeit. Die Geschichte der deutschen Kurzgeschichtenforschung. Groningen 1970.
  • Ludwig Rohner: Theorie der Kurzgeschichte. Athenäum Verlag, Frankfurt a. M. 1973. - 2., verbesserte Auflage. Wiesbaden 1976.
  • Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. München 1989 (UTB 1519).
  • Erna Kritsch Neuse: Der Erzähler in der deutschen Kurzgeschichte. Columbia (S.C.) 1991.
  • Manfred Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Reclam, Stuttgart 1980. - 3., erweiterte Auflage. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. ISBN 3-8260-2074-X
  • Urs Meyer: Kurz- und Kürzestgeschichte. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Reclam, Stuttgart 2002, S. 124-146.
  • Hans-Christoph Graf v. Nayhauss (Hrsg.): Theorie der Kurzgeschichte. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Reclam, Stuttgart 2004. ISBN 3-15-015057-4
  • Leonie Marx: Die deutsche Kurzgeschichte. 3., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2005 (Sammlung Metzler. 216). ISBN 3-476-13216-1