Handlungsorientierung (Fremdsprachenunterricht)
Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht ermöglicht es den Schülern, im Rahmen „authentischer“, d. h. unmittelbar-realer oder als lebensecht akzeptierbarer Situationen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert zu kommunizieren, um auf diese Weise fremdsprachliche Handlungskompetenz(en) zu entwickeln. Im handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht bekommen die Schüler also Gelegenheit, die neue, fremde Sprache - wie beim muttersprachlichen Spracherwerb - als Mittel zum sprachlichen Handeln zu erfahren und zu lernen[1].
Handeln im Unterricht erfordert dabei keineswegs immer das Projekt und die große Inszenierung. Schon der Schüler, der sich mit Sorry I’m late, but my bus was late für sein Zuspätkommen entschuldigt, der bei der Lehrerin mit Yesterday you said we could ... an die Einlösung einer Zusage erinnert oder der auf Englisch erklärt, warum er am Tag zuvor auf keinen Fall seine Hausaufgaben machen konnte, „handelt“ im besten Sinne des Wortes:
· er stellt über den Kommunikationsakt eine Beziehung zum Gesprächspartner her;
· er übermittelt Ideen, Emotionen, Erfahrungen, Kenntnisse und Wünsche und „verhandelt“ so persönlich relevante Inhalte; und
· er löst im Kommunikationspartner bestimmte Handlungsreaktionen aus.
Diese Betonung der sprachlichen Interaktion bei unserer Charakterisierung von unterrichtlichem Handeln, das sonst oft ausschließlich über „materielle“ Tätigkeiten der Schüler definiert ist, soll auch den Lehrerinnen und Lehrern, die sich noch nicht an das große Projekt wagen, Mut zu einem „handelnden“ Unterricht machen.
Handlungsorientierung
Handlungsorientierung kann unter einem Zielaspekt und einem Methodenaspekt definiert werden. Unter dem Zielaspekt besagt der Begriff, dass die Schüler fremdsprachliche Handlungskompetenz(en) zunächst für die schulische, darüber hinaus aber auch für die außer- und nachschulische Lebenswelt entwickeln sollen. Methodisch wird dieses Ziel über ein aufgaben- und prozessorientiertes learning by doing angegangen, bei dem die Schüler im Rahmen „authentischer“ Situationen bzw. Aufgabenstellungen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert mündlich oder schriftlich handeln.
Hierzu ist es notwendig, den Unterricht für lebensnahe Kommunikations- und Lernprozesse zu öffnen – was eine in diese Richtung zielende Unterrichtsplanung natürlich nicht ausschließt. Im Gegenteil: Offenheit und Handlungsorientierung sind in der Schulsituation ja nicht von vornherein gegeben, sie müssen vielmehr geplant und konsequent angestrebt werden (s. u.).
Konkret erwächst sprachliches Handeln vor allem aus nicht oder möglichst wenig vorstrukturierten Lernsituationen und -materialien, die zur inhaltlichen und sprachlichen Auseinandersetzung anregen (z. B. Fotos, Graphiken, Songs, Gedichte, Kurzgeschichten, Nachrichten, Berichte, Dokumentationen, Broschüren, Briefe, Texte aus dem Internet, Lektüren) und die dabei Freiräume zum Umgang mit vertrauten und neuen sprachlichen Formen bieten (z. B. Partner- und Gruppenarbeit, Spiele, Stillarbeit). Es können auch ganze Unterrichtseinheiten (Frei- bzw. Wochenplanarbeit, Projektunterricht) oder der gesamte Unterricht (Lernen durch Lehren) handlungsorientiert strukturiert werden.
Das Konzept der Handlungsorientierung ist eng mit den Konzepten Öffnung des Unterrichts, Ganzheitlichkeit, Lernerorientierung, Inhaltsorientierung sowie Lern- bzw. Prozessorientierung verknüpft.
Öffnung des Unterrichts
Öffnung des Fremdsprachenunterrichts kann auf zwei Ebenen stattfinden:
(a) Inhaltliche und institutionelle Öffnung: Der Unterricht ermöglicht es den Schülern zumindest ansatzweise, auch ihre Schul- und Klassensituation als offene, nicht in allem institutionell festgelegte Lebenswelt zu sehen und durch das Medium der fremden Sprache neu zu erfahren. Darüber hinaus gibt ihnen die prinzipielle Offenheit von (bedeutsamen) Textinhalten Gelegenheit zu individuellen Erfahrungen und entsprechenden Äußerungen, die vom Lehrer her nicht planbar sind. Und schließlich greift der Unterricht so oft es geht über die Grenze des eigenen Faches (Projektarbeit, fächerübergreifender Unterricht, bilingualer Sachfachunterricht) sowie über die Grenzen des Klassenzimmers und der Schule hinaus (außerschulisches Handeln).
(b) Curriculare und methodische Öffnung: Der Unterricht fördert Schülerinitiativen und Eigenverantwortlichkeit für die Wahl zielorientierter Aktivitäten und die Arbeits- und Zeiteinteilung (bis hin zur Aufstellung von Wochenplänen) sowie Zugriffsmöglichkeit auf authentische Materialien und andere, auch technologische, Ressourcen. Auf diese Weise ermöglicht er Prozesse der Selbsterkundung und Selbsterfahrung auf der Grundlage einer breiten Palette sprachlicher Erfahrungen und fördert so die schülerseitige „Selbstorganisation“ der Lernprozesse ([2]).
Damit stellt sich natürlich die Frage, wieviel Offenheit und wieviel lehrseitige Steuerung die Lernenden benötigen. Die Kriterien hierfür sind im Lichte der oben skizzierten Faktoren für jede Lerngruppe und jedes Lernziel sorgfältig gegeneinander abzuwägen und zu gewichten: Schulisches Fremdsprachenlernen benötigt soviel Offenheit wie unter den Gegebenheiten der Schulsituation möglich und so viel Steuerung (im Sinne von Lernhilfe) wie angesichts des nicht-natürlichen Sprach- und Lernkontextes nötig. In diesem Kontext erhalten dann auch die „traditionellen“ Aspekte des Unterrichts wie die Arbeit mit dem Lehrwerk, die gezielte Entwicklung sprachlicher Fertigkeiten sowie lexikalischer und grammatischer Kenntnisse, systematisches Üben, die Korrektur von Fehlern sowie die Feststellung von Lernfortschritten neue Funktionen und Gewichtungen, was erhebliche Auswirkungen auf die methodischen Entscheidungen hat.
Ganzheitlichkeit
Bei einem solchen Unterricht wirken kognitive und affektive Aspekte zusammen: Intellekt, Gefühl und Sinne ansprechende Erfahrungen, ein Wechsel von Anstrengung und Entspannung sowie befriedigende sprachliche und nicht-sprachliche Interaktionen mit hoher Fehlertoleranz seitens der Lehrenden ([3]). Diese Momente sind insbesondere im Unterricht mit lernschwachen Gruppen von Bedeutung.
Lernerorientierung
Unter dem Prinzip der Lernerorientierung wird zum einen verstärkt gefragt, was Schülerinnen und Schüler zu welchen Zwecken lernen wollen bzw. sollen, zum anderen, welche Voraussetzungen sie entsprechend ihren Anlagen, ihrem Alter sowie ihren spezifischen Lebens- und Lernerfahrungen für bestimmte Lernprozesse mitbringen und welches ihre bevorzugten Lernweisen sind.
Inhaltsorientierung
Unter dem Prinzip der Inhaltsorientierung berücksichtigen Themenbereiche und Textinhalte verstärkt die persönlichen Erfahrungen und Interessen der Jugendlichen und fordern sie zur emotionalen und kognitiven Auseinandersetzung heraus. Darüber hinaus orientieren sie sich in den höheren Klassen in immer stärkerem Maße an außer- und nachschulischen Bedarfsfeldern im privaten und beruflichen Bereich. Über diese eher „funktionalen“ Aspekte hinaus werden, vor allem in der Mittel- und Oberstufe, Texte auch unter dem Gesichtspunkt der individuellen „Sinnbildung“ und damit der Persönlichkeitsbildung ausgewählt und besprochen. Aber auch hier sind die Schüler nur dann zur Auseinandersetzung bereit, wenn sie diese Inhalte an persönliche Erfahrungen und damit letztlich auch an ihren Wertehorizont anbinden können.
Lernorientierung und Prozessorientierung
Fremdsprachendidaktiker sowie Vertreter der Sprachlehrforschung sind sich einig, dass der Zusammenhang von Lernen und Lehren viel weniger direkt ist als bis noch vor einigen Jahren angenommen. Angesichts der Gegebenheiten der Institution Schule wird Lehren zwar immer noch als notwendig angesehen. Man akzeptiert jedoch, dass es nicht mehr oder weniger automatisch zu entsprechendem Lernen führt, selbst wenn die Schüler gut mitarbeiten. So sieht die Fachdidaktik heute in den Schülern keine teachees mehr, keine Objekte des Lehrens, denen Lerninhalte „vermittelt“ werden. Sie werden vielmehr als eigenaktive learners anerkannt, die das dargebotene sprachliche Material sowie die Informationen des Lehrers für sich verarbeiten. Sie verstehen Äußerungen oder Texte auf der Grundlage ihrer individuellen Lerndispositionen (intellektuelle und affektive Faktoren) und Lernmodi sowie ihrer sozio-kulturell geprägten Wissensstrukturen: ihres sprachlichen Vorwissens und ihrer vorangegangenen Lebens- und Lernerfahrungen („Weltwissen“); in diesen Bestand integrieren sie neue Informationen sowie entsprechende sprachliche Formen und Strukturen und „konstruieren“ so ihr Wissen (vgl. Konstruktivistische Didaktik). Dieses „Konstruieren“ hat also nichts mit der alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs im Sinne einer bewusst zielgerichteten Aktivität zu tun.
Diese Hinwendung von einem naiven „Instruktivismus“ zu einer „konstruktivistischen“ Position verändert auch die Funktion der Unterrichtenden: sie werden verstärkt als classroom managers und learning facilitators gesehen, die den Schülern Hilfen für ihre Wissenskonstruktion anbieten. Unterricht ist also keinesfalls überflüssig geworden. Allerdings wird seine Funktion jetzt anders gesehen. Auch wenn die Initiative zur Auseinandersetzung der Schüler mit sprachlichem Material nach wie vor größtenteils von den Lehrern ausgeht und diese mannigfache Hilfestellungen anbieten: entscheidend für den Lernprozess sind die rezeptiven und produktiven bzw. interaktiven Tätigkeiten der Schüler selbst. Dabei sind gerade die rezeptiven Aktivitäten des Hör- und Leseverstehens in den letzten Jahren erheblich aufgewertet worden.
Die wesentlichen Grundlagen dieses lern- und prozessorientierten Ansatzes lassen sich in sieben methodischen Prinzipien zusammenfassen:
- Förderung eines weitgehend selbstbestimmten Lernens (Lernerautonomie)
- Förderung bedeutsamen, inhaltsorientierten Lernens über vielfältige sprachliche Erfahrungen in für die Schüler bedeutungsvollen Kommunikationssituationen
- Förderung des Aufbaus eines intuitiven Sprachgefühls auf der Grundlage eigenaktiver Lernprozesse
- Entfaltung, Differenzierung und Veränderung von "Basiswissen" im "Lerngespräch" ([4])
- Förderung von focal attention (= Aufmerksamkeitslenkung auf spezifische Formen und Regularitäten)
- Förderung von Sprachbewusstheit (language awareness)
- Förderung der Entwicklung individueller Lernstrategien.
Quellen
Siehe auch
Literatur
- Bach, Gerhard & Timm, Johannes-Peter (Hg.): Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis (3., vollst. überarb. u. verbess. Aufl.). Tübingen, Basel: A. Francke 2003.
- Legutke, M. & Thomas, H.: Process and Experience in the Language Classroom. London, New York: Longman 1991.
- Martin, Jean-Pol: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Gunter Narr. 1994
- Timm, Johannes-Peter (Hg.): Englisch lernen und lehren. Didaktik des Englischunterrichts. Berlin: Cornelsen 1998.