Bürgergesellschaft
Zu keiner der im Artikel gegebenen Erklärungen od. Definitionen ist angegeben wer die Begriffe so beschreibt. Stellenweise liest sich der Text wie ein Thesenpapier, nicht wie eine enzyklopädisch-sachlich-neutrale Darstellung. --Tsui 20:54, 9. Aug 2006 (CEST)
Unter Bürgergesellschaft wird eine demokratische Gesellschaftsform verstanden, welche durch die aktive Teilnahme ihrer Mitglieder am öffentlichen Leben gestaltet und weiterentwickelt wird. Getragen wird die Bürgergesellschaft durch das freiwillige Engagement ihrer Akteure regelmäßig für gemeinnützige oder soziale Belange.
Begrifflichkeit
Die älteste buchliche Überlieferung des Begriffs der Bürgergesellschaft stammt von Adam Ferguson. In seinem bereits 1767 veröffentlichten Essay über die Geschichte der Bürgergesellschaft erörtert er das Verhältnis von individueller Tugendhaftigkeit innerhalb und der Gesamtentwicklung der betroffenen Gesellschaft. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass Tugendhaftigkeit Voraussetzungen hat, die durch die Ergebnisse der Tugendhaftigkeit nicht automatisch in ihrem Bestand gesichert oder sogar gefährdet werden können.
Im Deutschen taucht in Anlehnung an Ferguson zunächst die Übersetzung als Zivilgesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" von 1821 auf. Hegel beschreibt mit dem Begriff der Zivilgesellschaft oder auch als bürgerliche Gesellschaft in seinem System der Dialektik die Wechselwirkung zwischen der Privatsphäre einerseits, welche für Hegel durch die Familie verkörpert wird, und der Gesamtgesellschaft andererseits, welche durch den Staat verkörpert wird. Hegel beschreibt wie Furguson keine originär politische, sondern eine sittliche Kategorie.
Im kommunistischen Manifest von 1848 beschreiben Friedrich Engels und Karl Marx die bürgerliche Gesellschaft nicht als sittliche, sondern als ökonomische Kategorie. Für Engels und Marx ist die bürgerliche Gesellschaft durch Produktionsbedingungen gekennzeichnet, welche durch eine strikte Trennung von Kapital und Arbeit bestimmt werden. Die bürgerliche Gesellschaft gilt bei Engels und Marx zwar als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, gleichzeitig aber auch nur als zu überwindendes historisches Übergangsstadium zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus.
In seiner heutigen politischen Bedeutung stammt der Begriff aus dem südamerikanischen Raum. Die Bürgergesellschaft wurde vor allem als Gegenmodell zu den verschiedenen autoritären Regimen, insbesondere verschiedenen Militärdiktaturen verstanden [in diesem Sinne z.B. Diego Garrido]. International etablierte sich der Begriff der "civil society". Die "civil society" war im Wesentlichen darauf beschränkt, Freiräume zu nutzen, die von der staatlich-militärischen Macht zugelassen wurden. Eine andere Übersetzung der "civil society" neben Bürgergesellschaft ist auch Zivilgesellschaft.
Die Bürgergesellschaft etablierte sich in der politischen Öffentlichkeit weltweit als Vorbild und Modell für ein gesellschaftliches Miteinander. Bei der Übertragung einzelner Aspekte der Bürgergesellschaft auf nichtautoritär geprägte Gesellschaften, wurde teilweise nach einer neuen Begrifflichkeit gesucht. Zu solchen Übertragungen kam es z.T. infolge von Systemwechseln innerhalb der betroffenen Staaten, z.T. aufgrund von theoretischen Übertragungen auf andere Staaten. Als Ersatz für den Begriff der "civil society" wird oft der Begriff der "civic society" verwendet. Die "civic society" erhebt den Anspruch, nicht nur gewährte Freiräume auszufüllen sondern darüber hinaus entscheidenden Einfluss auf staatliche Strukturen und Entscheidungen zu nehmen. Im Deutschen wird die "civic soziety" ebenfalls als Bürgergesellschaft bezeichnet.
Auch für die Beschreibung der Abkehr verschiedener gesellschaftlicher Strömungen in Mittel- und Osteuropa von den autoritären kommunistischen Regimen wurden regelmäßig die Begriffe Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft verwendet.
Beide Begriffe, Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft werden in der öffentlichen Diskussion teilweise als Synonyme, teilweise in unterschiedlicher Begriffsdefinition nebeneinander verwendet. Im englischsprachigen Raum hat sich neben den Begriffen der "civil society" und der "civic society" auch der Begriff der "civil civic society" etabliert, ohne dass es im deutschsprachigen Raum eine etablierte sprachliche Entsprechung, etwa eine Zivilbürgergesellschaft o.ä. gäbe.
Wo von der grundsätzlichen Allzuständigkeit des Staates ausgegangen wird, wird heute der Begriff der Zivilgesellschaft verwendet. Diese Begriffsverwendung deutet darauf hin, dass mit die Übernahme bestimmter Aufgaben durch andere als staatliche Akteure der Staat nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlassen werden soll. Viele Nichtregierungsorganisationen bevorzugen den Begriff der Zivilgesellschaft und fordern damit entweder eine staatliche Übernahme der von ihnen bisher erfüllten Aufgaben oder zumindest eine aktive staatliche Unterstützung für ihre zivilgesellschaftliche Aufgabenerfüllung.
In Bereichen, in denen eine nichtstaatliche Ordnung langfristig etabliert ist oder zumindest als wünschenswert angesehen wird, wird bevorzugt der Begriff der Bürgergesellschaft verwendet. Dies betrifft sowohl viele kirchliche Kreise als auch liberale und teilweise auch konservative Gruppen. Mit der Verwendung des Begriffs der Bürgergesellschaft wird zum Ausdruck gebracht, dass der Gesellschaft grundsätzlich eine Selbstorganisationskraft zugetraut wird, so dass der Staat nicht oder jedenfalls nur bei erkennbaren Defiziten der Selbstorganisation eingreifen soll. Der Begriff der Bürgergesellschaft kehrt somit den Gedanken der "civil society" (s.o.) einer Ausfüllung staatlich überlassener Freiräume durch gesellschaftliche Selbstorganisation um und überlässt nun seinerseits dem Staat nur noch eine lückenfüllende Funktion innerhalb der Gesamtgesellschaft.
Bürgergesellschaft als politische Ordnung
Regelmäßig wird zur Definition der Bürgergesellschaft, wie z.B. bei Daniel Dettling, auf eine Dreiteilung des Gemeinwesens zurückgegriffen. Neben den Sphären des Staates und der Wirtschaft wird als dritte Sphäre diejenige der Zivilgesellschaft ausgemacht. Innerhalb dieser dritten Sphäre schließen sich Bürger zusammen, um ihre überindividuellen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Gelegentlich wird diesen drei Sphären eine vierte hinzugefügt, welche Privatheit und Familie umfasst.
Unter Bürgergesellschaft wird entweder allein der die dritte Sphäre verstanden, welche oft auch als "Dritter Sektor" bezeichnet wird, oder, nach wohl vorherrschender Begriffsverwendung, ein gesammtgesellschaftliches Modell, das zwar maßgeblich von der dritten Sphäre aus gestaltet wird, das aber Staat und die Wirtschaft mit umfasst, so z.B. die Verwendung bei Christopher Gohl.
Die Bürgergesellschaft ist somit eine politische Ordnung, in welcher Demokratie ausgehend von der Eigeninitiative der Bürger wahrgenommen wird. Dieser Ansatz soll demokratische Beteiligung gerade auch über die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen hinaus ermöglichen. Anders als bei der Zivilgesellschaft stehen in der Bürgergesellschaft solche Gruppierungen im Vordergrund, die sich nicht auf aktuelle karitative und wohltätige Aufgaben beschränken, sondern darüber hinaus den Anspruch erheben, auf die gesellschaftliche Entwicklung gestalterisch Einfluss zu nehmen.
Umstritten ist, welche Rolle der Staat in einer Bürgergesellschaft einnimmt. Unter den Stichworten "motivierender Staat", "moderierender Staat" und "aktivierender Staat" wird dem Staat die Rolle zugedacht, bürgergesellschaftliches Engagement zu fördern und gegebenenfalls auch lenkend zu beeinflussen. Diese Rolle wird teilweise als neue Rechtfertigungsgrundlage für den Fortbestand von Staaten und auch von nationalstaatlichen Ordnungen angesehen.
Teilweise wird demhingegen die Bürgergesellschaft als Modell angesehen, welches den Nationalstaat als grundlegende politische Ordnung abzulösen und dessen Schwächen zu überwinden in der Lage ist. Insbesondere wird der Bürgergesellschaft zugetraut, konstruktive Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, einer sich rasant beschleunigenden Wissensgesellschaft und sich verändernder Arbeitswirklichkeiten zu finden und aus sich selbst heraus zukunftstaugliche Lösungen umzusetzen.
Bürgergesellschaft wird regelmäßig nicht deskriptiv als bereits bestehend, sondern normativ als Zielperspektive zur Fortentwicklung politisch-gesellschaftlicher Ordnungen angesehen. Bürgergesellschaft beschreibt somit keinen Zustand, sondern einen Prozess hin zu einer umfassenderen demokratischen Teilhabe auf der Basis von Eigeninitiative und Selbstorganisation außerhalb von unmittelbaren staatlichen und wirtschaftlichen Einflussnahmen.
Kritik
Kritik erfährt das Konzept der Bürgergesellschaft sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht.
Theoretisch wird die Tragfähigkeit der Bürgergesellschaft angezweifelt. Insbesondere wird bezweifelt, dass sie die starke Bindungskraft und die damit verbundene hohe Leistungsfähigkeit des Nationalstaates aufbringen könne. Außerdem wird in einer zu großen Einflussnahme von einzelnen Gruppen auf die politische Ordnung auch eine Gefährdung demokratischer Grundprinzipien erkannt, wonach die Gleichheit aller Bürger gerade durch das gleiche Wahlrecht sichergestellt wird.
Praktisch wird darauf verwiesen, dass gerade dort, wo bürgergesellschaftliches Engagement am dringendsten nötig wäre, solches am wenigsten vorzufinden ist. Während in bevorzugten Wohngebieten regelmäßig auch das gesellschaftliche Leben und die Vereinstätigkeit sehr stark ausgeprägt sind, verbleibt in benachteiligten Wohngebieten sowohl die karitativ-gemeinnützige Aufgabenerfüllung als auch die Einbindung der Bevölkerung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge primär eine staatliche Aufgabe oder findet gar nicht statt.
Es stellt sich somit sowohl für Befürworter als auch für Gegner eines weiten Bürgergesellschaftskonzeptes die Frage, welches die Voraussetzungen einer solchen Ordnung sind und ob bzw. wie diese Voraussetzungen auch außerhalb bereits bestehender bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen umfassend verwirklicht werden können.
Literatur
- Daniel Dettling: Das Kapital der Bürgergesellschaft. Impulse für den 3. Sektor von morgen, Norderstedt 2002.
- Adam Ferguson: Essay on the History of Civil Society, Edinburgh 1767.
- Francis Fukuyama: The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order, The Free Press, New York 1999.
- Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft 1821.
- Robert D. Putnam: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, Simon & Schuster, New York 2000
- Wiesbadener Grundsätze Für die liberale Bürgergesellschaft. Parteiprogramm der FDP.
- Diego Garrido: Die Defekte Demokratie in Südamerika, Münster, 2003. Zur demokratischen Entwicklung in Südamerika mit vielen weiteren Nachweisen.
Weblinks
- Christopher Gohl: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/2001, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2001.
- Bürgergesellschaft / Stiftungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B14/2004, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2004.
- Bericht der Enquete-Kommission: „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (PDF), Deutscher Bundestag 2002
- „Wegweiser Bürgergesellschaft“, Projekt der Stiftung Mitarbeit in Kooperation mit der Stabsstelle Moderner Staat – Moderne Verwaltung des deutschen Bundesministeriums des Innern
- civil-society-network Wissenschaftliches Forum mit Schwerpunkt auf dem non-profit-Gedanken der civil-society-Forschung.
- Transnationalisationsforschung der Universität Bielefeld.
- Eurojargon Wie der Begriff der Bürgergesellschaft im Alltag der Institutionen der Europäischen Union verstanden wird.