Kriegsschuldfrage

Debatte über die Schuld am Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik
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Die Kriegsschulddebatte oder Kriegsschuldfrage betraf die Frage, welches Maß an Schuld und Verantwortung das Deutsche Kaiserreich für den Ausbruch des 1. Weltkriegs zu tragen hatte.

Überblick

Die vor allem in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA geführte Diskussion über die Schuld am 1. Weltkrieg war vom Kriegsbeginn 1914 an unlösbar mit den Interessen der kriegführenden Länder verknüpft und wurde von deren Regierungen für jeweils aktuelle Ziele instrumentalisiert. Eine unabhängige internationale wissenschaftliche Erforschung der Kriegsursachen wurde dadurch lange Zeit erheblich erschwert.

In der Weimarer Republik lehnten deutsche Regierungen und eine Bevölkerungsmehrheit die These der deutschen Kriegsschuld ab und versuchten, die damit begründeten Auflagen des Versailler Vertrages zu mildern und zu revidieren (siehe Vertragsrevisionismus).

Vom Nationalsozialismus wurde die Ablehnung jeder deutschen Kriegsschuld und die Verschwörungstheorie einer Kriegsschuld des Weltjudentums zur Vorbereitung des 2. Weltkriegs und Rechtfertigung des Holocaust genutzt.

In den 1960er Jahren eröffnete der Historiker Fritz Fischer eine neue Debatte um die Kriegschuld des Kaiserreichs, die langfristig zu einer Versachlichung und Differenzierung dieses Themas in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland geführt hat.

Kriegspropaganda 1914-1918

Während des 1. Weltkriegs bezichtigte die Propaganda der kriegführenden Länder die jeweiligen Kriegsgegner, einen Angriffskrieg zu führen. Dies war nach damaligem Völkerrecht zwar legal, aber moralisch durchaus geächtet.

Schon zum Kriegsbeginn im August 1914 behaupteten die Regierungen der Entente eine Alleinschuld Deutschlands am Kriegsbeginn, um ihre Bevölkerungen gegen das Deutsche Reich zu mobilisieren. Die kaiserliche Regierung und die OHL wiederum stellten ihre Kriegserklärung und Kriegführung als Reaktion auf eine „Einkreisung“ vor allem Frankreichs und Russlands dar und begründeten damit ihre Orientierung auf einen Siegfrieden.

In der deutschen Sozialdemokratie wurde die Frage nach der deutschen Kriegsschuld aufgrund der Zustimmung zum Burgfrieden zunächst nicht gestellt. Erst 1917, nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Deutschland, warfen Vertreter der neu gegründeten USPD die Frage nach der kriegsauslösenden Rolle des Kaiserreichs auf.

Weimarer Republik

Bei der Gründung der Weimarer Republik stand die Frage nach der Kriegsschuld noch nicht im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Doch im Blick auf die am 18. Januar 1919 begonnene Pariser Konferenz der Siegermächte richtete das Auswärtige Amt schon Ende 1918 das „Spezialbüro Bülow“ ein, aus dem bald darauf das „Kriegsschuldreferat“ hervorging. Dieses sammelte Dokumente, um Vorwürfen der Kriegsgegner zu begegnen, Deutschland und Österreich hätten den Ersten Weltkrieg geplant und das Kriegsvölkerrecht „vorsätzlich“ missachtet. Damit sollte die öffentliche Meinung auch des Auslands beeinflusst werden.

Am 7. Mai 1919 wurden die auf der Konferenz beschlossenen Auflagen der Kriegsgegner offiziell bekannt, die von Gebietsabtretungen und Verlust aller Kolonien bis hin zu Obergrenzen und Kontrollen für das deutsche Militär und finanziellen Entschädigungszahlungen reichten. Dagegen erhob sich in der deutschen Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung: Die breite Ablehnungsfront reichte von der äußersten Rechten bis zur SPD. Sie betraf vor allem Artikel 231 des Versailler Vertrags, den „Kriegsschuldparagraphen“, mit dem die umfangreichen Reparationen völkerrechtlich begründet wurden. Besonders Frankreich hatte darauf insistiert, dass das Deutsche Reich seine Alleinschuld anerkennen müsse. Diese Festschreibung und die Auflagen wurden von den meisten Deutschen als beispiellos und ungerecht zurückgewiesen. Um den Vertrag und die darin geforderten Gebietsabtretungen, Militärobergrenzen und Reparationen nicht verantworten zu müssen, trat das ganze Kabinett von Reichskanzler Philipp Scheidemann im Juni 1919 zurück. Nach einer alliierten Interventionsdrohung stimmte der Reichstag dem Vertrag jedoch am 22. Juni 1919 mehrheitlich zu. Am 28. Juni wurde er unterzeichnet, am 10. Januar 1920 trat er in Kraft. Dessen ungeachtet wurde der Vertrag auch von den SPD-Regierungsmitgliedern weiterhin als „Schanddiktat“ und „Diktatfrieden“ bezeichnet.

Die Dokumentation des Kriegsschuldreferats und Forderung, den Kriegsschuldparagrafen zu streichen, wurde von den Vertretern der Entente auf der Pariser Friedenskonferenz und in den Folgejahren nicht berücksichtigt. Nur auf die Forderung nach Auslieferung der deutschen „Hauptkriegsverbrecher“, die in Deutschland ebenfalls vehement abgelehnt wurde, verzichteten die Alliierten ab 1922.[1]

Die deutschen Regierungen setzten die 1918 begonnene staatliche Kontrolle der Kriegsschulddebatte fort. Das Auswärtige Amt gründete und finanzierte nach der Londoner Reparationskonferenz vom Frühjahr 1921 neben dem „Kriegsschuldreferat“ auch die „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“ und einen „Arbeitsausschuss Deutscher Verbände“, die sich dem Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ widmeten. Ab 1923 veröffentlichte die „Zentralstelle“ die Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage“ . Darüberhinaus belieferte sie prodeutsche Journalisten im Ausland und vergab Aufträge an viele angeblich unabhängige „Kriegsschuldforscher“, die ihrerseits regelmäßig Artikel zur Kriegsschuld verfassten und dafür Gehalt vom Auswärtigen Amt erhielten. Ab 1922 veröffentlichte sie die vom Kriegsschuldreferat gesammelten und ausgewählten Akten zum 1. Weltkrieg unter den Titeln „Deutsche Dokumente zum Kriegsausbruch” und „Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914”. Damit untermauerte sie ihre Thesen einer Kriegsunschuld des Deutschen Reiches und gab Serbien und Russland die Hauptschuld.[2] Dadurch gelang es, den von der Nationalversammlung 1919 eingesetzten „Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen“ bis zu seiner Auflösung 1932 von der Veröffentlichung Deutschland belastende Dokumente abzuhalten.[3]

Ab 1929 benannte die Zentralstelle ihr Organ in „Berliner Monatshefte“ um; deren Autoren übernahmen nun häufiger die These des ehemaligen britischen Premierministers Lloyd George, wonach alle europäischen Mächte in den Weltkrieg „hineingeschlittert“ seien. Keine Nation trage demnach eine Schuld daran. Diese Interpretation machte schicksalhafte, nicht beeinflussbare Umstände für den Krieg verantwortlich.

So kam in der Weimarer Zeit weder in der Wissenschaft noch der Gesellschaft eine sachliche Rückfrage nach den Kriegsursachen und der Eigenverantwortung für den Krieg auf. In Verbindung mit der Dolchstoßlegende wurde der Versailler Vertrag vielmehr Anlass heftiger Agitation gegen die Weimarer Verfassung und gegen das Ausland: Extreme wie auch nationalkonservative und bürgerliche Rechtsparteien warfen den Regierungsparteien vor, mit der Vertragsunterzeichnung zur Demütigung der Deutschen beigetragen zu haben und ihnen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu verweigern. Die „Fesseln von Versailles“ zu sprengen wurde daher zum Hauptziel deutscher Außenpolitik in Weimar. Dies genügte den Gegnern der Republik jedoch nicht. Vor allem die NSDAP, aber auch die DNVP, versuchten die Nachkriegsordnung zu revidieren und hielten die Kriegsschulddebatte mit ihrer Propaganda deshalb weiterhin wach.

Seit 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Thema der Kriegsschuldfrage vorerst durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges überlagert. Die dominierende Gruppe von Historikern um Gerhard Ritter einigten sich aber stillschweigend auf die Formel von Lloyd George und sahen die Forschungen zur Kriegsschuldfrage an einen Endpunkt angelangt.

Dieser Nachkriegskonsens wurde erst durch die Forschungen Fritz Fischers aufgekündigt. Seit den 1960er Jahren wurde in der deutschen Historiographie sowie in Teilen der Öffentlichkeit die so genannte Fischer-Kontroverse geführt. Ausgehend von der deutschen Kriegszielstrategie vor und während des Ersten Weltkriegs, behandelte die Kontroverse u.a. die Frage nach der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auf wissenschaftlicher Ebene.

Referenzen

  1. Deutsches Haus der Geschichte: „Kriegsschuldreferat“
  2. DHG 1918-1933: „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“
  3. DHG 1918-33: „Kriegsschuldreferat“

Literatur

  • Robert K. Massie: Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/Main (S. Fischer) 1993 - ISBN 3100489071 - flott beschrieben.
  • Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871 - 1918, Frankfurt/Main (S. Fischer) 1997 - ISBN 3100860012 - sehr ausgewogene Darstellung.
  • Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Kronberg (Athenäum) 1977 - (Zitat in dieser Ausgabe auf S. 82) - neue Ausgabe bei Droste 2000 ISBN 3770009029
  • Paul M. Kennedy: The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860-1914; Allen & Unwin, London 1980. ISBN 1-57392-301-X - Eine profunde wissenschaftliche Analyse der wirtschaftlichen Rivalen.
  • Niall Ferguson: Der falsche Krieg; DVA, Stuttgart 1999. ISBN 3-421-05175-5 - beschäftigt sich mit der britischen Option, neutral zu bleiben.
  • Imanuel Geiss: Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs; Piper, München 1978. ISBN 3-492-00742-2 - hält die Debatte für nicht mehr zeitgemäß.
  • Imanuel Geiss: Der lange Weg in die Katastrophe, Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges 1815-1914; Piper, München 1990. ISBN 3-492-10943-8 - juristischer Fokus.
  • Der Spiegel: Der Mythos von der Kriegsbegeisterung; Spiegel-Verlag, Hamburg 9/2004. - Über die Stimmung in der Bevölkerung abseits der Propaganda.
  • Jean-Pierre Cartier: Der Erste Weltkrieg, Piper, München 1984. ISBN 3-492-02788-1 - detailreiche Darstellung des Krieges inklusive Vorgeschichte.
  • Wolfgang Jäger: Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984 - Detaillierter Überblick über die verschiedenen Phasen und Argumentationen mit Fokus auf die geschichtswissenschaftlichen Deutungen.