Messunsicherheit

Parameter, der die Streuung von Größenwerten einer Messgröße charakterisiert
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Die Messunsicherheit des Schätzwertes oder Schätzers einer physikalischen Größe grenzt einen Wertebereich ein, innerhalb dessen der wahre Wert der Messgröße liegen sollte. Das Ergebnis einer Messung ist erst durch Schätzer und Messunsicherheit definiert. Die Messunsicherheit ist positiv, sie wird ohne Vorzeichen angegeben. Messunsicherheiten sind selbst Schätzer.

Sinn und Ziel des Schätzens von Messunsicherheites ist es, Intervalle festzulegen, die die wahren Werte der Messgrößen einschließen oder "lokalisieren" sollen.

In aller Regel legt die Messunsicherheit einen zum Schätzwert der Messgröße symmetrisch liegenden Wertebereich fest, wobei der Schätzwert von bekannten systematischen Fehlern befreit worden ist. (Bekannte systematische Messfehler sind nicht Gegenstand der Fehlerrechnung.) Das Messergebnis ist durch einen Ausdruck der Form

Schätzwert Messunsicherheit

gegeben. Der so definierte Bereich (das Intervall) hat die Länge der doppelten Messunsicherheit.

Wo innerhalb des so definierten Intervalls der wahre Wert der Messgrösse liegt, bleibt unbekannt.


Historisches

Die „klassische“ Gauß'sche Fehlerrechnung behandelt ausschließlich zufällige Messfehler. Indessen hatte schon Gauß selbst auf die Existenz und Bedeutung so genannter unbekannter systematischer Messfehler hingewiesen. Das sind zeitkonstante, nach Betrag und Vorzeichen unbekannte Störgrößen, die in der Regel in einer mit den zufälligen Fehlern vergleichbaren Größenordnung liegen. Unbekannte systematische Messfehler müssen mit Hilfe von Intervallen eingegrenzt werden.

Die Notwendigkeit, unbekannte systematische Fehler nachträglich in die Formalismen der Fehlerrechnung einbauen zu müssen zeigt, dass das uns von Gauß übergebene Konzept unvollständig gewesen ist.

Leider hat sich die Metrologische Gemeinschaft bis heute nicht auf neues, einheitliches Konzept der Fehlerrechnung einigen können. Gegenwärtig existieren zwei die tiefe Spaltung der Metrologie sichtbar machende Meinungsbilder.


Messunsicherheiten nach GUM

Im Bereich des gesetzlichen Messwesens und des Kalibrierdienstes in Deutschland wird empfohlen, Messunsicherheiten nach DIN (Leitfaden zur Angabe der Unsicherheit beim Messen) festzulegen.

Der von der ISO international empfohlene „Guide to the Expression of Uncertainty in Measurement (GUM)“ (übernommen als Europäische Vornorm ENV 13005, in deutscher Übersetzung als Leitfaden zur Angabe der Unsicherheit bei Messungen zugleich DIN-Vornorm) schreibt die klassische Gauß'sche Fehlerrechnung fort, jedenfalls im wesentlichen, indem unbekannte systematische Messfehler mittels eines Kunstgriffes den zufälligen Messfehlern formal gleichgestellt werden.

Der Kunstgriff besteht darin, zeitkonstante unbekannte systematische Fehler mittels einer postulierten Rechteckdichte „zu randomisieren“, d.h. sie formal in zufällige Fehler zu überführen. Im Sinne dieser Interpretation bleibt die Messunsicherheit ihrem Wesen nach eine Streuung, die den wahren Wert der Messgröße mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einschließen sollte.

Allerdings ist diese Aussage wissenschaftlich nicht vertretbar, weil praktisch nicht umsetzbar. Die Parameter der Verteilungsdichte der zufälligen Messfehler sind unbekannt, folglich ist die Faltung der Verteilungsdichte der zufälligen Fehler mit der postulierten Dichte der systematischen Fehler, die jene in Aussicht gestellte Wahrscheinlichkeit bereitstellen soll, nicht realisierbar. -- Ganz abgesehen davon bleibt es an sich fragwürdig, ob überhaupt und wenn welche Verteilungsdichte den systematischen Fehlern zugewiesen werden soll. Im Experiment sind systematische Fehler zunächst einmal zeitkonstante Grössen. Ob es von der Metrologie her Sinn macht, sie als probabilitische Grössen zu betrachten, gilt als kontrovers..

GUM Messunsicherheiten lassen sich nach allem prinzipiell nicht mittels Wahrscheinlichkeitsaussagen absichern.

Von der Messunsicherheit wird vor allem verlangt, dass sie den wahren Wert der Messgröße tatsächlich einschließe. DIN/GUM stellt der  - Messunsicherheit, die, wie Rechnersimulationen zeigen, zu niedrig ausfällt, eine so genannte erweiterte Messunsicherheit zur Seite. Da ein dem Student-Faktor äquivalenter Erweiterungsfaktor nicht existiert, multipliziert DIN/GUM die  -Unsicherheit mit einem Erweiterungsfaktor  . Es wird empfohlen,   zu setzen. -- Eine wissenschaftlich vertretbare Begründung für die Wahl des Faktors existiert nicht, insbesondere liesse sie sich nicht aus praxisorientierten Überlegungen herleiten, weil die wahren Werte der Messgrößen unbekannt sind und folglich keine Möglichkeit besteht, den Bereich an Werten, der seitens der Messunsicherheit abgegrenz wird mit der Lage des wahren Wertes in Beziehung zu setzen. Der Experimentator ist nicht in der Lage, eine Aussage darüber zu machen, ob seine mit   erweiterte Messunsicherheit verlässlich ist.

Rechnersimulationen belegen, je näher der aktuelle Wert des unbekannten systematischen Fehlers an den Grenzen des ihm zugewiesenen Intervalls liegt, desto weniger häufig wird der wahre Wert der Messgrösse lokalisiert. Da der Experimentator prinzipiell nicht wissen kann, welcher aktuelle Wert des systematische Fehlers eingeflossen ist, fehlt der Messunsicherheit nach GUM die Zuverlässigkeit.

Das Dilemma des GUM liegt im  -Faktor, der nach wissenschaftlichen Kriterien nicht bestimmbar ist. Eine pragmatische Wahl von  , wie mit   geschehen führt in eine Sackgasse. Der Faktor ist hinsichtlich des Einflusses systematischer Fehler zu groß und hinsichtlich des Einflusses zufälliger Fehler zu klein gewählt worden. Läßt man gedanklich die zufälligen Fehler außer Betracht, findet man für den wirksamen systematischen Fehler der Wert  , der ausserhalb des den systematischen Fehler eingrenzenden Intervalls   liegt. Also ist   zu groß gewählt worden. Insbesondere aber hat der Formalismus des GUM einen Widerspruch zur Voraussetzung produziert, nach der   innerhalb des Bereiches   zu liegen habe. Läßt man umgekehrt die systematischen Fehler außer Betracht, zeigt sich daß   jedenfalls im allgemeinen, zu niederig gewählt worden ist, weil unterhalb des Studentfaktors liegend. Die Student'sche Dicht legt im allgemeinen einen 2 übersteigenden Wert nahe. -- Dadurch dass der GUM die Unsicherheitskomponenten zufälligen und systematischen Ursprungs geometrisch verknüpft, geht letztlich jegliche Kontrolle über die Lage des wahren Wertes der Messgröße verloren.

Von besonderer Bedeutung ist die Zuweisung von Messunsicherheiten im Rahmen des Ausgleichs nach kleinsten Quadraten. Wie bekannt, bewirken die Gewichtsfaktoren des Ausgleichs zweierlei: Sie verschieben die numerischen Werte der Schätzer und verringern zugleich deren Messunsicherheiten. Rechnersimulationen zeigen auch hier wieder, dass der Experimentator mit der Möglichkeit rechnen muß, dass die Schätzer von ihren wahren Werten weggeschoben werden und dass die durch das Wichten reduzierten Messunsicherheiten die Lokalisierungen der wahren Werte der Schätzer aufheben. Derartige Effekte treten um so häufiger auf, je näher die systematischen Fehler an den Grenzen der sie abschätzenden Intervalle liegen.


Messunsicherheit nach alternativem Ansatz

Unabhängig vom und zeitgleich mit dem GUM ist ein alternatives Konzept zum Schätzen von Messunsicherheiten erarbeitet worden. Es behandelt unbekannte systematische Fehler so, wie sie sich physikalisch darstellen, nämlich als zeitkonstante Störgrößen. Anstatt systematischen Fehlern eine postulierte Verteilungsdichte zuzuweisen, werden systematische Fehler als biaserzeugend aufgefasst, so dass die Schätzer der Fehlerrechnung ihre Erwartungstreue verlieren. Die Messunsicherheit ist keine Streuung.

Das alternative Konzept trennt die Ströme zufälliger und systematischer Fehler. Der Einfluß zufälliger Fehler wird mit der klassischen, geringfügig modifizierten Gauß'schen Fehlerrechnung zum Tragen gebracht. Die Modifikation ermöglicht es, auch im Falle der Fehlerfortpflanzung mit Vertrauensintervallen zu arbeiten. Letztere gelten nicht den wahren Werten der Messgrössen, sondern den Erwartungswerten der Schätzer.

Der Einfluss systematischer Fehler wird über so genannte worst-case Abschätzungen berücksichtigt, die so zu führen sind, dass sie unabhängig vom jeweiligen Pfad bleiben auf dem sie enststanden sind. -- Existieren verschiedene, im Prinzip gleichwertige Pfade zum Schätzen ein und derselben auf systematische Fehler zurückgehenden Unsicherheitkomponente, so sollen letzere numerisch übereinstimmen.

Die Unsicherheitsanteile zufälligen und systematischen Ursprungs werden linear addiert. Auf diese Weise entstehen die kleinstmöglichen Messunsicherheiten, die den wahren Wert der Messgröße "quasi sicher" lokalisieren. (Der Begriff "quasi sicher" wird im Rahmen des Beispiels, unten, erläutert.) Die Messunsicherheiten sind robust und zuverlässig, die neuen Formalismen sind einfach und übersichtlich.

Beim Ausgleich nach kleinsten Quadraten stellt die alternative Methode sicher, dass die Lokalisierungen der wahren Werte der Schätzer unabhängig von den jeweils gewählten Gewichten erhalten bleiben. Da Gewichte die Lokalisierungen der wahren Werte der Schätzer des Ausgleichs nicht aufheben, dürfen Gewichte nach trial and error gewählt werden. Durch unmittelbares Beobachten der Unsicherheiten der Schätzer läßt sich die Wirkung der Gewichte beobachten und nach Belieben modifizieren, um so möglichst niedere Messunsicherheiten erzeugen zu können.


Elementares Beispiel

In Frage stehe die Unsicherheit des arithmetischen Mittels aus   Wiederholungsmessungen  ,  ,  ,  .

Den Messwerten liege das Fehlermodell

 

zugrunde;   bezeichnet den wahren Wert der Messgröße,   den zufälligen Messfehler und   den unbekannten systematischen Messfehler. Die zufälligen Fehler sollen normalverteilt sein, der unbekannte systematische Fehler liege im Intervall  .

Der am häufigsten verwendete Schätzwert des unbekannten wahren Wertes   ist das arithmetische Mittel

 

Die empirische Varianz der   Wiederholungsmessungen

 

beschreibt allein die statistische Streuung der Messdaten - der systematische Fehler   hebt sich aus der Differenz   heraus.

Nach dem GUM ist das Messergebnis

 ;

hierin ist   die Messunsicherheit. Der Erweiterungsfaktor   kann prinzipiell nicht aus der Faltung der Normalverteilung mit der Rechteckverteilung gewonnen werden, da die Parameter der Normalverteilung unbekannt sind. Die Faltung ist also nicht durchführbar. Da   zu niedrige Messunsicherheiten liefert, setzt man per Verabredung  . Indessen existiert hierfür keinerlei Begründung.

Die alternative Vorgehensweise liefert

 .

Hierin ist   der Student-Faktor, bezogen auf die Wahrscheinlichkeit  . Diese letztere Wahrscheinlichkeitsaussage bezieht sich auf die Lokalisierung des Erwartungswertes des arithmetischen Mittels und nicht auf die Lokalisierung des wahren Wertes  .

Wie das Einsetzen der Fehlergleichung in das arithmetische Mittel zeigt,

 ,

streut das Mittel   um den Erwartungswert

 ,

der sich vom wahren Wert   um den systematischen Fehler   unterscheidet.

Die Unsicherheitskomponente

 

bringt nichts anderes zum Ausdruck als das klassische Student'sche Konfidenzintervall, das den Erwartungswert   mit Wahrscheinlichkeit   lokalisiert. Zu berücksichtigen ist aber weiterhin der durch systematische Fehler bedingte Unsicherheitsanteil. Da nicht bekannt ist, wo   im Intervall   liegt, wird   durch   geschätzt, also im Sinne des ungünstigsten Falles (worst case). Das   Vorzeichen von   sorgt dafür, dass letztlich beide Intervallgrenzen   zum Tragen kommen.

Wie empirische Beobachtung zeigen, streuen experimentelle Daten im allgemeinen nicht so stark, wie nach der Normalverteilung eigentlich zu erwarten wäre. Da überdies das dem systematischen Fehler zugewiesen Intervall ausgeschöpft wird und die Unsicherheitskomponenten zufälligen und systematischen Ursprungs linear addiert werden, erweist sich die alternativen Messunsicherheit als „quasi-sicher“ oder „fast sicher“.


Gegenüberstellung der Konzepte

Da der GUM die wahren Werte der Messgrößen nicht lokalisieren will, kann er nach bestem Wissen und Gewissen nicht als den Zwecken der Metrologie dienlich bezeichnet werden. Die Nachteile des GUM würden weder geringer noch verschwänden sie, folgten die Experimentatoren der Empfehlung des BIPM zu weltweit einheitlicher Umsetzung. -- "Einheitlichkeit im Irrtum" ist kein wissenschaftlich vertretbares Konzept. Die Empfehlung des BIPM enthebt den Experimentator nicht der persönlichen Verantwortung für sein Tun.


Siehe auch

GUM, Fehler, Fehlerrechnung, Messfehler, Messgerätefehler


Literatur

GUM: die wahren Werte der Messgrößen sollen nicht lokalisieren werden

  • DIN 1319 "Grundlagen der Messtechnik" (Teil 1: Grundbegriffe [Ausgabe: 1995-01] , Teil 2: Begriffe für Messmittel [Ausgabe: 2005-10], Teil 3: Auswertung von Messungen einer einzelnen Meßgröße, Meßunsicherheit [Ausgabe: 1996-05], Teil 4: Auswertung von Messungen; Meßunsicherheit [Ausgabe: 1999-02])
  • DIN, Deutsches Institut für Normung e. V. (Hrsg.): Leitfaden zur Angabe der Messunsicherheit beim Messen. 1. Auflage. Beuth Verlag GmbH, Berlin 1995, ISBN 3-410-13405-0
  • ENV 13005, Ausgabe 1999-07-01 "Leitfaden zur Angabe der Unsicherheit beim Messen"
  • Guide to the Expression of Uncertainty in Measurement, ISO, International Organization for Standardization
  • Weise, Klaus ; Wöger, Wolfgang: Meßunsicherheit und Meßdatenauswertung. Weinheim: Wiley-VCH 1999. ISBN 3-527-29610-7

Alternativer Ansatz: die wahren Werte der Messgrößen sollen lokalisiert werden

  • Grabe, M.: Gedanken zur Revision der Fehlerrechnung Technisches Messen 67 (2000) 283-288
  • Grabe, M.: Neue Formalismen zum Schätzen von Meßunsicherheiten - Ein Beitrag zum Verknüpfen und Fortpflanzen von Meßfehlern, Technisches Messen 69 (2002) 142-150
  • Grabe, M.: Neue Formalismen zum Schätzen von Meßunsicherheiten - Ausgleich nach kleinsten Quadraten. Technisches Messen 72, Nr. 9 (2005) 531-540
  • Grabe, M.: Measurement Uncertainties in Science and Technology, Springer 2005. ISBN 3-540-20944-1