Autismus (der Begriff wurde 1911 durch den Psychiater Eugen Bleuler geprägt) wird in der Medizin eine Entwicklungsstörung genannt, die sich vor dem 3. Lebensjahr bemerkbar macht (Infantiler Autismus). Sie tritt bei 0,3-0,5 Prozent der Menschen auf, wobei Männer ungefähr 3-4 mal häufiger als Frauen betroffen sind. In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieb der amerikanische Kinderpsychiater Leo Kanner den infantilen (frühkindlichen) Autismus. Er beschrieb die Störung in den 1940er Jahren in erster Linie als „Unfähigkeit, eine Beziehung zu den Mitmenschen aufzunehmen“. Autisten würden andere Menschen wie Dinge wahrnehmen und behandeln und es falle ihnen äußerst schwer, sich in deren Gedanken und Gefühle hineinzuversetzen. Weitere Kennzeichen seien ein eingeengtes Interessenspektrum, sprachliche Defizite sowie das zwanghafte Festhalten an ritualisierten Abläufen. Hermelin geht davon aus, dass Autisten die Welt als ein „bedrohliches, unkontrollierbares Chaos“ erleben, welchem sie durch beruhigend wirkende Rituale entgegnen.
Frühkindlicher Autismus besteht von Geburt an oder tritt innerhalb der ersten zweieinhalb Lebensjahre auf.
Man unterscheidet den Kanner-Typ und den Asperger-Typ. Der Kanner-Typ ist gekennzeichnet durch eine schwere Ausprägung der Symptome, keine oder nur geringe sprachliche Entwicklung, besonders starke Objektbezogenheit. Die Symptome beim Asperger-Syndrom als der leichteren Form sind weniger ausgeprägt; die Erscheinungsformen sind vielgestaltig.
In der ICD 10 wird auch der atypische Autismus aufgeführt, bei dem die Kinder entweder nach dem dritten Lebensjahr erkranken oder bei dem nicht alle Symptome bestehen (atypisches Erkrankungsalter oder atypische Symptomatik).
Symptome
Selbstbezogenheit und Kontaktstörungen
Autismus äußert sich in tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, am auffallendsten in Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme zur Außenwelt und zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die Wahrnehmungen im visuellen und auditiven Bereich sind oft deutlich intensiver als beim "Durchschnittsmenschen", daher scheint eine "Abschaltfunktion" im Gehirn die Reizüberflutung als Selbstschutz auszublenden. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt: Einerseits nehmen manche mit völlig fremden Menschen direkten und teils unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein. Häufig entwickeln sie stets gleichförmige (stereotype) Bewegungen, die oft stundenlang ausgeführt werden (z.B. Streichbewegungen mit der Hand, Oberkörper schaukeln).
Objektbezogenheit
Autisten haben meist eine besonders starke Objektbeziehung, häufig beschränkt auf eine bestimmte Art von Gegenständen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf wenige Dinge, wie z.B. Wasserhähne, Türklinken, Fugen zwischen Steinplatten oder kariertes Papier gerichtet, die sie magisch anziehen. Anderes "geht an ihnen vorbei". Oft finden sie in Gegenständen einen für Andere fremden Zweck, sortieren beispielsweise die Einzelteile einer Spielzeug-Eisenbahn nach Größe und Farbe, oder ihr einziges Interesse an einem Spielzeugauto ist es, die Räder unablässig zu drehen.
Veränderungsangst
Veränderungen ihrer Umwelt, wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg, führen zu Beunruhigung und Verunsicherung. Manchmal geraten Betroffene auch in Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten Anordnung befinden. Handlungen laufen aufgrund der Probleme bei Unregelmäßigkeiten ritualisiert ab.
Sprachstörungen
Autisten fällt es schwer, Sprechen zu lernen. Bei den schwereren Formen kommt es zu keiner oder nur sehr geringer Sprachentwicklung. In leichteren Fällen kann sich die Sprache auch gut und sogar vorzeitig entwickeln. Hierbei fällt die Sprache aber durch Wortneuschöpfungen (Neologismen), seltsame Artikulation und Intonation oder scheinbar sinnlose Wiederholungen bestimmter Worte auf.
Spezialbegabung
In Ausnahmefällen zeigen autistische Menschen außergewöhnliche Begabungen in einem sehr begrenzten Gebiet, etwa im Rechnen, Malen, in der Musik oder in der Merkfähigkeit (siehe auch: Inselbegabung, englisch: "Savant Syndrome").
Eine Darstellung eines Autisten mit außergewöhnlichen Begabungen findet sich in Dustin Hoffmans Film "Rain Man" (1988); diese war durch Kim Peek inspiriert.
Ursachen
Die Ursachen von Autismus sind noch immer weitgehend ungeklärt. Früher vermutete man eine frühkindliche Form der Schizophrenie (Kinderschizophrenie, infantile Psychose). Es ist möglich, dass eine erbliche Komponente im Sinne einer Vulnerabilität (Anfälligkeit) existiert. In einzelnen Fällen kommt es bei Betroffenen zu Stoffwechselstörungen, die sich mit entsprechenden Diäten beheben lassen. Es gibt auch Vertreter der These, dass Autismus rein auf einer Störung des Stoffwechselsystems beruhe, diese Ansicht wird aber von den meisten Experten als Irrweg angesehen. Das autistische Verhalten geht wahrscheinlich auf eine Vielzahl von Wahrnehmungsstörungen zurück und stellt nur einen Anpassungsversuch dar, um in und mit der Umwelt einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben. Dabei ist zu beachten, dass Betroffene ihre Umgebung zwar mit intakten Sinnesorganen wahrnehmen, die zahlreichen Reize aber nicht richtig einordnen und zueinander in Beziehung bringen können.
Weil die Kinder häufig 'normal' aussehen, werden sie von Außenstehenden in der Öffentlichkeit schnell als "unerzogen" erlebt, und den Eltern wird die Schuld am Verhalten ihres derart auffälligen Kindes zugeschrieben. Solche Schuldzuweisungen und daraus resultierende Schuldgefühle enden nicht selten in Rückzug und Isolation der ganzen Familie. Die These, Autismus entstehe durch mangelnde Liebe (Terminus der sog. "Kühlschrank-Mütter") oder durch Vernachlässigung im Baby- und Kindesalter, ist jedoch eindeutig widerlegt.
Bisher konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei Autismus um ein Produkt der menschlichen Evolution handelt, und nicht um eine Behinderung oder etwa Krankheit. Autismus ist vielleicht 'nur' Teil der biologischen Vielfalt der Menschheit. Diese Annahme wird durch neue Forschungsergebnisse untermauert, in denen subklinischen Formen von Autismus untersucht werden. Die Frage ob Autismus oder kein Autismus wird zunehmend zu der Frage, wieiviel Autismus ein Mensch hat. Es scheint sich bei dem Autismus um ein autistischen Spektrum zu handeln, bei dem alle denkbaren Zwischenstufen zwischen 'Autismus' und 'Normal' vorkommen. (Referenzen: "Das Schattensydnrom" von John J. Ratey und Catherine Johnson; "The ADHD-Autism Connection: A Step Toward More Accurate Diagnosis and Effective Treatment" von Diane M. Kennedy)
Verlauf und Behandlung
Eine Behandlung der Ursache gibt es nicht; eine Besserung des Symptombilds bleibt meist in engen Grenzen. Die am Kanner-Typ Erkrankten benötigen in der Regel eine intensive, lebenslange Betreuung und eine geschützte Unterbringung. Beim Asperger-Typ bessert sich die soziale Anpassung bei einem Teil der Betroffenen jenseits der Pubertät deutlich. Die Behandlung erfolgt sonder-/heilpädagogisch und psychotherapeutisch.
Es gibt auch andere Krankheiten und Syndrome, die Ähnlichkeiten mit dem frühkindlichen Autismus aufweisen, so die Prosopagnosie, der psychische Hospitalismus. Der Autismus als Symptom (nicht der frühkindliche Autismus!) kommt auch bei der Schizophrenie vor, wenn sich die Betroffenen stark in ihre "Innenwelt" zurückziehen.
Siehe auch: Psychische Störung
Historisches
Es gab zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Vorstellungen über die Entstehung von Autismus. Im zaristischen Russland etwa glaubte man, dass autistische Kinder als besonders religiöse Menschen zur Welt gekommen seien und dass diese sich freiwillig für ein Leben jenseits aller Konventionen entschieden hätten. Aus überlieferten Berichten weiß man, dass Autisten in Lumpen durch den russischen Winter liefen, ohne sich vor der Kälte zu schützen. Sie sprachen selten, ihr Verhalten war merkwürdig, sie missachteten Gesetz, Ordnung und soziale Regeln. Man nannte sie deshalb "heilige Narren" und glaubte, dass in ihrem Verhalten göttliche Botschaften verschlüsselt seien.
Weblinks
- www.autismus.de Bundesverband 'Hilfe für das autistische Kind' bietet Informationen zu Autismus, Literatur und ist Anlaufstelle für Beratung und Therapie
- www.psychotherapiepraxis.at Artikel zu Psychotherapie (auch dem Asperger-Syndrom), Selbsttests, Info-Forum und kostenlose Erstberatung des Wiener Psychotherapeuten Richard L. Fellner
- Wie heißt die Hauptstadt von Freundschaft? Aus dem Innenleben von Autisten Fernsehsendung vom 03.12.2002 zum Thema Autismus und dem Buch Buntschatten und Fledermäuse von Axel Brauns in der ZDF-Reihe 37 Grad
- Liebe und andere Unmöglichkeiten Fernsehsendung vom 27.07.2004 zum Thema Asperger-Autismus in der ZDF-Reihe 37 Grad
- Autismus und Instrumentelle Biokommunikation Eine aktuell laufende Studie zum Erfolg des instrumentalisierten "Delphin-Effekts"
Literatur
- Brauns, Axel: Buntschatten und Fledermäuse. Leben in einer anderen Welt. Hamburg, Hoffmann und Campe, 2002; ISBN 3-455-09353-1
- Rohde, Katja: Ich Igelkind. Botschaften aus einer autistischen Welt. München, Nymphenburger, 1999; ISBN 3-485-00826-5
- Sellin, Birger: Ich will kein Inmich mehr sein. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1995; ISBN 3-462-02463-9
- Uebelacker, Franz: Ich lasse mich durch wilde Fantasien tragen. Selbstporträt eines autistischen Spastikers. Berlin, Frieling, 1998; ISBN 3-8280-0503-9