Hrant Dink (* 15. September 1954 in Malatya, Türkei; † 19. Januar 2007 in Istanbul) war Armenier türkischer Staatsbürgerschaft,[1] Journalist und einer der Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos. Der von nationalistischen Kräften in Gesellschaft und Justiz seit Jahren verfolgte Redakteur wurde auf offener Straße erschossen. Dink hinterlässt eine Frau und drei Kinder.
Leben
Dink wurde als Christ in der Armenischen Apostolischen Kirche erzogen[2] und wuchs nach der Trennung seiner Eltern in armenischen Waisenhäusern in Istanbul auf.
Hrant Dink studierte Zoologie und Philosophie und war als Student politisch links engagiert, weswegen er nach dem Putsch von 1980 dreimal verhaftet wurde. Er saß mehrere Monate im Gefängnis und erhielt jahrelang keinen Pass von den türkischen Behörden.
Sein Leben änderte sich, als Mitte der 1980er Jahre der türkische Staat das armenische Ferienheim beschlagnahmte, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbracht hatte und das er damals gemeinsam mit seiner Frau Rakel leitete. Es wurde wie tausende andere christliche Besitztümer (Kirchen, Krankenhäuser, Schulen usw.) konfisziert, in diesem Fall unter dem Vorwand, die armenische Kirche habe das Grundstück illegal gekauft. Dink gründete daraufhin „Agos“, eine armenische Zeitung, in der politisch heikle Themen offen diskutiert werden, und zwar in zwei Sprachen, Armenisch und Türkisch. Etwas über 6000 Exemplare werden derzeit pro Woche verkauft.
Hrant Dink wurde wegen „Agos“ unzählige Male vor Gericht gestellt, aus nichtigen Anlässen, wie international kritisiert wurde. Mehrfach wurde er wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht zitiert, wie vor ihm auch der Träger des Literaturnobelpreises Orhan Pamuk. Zuletzt wurde er 2005 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er geschrieben hatte, dass der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich dazu geführt habe, dass ein Volk, das 4000 Jahre auf diesem Boden gelebt hat, ausgemerzt worden ist.[3] Dieses Urteil wurde 2006 als erstes unter dem umstrittenen neuen Artikel 301 im türkischen Strafrecht vom obersten Gerichtshof der Türkei bestätigt. Drei weitere Verfahren waren bei seinem Tod noch anhängig. Mit der Verurteilung erhielten die Angriffe auf Hrant Dink offiziellen Rückhalt.
Ermordung
Am 19. Januar 2007 wurde Hrant Dink in Istanbul vor dem Verlagshaus der Agos erschossen.[4][5][6] Einem Augenzeugen, Muharrem Gozutok, zufolge, rief der Täter beim Weglaufen "Ich habe den Ungläubigen/Nicht-Muslim erschossen."[7][8]
Nach ersten Angaben türkischer Quellen wurde der mutmaßliche Täter Ogün Samast in Samsun gefasst, mit ihm wurden zehn weitere Verdächtige festgenommen. Der Vater Samasts hatte seinen Sohn auf einem veröffentlichten Überwachungsvideo erkannt und der Polizei einen Hinweis gegeben.[9] Ministerpräsident Erdoğan hat die Festnahme des Täters bestätigt.[10] Der 17-Jährige, der die Tat inzwischen gestanden und keinerlei Reue gezeigt haben soll,[9][11] stammt aus derselben türkischen Stadt Trabzon, in der vor knapp einem Jahr der katholische Priester Andrea Santoro ebenfalls von einem (16-jährigen) Jugendlichen ermordet worden war.[12] CNN Turk zitiert Samast mit den Worten: "Ich habe ihn nach dem Freitagsgebet erschossen. Ich bedaure es nicht".[13] Der als arbeitslos geltende Tatverdächtige soll in den beiden Wochen vor dem Attentat fünf Mal mit einer Privatfluggesellschaft nach Istanbul geflogen sein.[14] Als Motiv für seine Tat gab er an, sein Opfer habe das türkische Volk beleidigt. „Ich habe im Internet gelesen, dass er gesagt hat: 'Ich bin aus der Türkei, aber türkisches Blut ist schmutzig.' erklärte der geständige Täter.“[15]
Die türkische Polizei untersucht mögliche Verbindungen zwischen den Morden an Dink und an Santoro.[16] In Hinblick auf die Minderjährigkeit beider Attentäter sagte der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, Kazım Kolcuoğlu, dass in der Türkei Minderjährige für Morde benutzt werden, weil sie geringere Strafen als Volljährige erhalten.[16] Auch der nationalistische Anwalt Kemal Kerinçisiz, der Anklagen nach Artikel 301 gegen Dink, Orhan Pamuk und andere Autoren erhoben hatte, vermutet eine Verschwörung hinter dem Mord. Laut Zaman sagte er: “Ich glaube nicht, dass dies das Werk eines fanatischen Einzeltäters war, dem Dinks Ansichten nicht gefielen.”[17]
Laut der türkischen Zeitung Hürriyet gab der bereits wegen eines Anschlags auf ein McDonald's-Restaurant im Jahr 2004 zu elf Monaten Haft verurteilte nationalistische Extremist Yasin Haya zu, Ogün Samast eine Pistole und Geld beschafft zu haben.[18]
Der Innenminister Abdülkadir Aksu hat nach einem Kondolenzbesuch bei der Gattin Hrant Dinks, Rakel Dink, bekanntgegeben, dass die wichtigsten Hintermänner des Attentates festgenommen worden sind und sich derzeit in Untersuchungshaft befinden.[19]
Reaktionen
Der türkische Ministerpräsident Erdoğan hat den Anschlag als „abscheuliches Verbrechen“ verurteilt. Auch der türkische Präsident Ahmet Necdet Sezer verurteilte den Anschlag auf Dink scharf.[20] Tausende Türken protestierten am Abend des 19. Januar bei spontanen Kundgebungen in Istanbul und Ankara gegen den Mord. Immer wieder skandierten die Sprechchöre mit "Wir sind alle Hrant Dink, wir sind alle Armenier".[21] Teilweise wurde Kritik daran geübt, dass Dink trotz objektiver Anhaltspunkte für seine Gefährdung keinen Personenschutz erhalten habe.[22]
Am Sonntag nach dem Attentat wurden weltweit in armenischen Kirchen Gedenkgottesdienste für Hrant Dink gehalten.
Der türkische Literaturnobelpreis-Träger Orhan Pamuk macht die türkische Regierung für Journalisten-Mord mitverantwortlich. Bei einem Beileidsbesuch bei Dinks Familie wies er auf die Lynch-Mentalität in der Türkei hin. Dink sei wegen der Äußerungen des Armeniergenozids zum Staatsfeind und zur Zielscheibe erklärt worden. Wie viele andere Intellektuelle in der Türkei forderte Pamuk die Abschaffung des berüchtigten „Türkentum“-Paragrafen 301. [23] [24]
Werk
„Agos“ ist klein, wird aber in der Türkei viel beachtet. „Agos“ berichtet über die Schikanen der türkischen Bürokratie, mittels der der christlichen Minderheit in der Türkei das Leben schwer bis unerträglich gemacht wird. Die Zeitung berichtet über Enteignungen, über Diskriminierungen, über Gesetze, die sich gegen Presse- und Meinungsfreiheit richten. Die Zeitung prangert an, dass es in der kemalistischen und säkularen Türkei noch nie einen hochrangigen nichtmuslimischen Beamten oder Offizier gegeben hat. Nur an Universitäten können Mitglieder der Minderheiten im Staatsdienst Karriere machen. Auch der Völkermord an den Armeniern in den Jahren nach 1915 ist ein Thema in „Agos“. Hrant Dinks diesbezügliche Positionen wurden von verschiedenen Seiten kritisiert. So hielt er Debatten über Zahlen – starben damals „nur“ 300.000 oder 1,5 Millionen Armenier – sowie über den Begriff „Völkermord“ für nicht so wichtig. Darin widersprach er den Mitgliedern der armenischen Diaspora. Nach Dinks These ist nicht das Wort, sondern das Ereignis entscheidend, nämlich die Auslöschung der Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei.
Hrant Dink lehnte Resolutionen ab, welche von Parlamenten bezüglich des Themas beschlossen wurden. Daher betrachtete er den Plan des französischen Parlaments, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe zu stellen, als "idiotisch", weil dahinter dieselbe Mentalität stehe wie bei denen, die die freie Meinungsäußerung in der Türkei einschränken.[25] Laut Dink wolle jemand, der auf dem Begriff Genozid beharre, keine Lösung.[26]
Auszeichnungen
Im Jahr 2005 erhielt Hrant Dink den "Ayşe Nur Zarakolu Düşünce ve İfade Özgürlüğü Ödülü" (Ayşe Nur Zarakolu Gedanken- und Meinungsfreiheitspreis).
Für sein Engagement wurde Dink am 12. Mai 2006 in Hamburg mit dem Henri-Nannen-Preis für Verdienste um die Pressefreiheit ausgezeichnet.
Auch erhielt er für seine Arbeit am 24. November 2006 den mit 100.000 Kronen dotierten Norwegischen Björnson-Preis.
Für seine Arbeit wurde er außerdem im Dezember 2006 in Den Haag (Niederlande) mit dem Oxfam Pen Award ausgezeichnet.
Weblinks
- „In der Türkei gibt es eine zutiefst uneuropäische Rechtskultur“ – Bislang unveröffentlichtes Interview mit Dink auf Welt.de
- Habt keine Angst! - Ein Text von Hrant Dink Dokumentation auf Welt.de vom 20. Januar 2007
- Internetpräsenz der Zeitung Agos, türkisch / teilw. engl.
- Henri-Nannen-Preis 2006 für Hrant Dink, Gruner + Jahr / Stern, 3. Mai 2006
- Stefanie Rosenkranz: Henri-Nannen-Preis: Sprachrohr der Unsichtbaren, Stern, Heft 19/2006
- Sebnem Arsu: World Briefing | Europe: Turkey: Editor Guilty Of Insulting The State, Kurzmeldung, New York Times, 8. Oktober 2005
- Türkisch-Armenischer Journalist Dink erschossen, Der Spiegel, 19. Januar 2007
- Dink war die Stimme der Armenier in der Türkei, Die Welt, 19. Januar 2007
- Fotos vom mutmaßlichen Täter
Einzelnachweise
- ↑ Gerd Höhler: Eine Stimme der Toleranz ist verstummt, Frankfurter Rundschau, 21. Januar 2007
- ↑ Reuters: Turkey arrests suspect in death of Armenian editor, 20. Januar 2007
- ↑ Spiegel: Entsetzen über Mord an kritischem Journalisten, 19. Januar 2007
- ↑ tagesschau.de: Türkisch-armenischer Journalist erschossen, 19. Januar 2007
- ↑ Reuters: Türkisch-armenischer Journalist Hrant Dink erschossen, 19. Januar 2007
- ↑ ORF: Türkisch-armenischer Journalist erschossen, 19. Januar 2007
- ↑ Daily Telegraph: Pro-Armenian journalist shot dead in Turkey, 21. Januar 2007
- ↑ Reuters (via Yahoo): Turkish-Armenian editor shot dead in Istanbul, 19. Januar 2007
- ↑ a b FAZ: Jugendlicher gesteht Mord an Hrant Dink, 21. Januar 2007 Referenzfehler: Ungültiges
<ref>
-Tag. Der Name „FAZ2101“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert. - ↑ Hürriyet: İşte katil zanlısı - Das ist der mutmaßliche Mörder, 20. Januar 2007
- ↑ CNN: Turkey killing: 'Youth confesses', 21. Januar 2007
- ↑ AsiaNews: Fanatics filled Father Andrea's assassin with (wrong) ideas, 9. Februar 2006
- ↑ AFP (via Yahoo): Turkish teenager confesses to killing journalist, 21. Januar 2007
- ↑ Journal of Turkish Weekly: Murderer of Hrant Dink Captured, 21. Januar 2007
- ↑ Die Presse: Jugendlicher gesteht Journalisten-Mord, 21. Januar 2007
- ↑ a b New York Times: Turkish Police Arrest Teenage Suspect in Editor’s Killing, 20. Januar 2007
- ↑ Zaman (via Today’s Zaman): Kemal Kerinçsiz, Dink's prosecutor, condemns assassination, 20. Januar 2007
- ↑ Spiegel.de: Extremist soll Jugendlichen zu Journalistenmord angestiftet haben, 22. Januar 2007
- ↑ zaman.com.tr: İçişleri Bakanı Aksu: Cinayetin arkasındaki güçlerin önemli kısmı yakalandı, 22. Januar 2007
- ↑ Der Standard: Türkisch-armenischer Journalist bei Anschlag in Istanbul getötet, 19. Januar 2007
- ↑ Die Welt: „Dink war die Stimme der Armenier in der Türkei“, 19. Januar 2007
- ↑ Die Welt: „Jugendlicher gesteht Mord an Journalisten“, 21. Januar 2007
- ↑ Wiener Zeitung: Hunderte zu Begräbnis von Hrant Dink erwartet, 22. Januar 2007
- ↑ Susanne Güsten: Pamuk sieht Mentalität des Lynchens, Der Tagesspiegel, 23. Januar 2007
- ↑ Journal of Turkish Weekly: Hrant Dink, an Armenian who loved Turkey and the truth, 20. Januar 2007
- ↑ Rainer Hermann: Kein türkisches Zeichen der Versöhnung, Faz.net, 14. April 2005