Biblische Hermeneutik
Die Biblische Hermeneutik ist die Wissenschaft vom Verstehen biblischer Texte, eine angewandte Form der Hermeneutik.
Fragen nach dem richtigen Verständnis der Bibel, und somit die ersten hermeneutischen Überlegungen, finden sich bereits in der Bibel selbst. "Verstehst du auch, was du liest?" - diese Frage des Philippus an den beamteten Eunuchen vom athiopischen Königshof provoziert die Antwort "Wie kann ich (denn), wenn mich niemand anleitet." (Apg. 8, 30ff.).
Hermeneutik und Exegese
Oft wird Hermeneutik mit Biblischer Exegese verwechselt oder gleichgesetzt, aber die beiden sind nicht identisch. Exegese ist die praktische Auslegung eines biblischen Texts, Hermeneutik beleuchtet die Voraussetzungen und Ziele der Auslegung. Die beiden verhalten sich - vorsichtig gesagt - so ähnlich wie Sprache und Grammatik.
Wenn Philippus im obigen Beispiel dem Kämmerer den Text erklärt, betreibt er Exegese, jedoch hat seine Erklärung eine bestimmte Hermeneutik zur Grundlage: ein alttestamentliches Prophetenwort ist für ihn nur von Christus her zu verstehen. Ein rabbinischer Jude sähe das anders und würde dem Äthiopier den Text auch anders auslegen.
Warum benötigt man Hermeneutik?
Wie es möglich ist, ohne Grammatikkenntnisse zu reden, ist es auch möglich, Bibeltexte auszulegen, ohne sich mit Hermeneutikfragen zu befassen. Doch eine solche Auslegung kommt schnell an ihre Grenzen. Jede Bibelauslegung, ob an der Universität oder im Hauskreis, wird beeinflusst von bewussten oder unbewussten theologischen Grundannahmen (im Hauskreis oft unbewusst, an der Universität hoffentlich bewusst). Zu diesen Grundsatzfragen gehört z.B.
- Wie sind die Auferstehungsberichte zu verstehen? Handelt es sich um Halluzinationen, um im Nachhinein entwickelte Mythen oder um historisches Geschehen?
- Grundsätzliche Fragen zum Bibelverständnis, zur Inspiration, zur Entstehungsgeschichte biblischer Texte müssen eine Antwort haben, bevor ein Text ausgelegt werden kann.
- Weitere grundlegende Faktoren sind die Entwicklung der christlichen Kirche und der theologischen Richtungen innerhalb und außerhalb, und die Positionierung des Texts in dieser Geschichte. Was für Texte (welche literarischen Typen) wurden aus welchen Gründen zu verschiedenen Zeiten verfasst, was wurde damit beabsichtigt?
- Dazu stellen sich konkrete Verständnisprobleme, da der Bibeltext aus einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, und anderen historischen Zeitumständen stammt: Wenn Lydia mitsamt ihrem Haus getauft wird (Apg. 16,15), bietet der Satz zwar von Wörtern und Grammatik her kein großes Problem, ist aber doch, in heutigem Sprachgebrauch wörtlich verstanden, schlicht Unsinn.
- Eine weitere wesentliche Rolle bei der Auslegung spielt der Leser selbst. Warum befasst er sich überhaupt mit dem Text? Setzt er sich der Wirkung des Texts aus (mit oder ohne bestimmte Erwartungen) oder ist der Text für ihn Mittel zu einem Zweck? Aus welcher Kultur kommt der Leser: wie wirken z.B. die Wanderungen Abrahams auf einen gutsituierten Mitteleuropäer oder auf einen Nomaden aus der Sahelzone? wie die Reden von Jesus gegen den Reichtum?
Auf die obigen Problemstellungen gibt es für jede Konfession, jede Theologie (und oft auch noch für einzelne Theologen und Laien) sehr unterschiedliche Antworten - Antworten, die auch mit sehr unterschiedlichem Grad von Gewissheit gegeben werden.
Gemeinsam ist jedoch allen Bibelauslegern, dass sie für diese Problemstellungen Antworten haben - ob philosophisch und theologisch ausgefeilt oder aus dem Bauch heraus - und dass diese Antworten ihre Auslegung der Bibel wesentlich mitbestimmen. Auch wer, unbelastet von aller Theologie, schlicht glaubt, dass der gesamte Text vom Heiligen Geist diktiert wurde, und dass man den Text einfach wörtlich so verstehen muss, wie er dasteht, stellt damit hermeneutische Regeln auf, ob er sich dessen bewusst ist, oder nicht.
Um bei der Bibelauslegung begründbare Resultate zu erreichen, ist es allerdings nötig, nicht nur Regeln für die Auslegung zu haben, sondern sich auch diese Regeln bewusst gemacht zu haben.
Biblische Hermeneutik ist aus praktischen Gründen in die Hermeneutik des Alten und des Neuen Testaments aufgegliedert, da die Antworten auf manche Problemstellungen für das Alte und für das Neue Testament unterschiedlich ausfallen. Dennoch darf die Einheit der Schrift nicht aus dem Blick geraten, worum sich innerhalb der Systematischen Theologie die dogmatische Schriftlehre bemüht.
Positionen Biblischer Hermeneutik
Literatur
- Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 1986, ISBN 3525513556
Allgemeinverständlicher Überblick über die verschiedenen Richtungen der biblischen Hermeneutik
Weblinks
- Bibliographie zur Biblischen Hermeneutik
- Biblische Hermeneutik aus Sicht der Pfingstbewegung Ein Beispiel für eine evangelikale Hermeneutik
- Jörg Sieger, Kanon und biblische Hermeneutik Ein Beispiel für eine modernere katholische Hermeneutik
- Biblische Hermeneutik Ein Beispiel für die Hermeneutik eines kritischen Laien