Sonatenhauptsatzform ist ein Begriff aus der musikalischen Formenlehre. Er bezeichnet ein Formschema, nach dem in der Regel der erste Satz (= „Hauptsatz“) einer Sonate bzw. Sinfonie aufgebaut ist.
Aufbau eines Satzes nach der Sonatenhauptsatzform
Ein nach der Sonatenhauptsatzform gegliederter Satz besteht aus den drei Hauptteilen: Exposition, Durchführung und Reprise. Optional sind eine Einleitung am Beginn und eine Coda am Ende des Satzes.
Einleitung
Schon vor Beginn der Exposition kann eine kürzere oder längere Einleitung stehen. Meist erscheint sie bei ausgedehnteren Werken, d.h. eher in einer Sinfonie und seltener in einer Klaviersonate. Sie eröffnet den Satz in einem langsamen Tempo, bevor sich die Exposition mit einem schnelleren Tempo anschließt. Typisch für Sätze mit Einleitung sind also Tempoangaben wie Andante – Allegro ma non troppo. Joseph Haydn als prominenter Entwickler der Sinfonie hat sich oft einer Einleitung bedient. Er baut damit eine Spannung vor allem im tonartlichen Gefüge auf, gegen die der Eintritt des Hauptsatzes nicht selten harmlos und somit entspannend wirkt. Die Motorik des meist schnellen Hauptsatzes unterstreicht noch den starken Kontrast zwischen ihm und der Einleitung. Bei Ludwig van Beethoven findet man Einleitungen bei den Sinfonien Nummer 1, 2, 4 und 7. Den Beginn der neunten Sinfonie kann man ebenfalls als Einleitung hören, Charakter und Puls lassen dies zu.
Exposition
Die Exposition (= „Ausstellung“) stellt das thematische Material des Satzes vor. Sie gliedert sich in Hauptsatz, Seitensatz und Schlussgruppe.
- Der Hauptsatz einer Exposition steht in der Grundtonart (Tonika-Tonart) des Satzes. Er wird auch „Erstes Thema“ genannt, und die klassische Formenlehre attestiert ihm typischerweise einen eher „männlich“ kraftvollen Charakter.
- Dem Hauptsatz folgt eine modulierende Überleitung als Verbindung zum Seitensatz. Sie besteht, vor allem in den Werken der Wiener Klassik, oft aus unthematischen, eher motorischen Floskeln.
- Der Seitensatz, auch „Zweites Thema“, steht in einer anderen Tonart als der Hauptsatz. Bei Hauptsätzen in Dur steht der Seitensatz meist in der quinthöheren Dur-Tonart, in Begriffen der Funktionstheorie auch Dominant-Tonart genannt. Bei Hauptsätzen in Moll hingegen steht der Seitensatz in der Regel in der parallelen Dur-Tonart (Tonikaparallel-Tonart).
- Auf den Seitensatz folgt meist eine Schlussgruppe in der gleichen Tonart wie der Seitensatz, die somit das Ziel der vorausgegangenen Modulation bekräftigt. Sie kann aus thematischem Material bestehen oder, ähnlich wie die Überleitung, aus unthematischem Passagenwerk.
Traditionell wird die Exposition wiederholt, sodass man ihr Ende auch leicht an den Wiederholungszeichen erkennen kann. Erst seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts verzichten Komponisten auf eine tongetreue Wiederholung der Exposition.
Das Spannungsverhältnis der Teile Hauptsatz und Seitensatz ist das wesentliche Merkmal der Sonatenhauptsatzform. Es drückt sich immer in der tonalen Spannung zwischen den verschiedenen Tonarten beider Teile aus. Darüber hinaus besteht häufig auch ein charakterlicher Kontrast zwischen einem „männlichen“ ersten Thema und einem eher „weiblich“ lyrischen zweiten Thema. So kann man die Exposition als musikalisches Abbild einer Diskussion mit Pro und Contra betrachten. Damit erklärt sich auch die Beliebtheit der Sonatenhauptsatzform in der Folgezeit der Aufklärung, die das dialektische Prinzip von These und Antithese propagierte.
Durchführung
Auf die Exposition folgt die Durchführung. Hier werden die in der Exposition vorgestellten Themen musikalisch verarbeitet. Beispielsweise durch harmonische Veränderung, rhythmische Veränderung, Zerlegung von Motiven usw. Die Tonika wird gemieden, es wird bis in entferntere Tonarten moduliert (Modulation).
- Anmerkung: In Sonaten für Orchester wurde während der Wiener Klassik das Verlassen der Tonika-Tonart auch klanglich erfahrbar. Da das bis etwa 1840 vorwiegend verwendete Naturhorn nur über einen begrenzten Tonvorrat in der Nähe der Grundtonart verfügte, deutete ein Schweigen der Hörner auf eine tonale Entfernung von der Grundtonart hin.
Philosophisch betrachtet ist die Durchführung der Austragungsort des in der Exposition vorgestellten Konflikts zwischen Haupt- und Seitensatz.
Reprise
Mit der Wiederkehr des vollständigen Hauptthemas in der Tonika-Tonart setzt die Reprise (von frz.: reprendre = „wieder aufnehmen“) ein. Sie stellt eine Wiederaufnahme der Exposition mit einer spezifischen Veränderung dar: Der zuvor tonal kontrastierende Seitensatz erklingt nun nämlich in der Tonart des Hauptsatzes. Der exponierte Konflikt zwischen Haupt- und Seitensatz erscheint damit gelöst. In der Terminologie der philosophischen Dialektik gleicht die Reprise also einer Synthese.
Coda
Am Ende der Reprise wird nicht selten noch eine Coda (ital. Schwanz) angehängt, die Ausmaße von einem kurzen Anhängsel bis zu einer ausgewachsenen zweiten Durchführung haben kann. Die Coda wird vor allem bei Beethoven zu einem sehr wichtigen Abschnitt, sie ist im Kopfsatz der 9. Sinfonie länger als die Reprise. Oft ist sie nicht nur im Charakter, sondern auch in der Thematik der Durchführung sehr ähnlich.
Beispiel eines Formenplans
Joseph Haydn, Sinfonie mit dem Paukenschlag Nr. 94, G-Dur, 1. Satz: Adagio cantabile – Vivace assai
- Einleitung (Takt 1-17): hier wird der für den gesamten ersten Satz charakteristische Quartsprung vorgestellt.
- Exposition mit Hauptthema (ab Takt 18) – Überleitung – Seitenthema (ab Takt 69) – Schlussgruppe
- Durchführung (ab Takt 108)
- Reprise mit Hauptthema – Überleitung – Seitenthema – Epilog – Schlussgruppe
Geschichte
Die Sonatenhauptsatzform entwickelte sich allmählich. Zu ihrer Entwicklung, vor allem in Italien und Deutschland, trugen Sammartini, die Söhne Bachs, Boccherini, J. Stamitz, Haydn, Mozart und Clementi bei. Bereits 1730 ließ sich die Sonatenhauptsatzform im wesentlichen nachweisen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, etwa ab 1770, trat die Sonatenhauptsatzform einen wahren Siegeszug an. Die Entwicklungsmöglichkeiten des thematischen Materials sind weitaus vielseitiger als beispielsweise bei der zwei- oder dreiteiligen Liedform. Einen bedeutenden Reiz bildet der Dualismus der beiden Themen, die – wiederum im Gegensatz zur Liedform – gewissermaßen direkt gegeneinander und/oder miteinander auftreten. Die Sonatenhauptsatzform fand nicht nur im Kopfsatz von Sonaten (für Klavier und andere kammermusikalische Besetzungen), sondern auch als Kopfsatz von Sinfonien, Ouvertüren (z. B. die Ouvertüren zu Webers Freischütz, Mendelssohns Fingalshöhle) und anderen musikalischen Gattungen Verwendung.
Obwohl bereits Ende des 18. Jahrhunderts von den Komponisten in einzelnen Elementen vielfach von dem strengen Aufbau der Sonatenhauptsatzform abgewichen wurde, fand im 19. Jahrhundert die Weiterentwicklung der Sonatenhauptsatzform statt: einerseits eine Abkehr von der strengen Form der Komposition, andererseits aber auch eine Erweiterung der Struktur. So wurden sowohl die strengen Regeln des Aufbaus des Sonatenhauptsatzes wie auch die der zwingenden Gegenüberstellung eines dynamischen und eines lyrischen Themas zunehmend durchbrochen, gelegentlich wurde auch ein drittes Thema eingeführt.
Exemplarisch hierfür stehen:
- die Haffner-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart und die 1. Sinfonie in D-Dur von Gustav Mahler, die jeweils mit einem einzigen Thema im Kopfsatz auskommen, was allerdings in der Geschichte der Sinfonie eher die Ausnahme geblieben ist
- die Sinfonie in h-Moll ("Die Unvollendete") von Franz Schubert: Hier werden in der Exposition die zwei Themen entgegen der Gepflogenheit beide im piano vorgestellt und sie sind sich charakterlich zudem sehr ähnlich
- das 1. Klavierkonzert in b-Moll von Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Breiten Raum am Anfang des Werks nimmt nicht etwa das erste Thema ein, sondern ein Einleitungsthema (das in Des-Dur steht)
- das 1. Klavierkonzert in e-Moll von Frédéric Chopin, in welchem im ersten Satz gleich drei Themen (Einleitung und erstes Thema in e-Moll, zweites Thema in G-Dur) vorgestellt werden und in der Durchführung nur das Einleitungsthema behandelt wird
- die 7. Sinfonie in E-Dur von Anton Bruckner, bei der drei Themen im Kopfsatz verarbeitet werden
Zu den harmonischen Verwandtschaftsbeziehungen von Tonarten siehe auch: Harmonielehre, Quintenzirkel.