Die Oder-Neiße-Grenze, in der DDR auch Oder-Neiße-Friedensgrenze genannt, ist die entlang der Flüsse Oder und Lausitzer Neiße verlaufende östliche Grenze Deutschlands zu Polen.



Sie wurde zunächst im Rahmen des Potsdamer Abkommens am 2. August 1945 von den Alliierten bis zum Abschluss einer endgültigen Friedensregelung festgelegt.
Im Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 erkannte die 1949 gebildete DDR den neu entstandenen Grenzverlauf an, anders als die im selben Jahr gegründete Bundesrepublik Deutschland, die erst 1970 im Warschauer Vertrag die Oder-Neiße-Linie als faktische unverletzliche Westgrenze Polens anerkannte, mit dem Vorbehalt einer Änderung im Rahmen einer Friedensregelung.
Als nach der Wende insbesondere in Polen die Sorge wuchs, das vereinigte Deutschland könne eine Revision der deutschen Ostgrenzen fordern, verlangten die vier Siegermächte die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze als Voraussetzung für ihre Zustimmung zur Deutschen Einheit. Diese Anerkennung wurde im Zwei-plus-Vier-Vertrag verankert und im Deutsch-Polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 in einem völkerrechtlichen Vertrag bekräftigt. Durch diesen, am 16. Januar 1992 in Kraft getretenen, Vertrag gab Deutschland alle Ansprüche auf die Ostgebiete des Deutschen Reiches auf, die östlich dieser Linie lagen.
Geschichte
Vorgeschichte
Um 1945 waren die Provinzen Pommern, Schlesien, Ostpreußen, aber auch die seit dem Versailler Vertrag selbständige Freie Stadt Danzig mehrheitlich von Deutschen besiedelt. In nach dem ersten Weltkrieg durchgeführten Volksabstimmungen in Masuren und Oberschlesien ergab sich eine mehrheitliche Orientierung zum Deutschen Reich.
Schon zwischen 1918 und 1939 erhob Polen Anspruch auf Teile der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie, begründet teils mit der slawischen Bevölkerung, teils mit früheren polnischen Herrschaften.
Zur Vorgeschichte der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie gehören außerdem die wechselseitige Diskriminierung der jeweils nicht das Staatsvolk bildenden Bevölkerung seit dem aufkommen des ideologischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. Hierzu gehören Polen unter deutscher Herrschaft bis zum Ende des ersten Weltkriegs als auch ab 1919 unter polnische Herrschaft geratene Deutsche im neu gebildeten polnischen Staat, von denen eine große Anzahl ihre Heimat in Richtung des Deutschen Reiches verließen.
Am Vorabend des zweiten Weltkrieges teilten die beiden Dikatoren Hitler und Stalin in einem geheimen Zusatzprotokoll Polen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion auf. In den an Deutschland fallenden Gebieten Polens verfolgten die Nationalsozialisten gemäß ihrer faschistischen Ideologie das Ziel einer vollständigen Germanisierung. Große Teile der polnischen Bevölkerung wurden aus diesen Gebieten vertrieben. Die polnische Elite wurde weitgehend ermordet und weite Teile der polnischen Bevölkerungen wurden zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verschleppt.
Auf der Jalta-Konferenz zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin im Februar 1945 wurde eine Westverschiebung Polens grundsätzlich beschlossen. Genaue Angaben blieben offen, aber entsprachen dem Willen Stalins, die Teile östlich der Curzon-Linie (Westteil Weißrusslands und der Ukraine) für die Sowjetunion zurückzugewinnen, die nach dem ersten Weltkrieg durch Polen erobert wurden. Der von Stalin zur Diskussion gestellte Grenzverlauf zwischen der Sowjetunion und Polen entsprach ziemlich genau dem, den er bereits im Pakt mit Hitler erreicht hatte. Doch US-Präsident Roosevelt wollte die Sowjetunion zum Eintritt in den Krieg gegen Japan bewegen.
Potsdamer Konferenz und Nachkriegszeit
Schon Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetunion die Kontrolle über den bisherigen östlichen Teil Deutschlands und setzte kommunistische polnische und sowjetische Verwalter ein, die nun die deutsche Bevölkerung zunächst unkontrolliert, später planmäßig vertrieben, bzw. zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschleppten und eigene Landsleute auch auf bisher deutschem Staatsgebiet ansiedelten, die zum Teil aus den von der Sowjetunion annektierten Ostgebieten Polens stammten. Im Juli 1945 wurde das westlich der Oder gelegene Stettin mit Umland, welches bis dahin noch unter deutscher Verwaltung stand, mit Einverständnis der Alliierten von der Roten Armee unter polnische Verwaltung gestellt. Mit der Aussiedlung bzw. Vertreibung der deutschen Bevölkerung, der Ansiedlung polnischer Einwohner sowie der Polonisierung der Gebiete östlich der Oder-Neisse-Linie durch administrative Eingliederung in den polnischen Staatsverband und Umbenennung fast sämtlicher Ortschaften werden ab Sommer 1945 von der polnischen Regierung vollendete Tatsachen geschaffen.
Konfrontiert mit vollendeten Tatsachen, akzeptierten auch die beiden westlichen alliierten Siegermächte im August auf der Potsdamer Konferenz die sowjetische und polnische Verwaltung dieser Gebiete für die Zeit bis zu einer friedensvertraglichen Regelung. Für das nördliche Ostpreußen mit Königsberg sagten die Westalliierten in Potsdam der Sowjetunion bereits die Unterstützung ihres Annexionswunsches zu. Für Polen fehlt eine solche Zusage hinsichtlich der übrigen Oder-Neiße-Gebiete.
Strittig war zunächst auch noch, ob die Grenzziehung entlang der Lausitzer oder Glatzer Neiße erfolgen sollte. Es wird kolportiert, dass den amerikanischen und englischen Verhandlungsdelegationen die Existenz der Lausitzer Neiße anfangs nicht bewusst gewesen sei. Letztlich einigte man sich auf die Lausitzer Neiße.
Es wurde auch beschlossen, den „Transfer“ der in der Tschechoslowakei und Polen lebenden Deutschen „in geordneter und humaner Weise“ durchzuführen. Die Potsdamer Konferenz mahnte, die sog. „wilden“ Vertreibungen der Deutschen einzustellen. Dennoch erfolgten in den folgenden Jahren weitere Vertreibungsaktionen durch kommunistische und nationalistische Gruppen, Militär und Paramilitär aus allen ehemaligen Teilen des Deutschen Reiches östlich der Oder-Neiße-Linie und aus dem Sudetenland (Tschechoslowakei).
Die Grenzlinie wird zunächst auch von der 1946 gegründeten SED abgelehnt, später wird diese Haltung unter sowjetischem Druck revidiert. Im März/April 1947 erfolgt die offizielle Bezeichnung der Oder-Neiße-Grenze als „Friedensgrenze“ durch die Moskauer Außenministerkonferenz. Am 11. Januar 1949 werden die neuen Gebiete formal in die polnische Staatsverwaltung eingegliedert. Im offiziellen polnischen Sprachgebrauch heißen sie wiedergewonnene West- und Nordgebiete oder auch kurz neue Westgebiete zur Unterscheidung von den bereits 1919 gewonnenen alten Westgebieten.
1949 nehmen Polen und die DDR diplomatischer Beziehungen auf und unterzeichnen am 6. Juni 1950 in Warschau das Görlitzer Abkommen durch DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl und Polens Ministerpräsident Cyrankiewicz zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Sie sei „unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze, die die beiden Völker nicht trennt, sondern einigt“. Sie verläuft „von der Ostsee entlang der Linie ... Świnoujście (Swinemünde), ... Oder bis zur ... Lausitzer Neiße ... entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze“, womit sie „die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bildet.“ Das Stettiner Gebiet wurde nicht erwähnt, ebensowenig die in Potsdam getroffene Feststellung, die Grenzbeschreibung gelte nur bis zur „endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens“ in einer kommenden Friedensregelung. Dieser Vertrag wird von den USA und Großbritannien abgelehnt, die Bundesregierung erklärt ihn für „null und nichtig“. Sie beruft sich auf die im Görlitzer Vertrag fehlende Bedingung, dass die Entscheidung über die gegenwärtig polnisch und sowjetisch verwalteten deutschen Ostgebiete erst in einem späteren Friedensvertrag gefällt werde.
Gewählte Vertreter der Vertriebenen verzichten am 5. August 1950 bei der Proklamation der Charta der deutschen Heimatvertriebenen in Stuttgart feierlich auf jegliche Gewaltanwendung und Vergeltung, nicht aber auf das Recht auf die Heimat.
Annäherung unter Willy Brandt und Warschauer Vertrag
1965 wird in einer Ostdenkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) erstmals von einer bedeutenden Organisation vorsichtig die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie befürwortet. Diese – innerkirchlich höchst umstrittene – Stellungnahme hat erhebliches Gewicht, weil fast 90 Prozent der aus den Oder-Neiße-Gebieten vertriebenen Deutschen evangelisch waren.
1968 votiert Willy Brandt, Außenminister der Großen Koalition, als erster deutscher Politiker für eine „Anerkennung beziehungsweise Respektierung der Oder-Neiße-Grenze bis zur friedensvertraglichen Regelung“. Im Jahr darauf erklärt er in seiner Regierungserklärung als Bundeskanzler der ersten sozialliberalen Koalition ziemlich eindeutig, dass er die Oder-Neiße-Linie als Grenze anzuerkennen beabsichtigt. Von polnischen Gegenleistungen – etwa der Gewährung von Minderheitenrechten für die damals noch rund 1,2 Millionen Deutschen im polnischen Bereich – ist nicht die Rede.
Am 7. Dezember 1970 schliessen Polen und die Bundesrepublik Deutschland den Warschauer Vertrag. Beide Seiten bekunden, dass die aus den Potsdamer Beschlüssen herrührende bestehende Grenzlinie die „westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet“. Man habe „gegeneinander keine Gebietsansprüche“ und werde solche „auch in Zukunft nicht erheben“. Ein Rückkehrrecht für die Vertriebenen oder Minderheitenrechte für die in der Heimat verbliebenen Deutschen werden nicht vereinbart und wurden von deutscher Seite auch nicht gefordert. Die Ostverträge gehen Ende 1971 unter Enthaltung der Union durch den Bundestag.
1985 führt die Ausdehnung der DDR-Hoheitsgewässer in der Stettiner Bucht zu Zwistigkeiten mit Polen. Am 22. Mai 1989 gibt es einen Vertrag zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen über die Abgrenzung der Seegebiete in der Stettiner Bucht.
Deutsche Wiedervereinigung
1990 wird im Zwei-plus-Vier-Vertrag die bestehende Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und Polen bestätigt. Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages zwischen der DDR und der alten Bundesrepublik treten auch die darin vereinbarten Änderungen des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, neben anderem die Aufhebung des Artikels 23, in Kraft. In Warschau unterzeichnen Außenminister Skubiszewski für die Republik Polen und Außenminister Genscher für die Bundesrepublik Deutschland den Deutsch-Polnischen Grenzvertrag zur Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze: „Der Verlauf der Grenze bestimmt sich nach dem Görlitzer Abkommen ... sowie dem Warschauer Vertrag“.
1991 unterzeichnen Bundeskanzler Kohl, Außenminister Genscher, Ministerpräsident Bielecki und Außenminister Skubiszewski in Bonn den Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrag, in dem neben anderem festgeschrieben wird, dass die jeweiligen Minderheiten das Recht haben „ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität, frei zum Ausdruck zu bringen“ – was die staatliche Anerkennung der Deutschen Minderheit in Polen bedeutet. Des Weiteren wird die Einrichtung eines Deutsch-Polnischen Jugendwerks vereinbart. Beide Verträge werden am 16. Dezember 1991 durch den Deutschen Bundestag ratifiziert und treten am 16. Januar 1992 in Kraft.
Politik um die Grenze
Die Verträge von 1970 und 1990/91 betreffen nur die Grenzziehung, äußern sich aber nicht zur Vertreibung und Enteignung der rund 14 Millionen Ost- und Sudetendeutschen, denen später weitere 4 Millionen deutsche Aussiedler folgten. Insbesondere die Vertriebenenverbände tun sich auch daher mit einer Akzeptanz des Verlusts ihrer Heimat ihrer Mitglieder oder deren Vorfahren schwer. Auch schürte die zögerliche und ambivalente Politik der meisten deutschen Parteien lange Zeit Hoffnungen des Revisionismus, eine Grenzänderung zu Gunsten Deutschlands sei möglich. An die Stelle einer völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze sei mit dem deutsch-polnischen Grenzbestätigungsvertrag ein bloßer Gewaltverzichtsvertrag getreten, wie er mit dem Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 ohnehin schon existiert habe.
Die Frage, ob eine Korrektur der Grenzlinie, etwa durch Autonomieregelungen oder eine Europäisierung der Oder-Neiße-Gebiete, die Rechte und Interessen der alten und auch neuen Bewohner dieser Gebiete womöglich besser hätte wahren können, wurde von den verantwortlichen Politikern im Jahre 1990 nicht mehr geprüft.
Weblinks
- Deutsch-Polnischer Grenzvertrag im Wortlaut in deutscher und polnischer Sprache
- Potsdamer Konferenz
- Wirtschaftliche Argumente in den Grenzdebatten des 20. Jahrhunderts (Ostmitteleuropa) Hauptseminar an der Europa-Universität Viadrina im WS 2000/2001: